Der Missbrauch von „Trauer“ – Heuchelei auf Facebook & Co.

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Die Anschläge in Brüssel am Dienstag waren zweifellos grauenhaft und schrecklich. Mir persönlich gingen sie jedoch schon nicht mehr so persönlich nahe, wie noch im vergangenen November, als islamistische Extremisten sich in Paris offenbarten. Woran liegt das?

Die mediale Berichterstattung verlief ähnlich: Korrespondenten, die vor Ort berichten, Bilder der Vernichtung, teilweise Videos, die den Zeitpunkt des Attentats oder der Panik danach einfingen. Dennoch kann ich von mir nicht behaupten, dauerhaft geschockt oder zutiefst betroffen zu sein. Warum?

Bin ich über Nacht zu einem schlechten Menschen geworden, dem die Schicksale der vielen Opfer völlig egal sind? War das Leben der Opfer von Belgien weniger wert, als das derer in Paris? Oder Ankara? Oder Kairo? Nein, es hat einen anderen Grund: Ich fürchte, einen großen Anteil hat die fast tägliche Konfrontation mit Terrorakten weltweit. Nahezu täglich sieht man, dass irgendwo in der Welt irgendein Irrer, oft auch eine ganze Gruppe, ihr Leben opfert und damit Dutzende unschuldiger Menschen in den Tod reißt.

Einen ähnlichen Effekt spürte ich seinerzeit bei den beiden Golfkriegen: Zunächst war da das pure Entsetzen, bewusst zum ersten Mal einen Krieg mitzuerleben, wenn auch aus mehreren tausend Kilometern Entfernung und zudem nur via TV. Nach einigen Tagen relativierte sich das Entsetzen und wich einer interessierten Begleitung der Ereignisse in den Medien. Nach mehreren Wochen konnte man die Nachrichten einfach nicht mehr sehen: Ständig die gleichen Bilder von Bombenexplosionen, Raketeneinschlägen und vieler Gräueltaten mehr. Es wäre etwas zynisch, in solche einem Zusammenhang von „Langeweile“ zu sprechen. Aber der Schockeffekt hatte sich längst eingestellt und die Meldungen wiederholten sich. „Erneuter Bombenanschlag in Bagdad!“, so startete gefühlt jede Tagesschau in dieser Zeit. Mich interessierte das nicht mehr. Ich wollte das nicht mehr sein, allerdings nicht aus Verachtung gegenüber den tragischen Opfern dieser Anschläge, sondern vielmehr, weil ich mich „sattgesehen“ hatte. Ich musste mir eingestehen, abgestumpft zu sein. All das ging mir überhaupt nicht mehr nahe.

Man kann das vielleicht etwas mit dem Ansehen von Horrorfilmen vergleichen: War man als Kind bzw. Jugendlicher nach "Stephen Kings ES" noch so geschockt, dass man sich kaum ins Bett getraut hat und die halbe Nacht von Alpträumen beplagt wurde, gewinnt man diesem Film heute eher hier und da ein Schmunzeln ab anstatt sich zu erschrecken.

Der Effekt bei den Anschlägen in Paris, Ankara, Kairo, Brüssel...

Eine ähnliche Abstumpfung tritt, wenn auch in etwas anderem Ausmaß, bei den immer häufiger auftretenden Terroranschlägen in Europa auf. Paris war ein einprägsames Ereignis, schrecklich und grauenhaft, vorallem aufgrund der Nähe zu Deutschland und des „Liveerlebnisses“ am TV während eines Länderspiels. Mit dem Anschlagsziel Belgien rückt der Terror nun sogar noch dichter vor die eigene Haustür. Da sollte man meinen: Die Aufregung über diese Tat sollte sich gegenüber Paris noch steigern, zumal ein Flughafen ein Ort ist, den man selbst wie auch Freunde und Verwandte häufiger aufsuchen. Doch die Aufregung war nur von relativ kurzer Dauer.

Vorgegaukelte Trauer in sozialen Medien

Interessant ist auch, die allgemeinen Reaktionen der deutschen Facebook-User zu beobachten: Hatte nach Paris noch nahezu jeder sein Profilbild in den Nationalfarben Frankreichs eingefärbt, so sieht man nun kaum schwarz-gelb-rote Profile. Warum? Ich kann von mir sagen, dass ich die in meinen Augen heuchlerisch übertriebenen Reaktionen nach Paris schon unangemessen fand und ich werde auch heute mein Profilbild nicht ändern oder die Welt wissen lassen, dass „meine Gedanken und Gebete bei den Opfern und ihren Angehörigen sind“. Das war nach Paris nicht so und ist es jetzt nicht, so ehrlich muss man sein. Ich habe – Gott sei Dank – keine Freunde, Bekannte oder Verwandte bei diesen Anschlägen verloren, es wurde auch niemand verletzt, der mir nahesteht. Das würde eine andere Situation schaffen. So sind, brutal gesagt, wildfremde Menschen ums Leben gekommen. Das passiert täglich überall auf der Welt und häufig genug aufgrund krimineller oder terroristischer Aktivitäten. Würde ich tatsächlich mit all diesen Opfern trauern, könnte ich meine Arbeitsstelle kündigen und mich die nächsten 100 Jahre auf eine Psychologen-Couch legen. Ich trauere nicht mit Fremden! Wer das von sich behauptet, der lügt! Trauer ist eine tiefe Emotion, die viele nur wenige Male im Leben tatsächlich spüren. Dieses Wort für die Gefühle bei den Terrorakten der vergangenen Monate zu verwenden, spottet dem Empfinden echter Trauer, wenn z.B. ein Familienmitglied stirbt.

Es täte gut, wenn vorallem die virtuelle Welt mal ihr scheinheiliges Getue etwas zurückfahren würde. Wo sind denn sonst die Profilbilder mit türkischer, ivorischer oder ägyptischer Flagge. Nimmt man die Liste der Terroranschläge auf Wikipedia als Basis hätte man alleine im Januar neun mal sein Profilbild wechseln und sein tiefes Bedauern in die Welt posaunen müssen. Seid doch mal ehrlich zu Euch selbst: Leidet Ihr tatsächlich mit den Opfern? Schließt Ihr Euch in Eure Schlafzimmer ein und weint in Euer Kissen? Tragt Ihr gegebenenfalls ein paar Tage oder Wochen schwarze Kleidung? Sprecht Ihr tatsächlich mit den Angehörigen und kondoliert aufrichtig? Oder wollt Ihr nur Eurem Ego etwas gutes tun und die Außendarstellung Eurer kleinen „Ich-AGs“ auf Facebook etc. etwas pimpen und spielt entspannt eine Runde CandyCrush nach Euren "tiefen Trauerbekundungen"? Ein wenig mehr Ehrlichkeit, auch und gerade gegenüber sich selbst, würde jedem einzelnen „Trauernden“ auf Facebook und Co. gut tun!

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fischundfleisch

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