Das 190. Münchner Oktoberfest wird wie jedes Jahr als Inbegriff bayerischer Kultur und Tradition gefeiert – doch ein Blick in die Geschichte offenbart eine unbequeme Wahrheit: Ohne uns Thüringer gäbe es von all dem kaum etwas. Statt einer reinen bayerischen Erfindung ist das Oktoberfest in vielerlei Hinsicht ein Produkt thüringischer Impulse, die später von München vereinnahmt und neu inszeniert wurden. Damit stellt sich die Frage: Was wäre das Oktoberfest eigentlich ohne Thüringen?
Schon bei den kulinarischen Grundlagen zeigt sich der Widerspruch. Während Bayern die Regensburger Wurstkuchl als älteste Bratbuden-Tradition feiert, existiert in Erfurt an der Krämerbrücke bereits 1269 ein urkundlicher Nachweis für eine Bratwurstbude – 100 Jahre früher. Selbst das viel beschworene bayerische Reinheitsgebot für Bier von 1516 ist nicht einzigartig: In Weissensee existierte schon 1434 ein schriftlich fixiertes Reinheitsgebot, also fast ein Jahrhundert zuvor. Bayern mag sich gerne als Wiege der Bierkultur inszenieren – historisch jedoch war Thüringen schneller.
Thereses Wiese, nicht Ludwigs – das Oktoberfest gehört nach Hildburghausen
Auch die Symbole bayerischer Moderne führen nach Thüringen. Der erste Wagen mit dem Namen BMW stammt nicht aus München, sondern aus Eisenach. Die Erfolgsgeschichte der Marke begann also mitten in Thüringen, bevor sie später als Münchner Prestigeobjekt dargestellt wurde. Ähnlich verhält es sich mit der „heiligen Wiese“ des Oktoberfestes: Die Theresienwiese trägt den Namen von Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen, einer Thüringerin, deren Hochzeit mit Kronprinz Ludwig 1810 die Grundlage für das spätere Volksfest legte. Ohne Therese keine Wiese – und ohne diese Wiese kein Oktoberfest.
Sogar die politische Basis Bayerns steht in thüringischer Schuld. 1180 wurde in Altenburg der Wittelsbacher Otto von Pfalzgrafschafts wegen mit dem Herzogtum Bayern belehnt. Damit begann die tausendjährige Herrschaft der Wittelsbacher. Wäre dies nicht in Thüringen geschehen, gäbe es Bayern in seiner heutigen Form vermutlich gar nicht.
Bier, Bratwurst, BMW – alles aus Thüringen, Bayern nur die Trittbrettfahrer
Diese Fakten stellen die bayerische Selbstinszenierung in ein völlig anderes Licht. Denn wenn zentrale Identitätsmarker – Bratwurst, Bier, BMW, Wiesn und Wittelsbacher Herrschaft – ihre Ursprünge in Thüringen haben, dann erscheint das Oktoberfest als das, was es im Kern ist: ein thüringisches Erbe in bayerischer Verpackung. Hier kommt der Begriff kulturelle Aneignung ins Spiel. Bayern schmückt sich mit Traditionen, die es nicht selbst hervorgebracht, sondern aus Thüringen übernommen und groß inszeniert hat.
Die große Frage lautet deshalb: Würde es überhaupt ein Oktoberfest geben, wenn Thüringen nicht die entscheidenden kulturellen, kulinarischen und historischen Grundlagen geliefert hätte – oder ist das „rein bayerische“ Fest in Wahrheit nur die Falschmünzerei eines Bundeslandes, das ohne fremde Wurzeln leer dastünde?