In der europäischen Flüchtlingspolitik will der Begriff Heuchelei nicht richtig greifen, denn er bekommt das wahre Ausmaß dessen, was er einmal bedeutete, nicht mehr zu fassen.

Wer hätte sich das gedacht? Dass man dem Orbán Viktor je beipflichten müsste. Ausgerechnet ihm, dem Caudillo eines nationalistischen Regimes von Brüssels Gnaden, das die Hetze gegen Juden, Roma und Obdachlose mal offen, mal heimlich schürt, Gewalt gegen diese zumindest nicht ahndet und Kriegsflüchtlinge in Lager pferchen, prügeln und beim Kauf eines Zugtickets in die Knie zwingen lässt. Orbán hat als Bad Cop viel auszuplaudern; er weiß, dass ein sinistrer Charakter sich gut zum Jobprofil eines bösen Bullen macht, er weiß aber auch, dass das gütige Lächeln des guten Bullen auch nur einem Bullen gehört. Kurzum: Viktor Orbán hat einige Regierungen Europas der Heuchelei bezichtigt, und noch nie so recht gehabt: Sie, die Dublin I bis III beschlossen haben, kritisieren ihn nun für deren pflichtgetreue Umsetzung; sie, für die er die Drecksarbeit leistet, ekeln sich auf einmal vor seinen schmutzigen Händen. Flüchtlinge an der Weiterreise zu hindern, in Auffanglagern zu internieren, ihre Personalien aufzunehmen, sie zum Asylerstantrag zu nötigen oder – besser – gleich am Betreten von Schengen-Gebiet zu hindern, gehört zu den gesetzlich verbindlichen Pflichten jener Staaten, die das Pech haben, den Cordon insanitaire für Kerneuropa zu bilden. Zwar sind alle EU-Länder Unterzeichner der Genfer Flüchtlingskonvention und somit zur Aufnahme ausgewiesener Kriegsflüchtlinge verpflichtet, doch hatte kein einziger dieser Staaten bislang seine diplomatischen Vertretungen im Nahen Osten für diese geöffnet.

Umso widerwärtiger Art und Weise, wie deutsche und österreichische Politiker sich mit dem humanitären Erwachen der Zivilgesellschaft schmücken, welche nicht nur die Versäumnisse jener kompensiert, sondern gegen sie offen revoltiert, indem sie die Flüchtlinge vor einer Politik schützt, die das Vielfache ihrer Sozialetats für Waffen, Logistik, Bürokratie, Stacheldraht, Desinformation und Leichensäcke aufwendet, nur um vor Flüchtlingen zu schützen. Das mütterliche Lächeln der deutschen Bundeskanzlerin, deren Regierung bislang jede EU-Initiative zu einer fairen Verteilung der Asylwerber blockiert hatte und nun, da der Cordon löchrig wurde, am lautesten dafür eintritt. Oder die österreichische Innenministerin, die Asylpolitik nur noch darauf beschränken wollte, Dublin-Fälle abzuschieben, und nun in der Tarnkleidung der Civil Society (oder zumindest dem, was sie sich darunter vorstellt), im hautengen Jeansanzug, nach Nickelsdorf zum Meet & Greet mit Flüchtlingen antanzte. Die nächste südländische Hand, die sie sich grapschen konnte, gehörte aber der österreichischen Menschenrechtsaktivistin Anahita Tasharofi, und als diese Mikl-Leitner klar ins Gesicht sagte, was sie hier zu suchen habe – nämlich gar nichts! –, wurde sie von einem ministerialen Leibgardisten brutal zu Boden gestoßen. Eine unschätzbare symbolische Miniatur, die enthüllt, wozu die Fäuste der Macht da sind, wenn sie nicht gerade fürs Pressefoto streicheln.

Die Rüffel für Ungarn und das großzügige Öffnen der Grenzen durch die Hauptinitiatoren der Dublin-Verordnungen geben auch ein schönes Exempel für den Zustand intraeuropäischer Demokratie: So wie Caesar böse Gesetze erlassen kann, kann er sie nach seiner sprichwörtlichen Laune auch sistieren. Ebenso schnell verwandelten sich in den Medien zwielichtige Muselmanen in zivile Opfer des Islamismus, böse stierende Dunkelmänner in gut ausgebildete softe Väter mit Familie, möglicherweise in genau jene, die dem kerneuropäischen Arbeitsmarkt fehlen. Wie zynisch muss das den kommenden Flüchtlingen nach den Tagen der offenen Tür vorkommen, wenn das warme Herz in Berlin wieder erkaltet, und die Zäune noch höher werden, damit innerhalb dieser weder die Menschlichkeit noch ihr Gegenteil zu viel Nährboden finden.

Vielmehr müssten die strukturellen Fluchtursachen in den Herkunftsländern ausgetrocknet werden, so mahnte jüngst auch Jean-Claude Juncker Vernunft ein, und kündigte einen Fonds mit 1,5 Milliarden Hilfe für Afrika ein. Um welchen Faktor man diese putzige Zahl multiplizieren müsste, um die Profite durch europäische Waffenlieferungen nach Afrika zu erreichen oder die Gewinne aus der Vernichtung afrikanischer Produzenten, eruiere man in den einschlägigen Statistiken. Menschlichkeit lässt sich bewundern und belächeln, doch wehe, sie schließt auch das kritische Denken in ihr Herz und landet zwingend bei der Systemfrage – so wie es für Flüchtlinge Frontex und ungarische Polizeiknüppel gibt, gibt’s dann in jeder Redaktion einen, der dafür bezahlt wird, Denkerinnen und Denker mit dem Vorwurf der „Systemkeule“ zu knüppeln.

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Spinnchen

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