Ich bin in eine Gruppe hineingeboren worden, die weder eine Familie war, noch eine Heimat hatte. Wie gehetzt zog sie von einer brandenburgischen Kleinstadt in die nächste. Als ich fünf Jahre alt war, stand ich auf dem Turmbahnhof der Kleinstadt Doberlug-Kirchhain, deren sorbischen Namen die Nazis in einen deutschen gewandelt hatten, auf dem Weg zu meinen französisch benannten Verwandten. Dort glaubte ich zum ersten Mal, die Welt verstanden zu haben: es kreuzten sich zwei Bahnlinien der Nordsüd- und der Ostwestrichtung. Um die Welt zu verstehen, benötigst du n! Fakten und Synapsen – und schon hast du es. Wem die Zahl zu hoch erscheint, der lege erst einmal immer die doppelte Anzahl Fakten und Synapsen auf die Felder seines Schachbrettes. Damit kannst du jeden Großmufti in dir überwinden.

In diesen Kleinstädten gab es Vertriebene, die bei uns im Osten aber Umsiedler hießen, und bei denen es Mittagessen aus Schlesien, Ostpreußen, Hinterpommern und dem Warthe- und dem Sudetengau gab, ja, sie sagten Sudetengau, obwohl in der Zeitung Bruderland stand. Wie eine Antizipation des in der gegenwärtigen Jugendsprache wieder üblichen und fast inflationären Wortes Bruder, das der Bibel, Schiller und dem gesamtdeutschen Vokabular genauso vertraut war wie der sozialistischen Propaganda, kommt mir heute das merkwürdige Wort Bruderstaat vor. Denn der Staat ist niemandes Bruder. Nur der Bruder kann dem Bruder Bruder sein. Da ich keinen Bruder hatte, musste ich mir welche suchen.

Wir wohnten dann in einer Kleinstadt mit einer Russenkaserne. Die Soldaten waren eingesperrt. Wenn sie flohen, flohen sie nicht immer vor dem Sozialismus und der Mangelwirtschaft ihrer Blechnäpfe, sondern oft auch, was ich damals noch nicht wusste, vor der Dedowtschina genannten grausamen Herrschaft der dienstälteren über die blutjungen, wie Kinder wirkenden Soldaten. Tödlichen Ausgang der Dedowtschina gibt es auch heute noch.

Die Offiziere konnten sich zwar frei bewegen, aber sie waren geächtet und sie verachteten die Deutschen. Meine ersten Worte in einer fremden Sprache habe ich dort im gemeinsamen Spiel mit den Kindern der Offiziere erlernt und auch am Abendbrottisch. Sie waren sehr freundlich, aber die Väter wollten immer wissen, was mein Vater im Krieg gemacht hat. Zum Glück hatte ich keinen Vater, jedenfalls kannte ich keinen. Noch schlimmer ging es meinen Cousins: sie hatten keine Mutter, denn die war in Russland im Gulag. Aber das sagte man hinter vorgehaltener Hand.

Der erste Afrikaner, mit dem ich lange Gespräche führte und der viele Wochenenden bei mir verbrachte, war ein Partisan aus Südrhodesien, der in der DDR geschult wurde. Er zeigte mir an der Havel, wie er am Sambesi den Krokodilen entkommen war. Auf dem zugefrorenen Ruppiner See lief er und rief er: I am Jesus! Sein Pech war, dass er dem falschen Volk angehörte. Die Anhänger des bis vor kurzem dienstältesten und neben Isaias Afewerki und Kim Jong Un absurdesten Diktators der Welt erschossen ihn, als er in seine Heimat Zimbabwe zurückkehrte, um sie zu befreien.

Es hat mir sehr geholfen, dass meine ersten wirklich schönen und vertrauten Städte im Ausland zwei deutsche Städte waren: Danzig und Hermannstadt. In Danzig verschwanden damals gerade die Kaschuben, deren Verwandte ich aus Lübbenau kannte, und immer wieder geben sich Menschen zu erkennen, die auf der Gustloff oder auf der Kap Arkona Königsberg, Danzig oder Stettin entkommen konnten. Viele Jahre bereiste ich Siebenbürgen, sah noch die Geschlechtertrennung in den Dorfkirchen und die Äpfel an den Weihnachtsbäumen. Jetzt, ein Viertel Jahrhundert nach dem Exodus der Siebenbürger Sachsen zurück in die Heimat, wie sie sagen, obwohl sie heute noch von der süßen Heimat Siebenbürgen singen, stürzen auch die Türme ihrer schönen, schönen Kirchenburgen ein.

Was ich also seit dem Turmbahnhof, der Russenkaserne, dem schlesischen Himmelreich und der Lügenbrücke in Sibiu verstanden zu haben glaubte, war die Bikulturalität, wenn nicht sogar die Multikulturalität, obwohl es das Wort noch gar nicht gab. Ich bleibe im Konjunktiv, weil es einen Indikativ der Zukunft nicht geben kann.

Das Gegenargument wäre der uralte Pejorativ vom vaterlandslosen Gesellen. Ich dagegen glaube, dass es viel schwerer ist, Heimat als einen unverwechselbaren, monokulturellen Ort zu bestimmen, als anzuerkennen, dass wir jedes Fleckchen Erde mit anderen teilen.

Hört man sich Nationalhymnen oder Regionallieder an, so wird in jedem Song das Gleiche besungen und beschworen: das Vaterland, die Muttersprache, die Kindheit, die Wälder, Wüsten, Täler, Höhen, die süßer nie klingen als an eben dieser einen einzigen Stelle, von denen es unzählige gibt. Gläubige glauben zudem, dass ihre wahre Heimat im Jenseits ist. Kein Ort ist so schön, dass man nicht einen zweiten kennen würde. Also ist Heimat auch Gewohnheit, Erinnerung, Prägung. Man könnte von einem topical imprinting sprechen: wir sind von dem Ort geprägt, den wir zuerst gesehen haben. Später sagen wir: das ist unsere Heimat. Die meisten Menschen sagen: das war meine Heimat. Immer mehr Menschen sagen: das wird meine Heimat, weil Migration keine Ausnahme ist.

Man muss noch einen Gesichtspunkt bedenken. Die meisten Menschen früherer Zeiten waren an einen Ort gebunden. Für sie war Heimat immer auch Gefängnis. Ihre weiteste Reise war in die Kreisstadt. Urlaub gab es für die allermeisten nicht. Eine wichtige Quelle der Fernerkundung waren der Militärdienst und der Krieg. Er speiste Fremdenangst und Völkerhass, aber auch Neugier und Sprachkenntnis. Trotzdem kennt jeder die Geschichten, wie im ersten Weltkrieg die Waffen schwiegen und stattdessen plötzlich Weihnachtslieder erklangen. Das bekannteste Weihnachtslied seit zweihundert Jahren ist: Silent Night. Wenn man es von Mahalia Jackson gesungen hört, kann man ihre und seine Heimat vergessen.

Von dem großen Weltreisenden und Welterforscher Alexander von Humboldt stammen zwei schöne Erkenntnisse: dass es nämlich keine Weltanschauung ohne Weltanschauung geben könne und dass alle Menschen, die er getroffen habe, und das waren solche in allen Weltgegenden, gleich intelligent und emotional gewesen wären. An diesem Beispiel kann man auch lernen, dass eine Gegend, in diesem Falle Berlin, sowohl Heimat des größtmöglichen Kosmopolitismus, heute würden wir eher sagen größter Multikulturalität sein kann, wie auch Herd und Heimat maximaler Menschenverachtung.

Man kann also auf der einen Seite beklagen, dass Menschen an einem zufälligen Örtchen kleben. Man kann genauso beklagen, dass andere Menschen keinen solchen Ort haben. Nie war es aber richtig oder gut, Menschen für den Ort, die Hautfarbe, den Zufall ihrer Geburt zu verurteilen oder sogar zu bekämpfen. Im Falle des Mordes sollte man allerdings neu bedenken: ein Mord ist immer eine infame Tötung aus Berechnung, aus niederen Beweggründen, dazu zählen auch Mordlust und Sexualität, mit Häme und nach Plan. Warum muss man also die falschen und widerwärtigen Motive der Mörder sprachlich konservieren? Es gibt keine ‘rassische’ oder ‘rassistische’ Verfolgung. Es gibt keine Rassen. Es gibt keine Heimat. Niemandem gehört ein Land.

TRIVIA:

Alle Menschen waren/sind/werden Brüder/Schwestern. Du sollst deines Bruders Hüter sein. Die Grenze zwischen Nomaden und Sesshaften verläuft in den Menschen, nicht zwischen ihnen. Ich bin, weil wir sind: Ubuntu. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Es gibt nur eine Erde. Geld kann man nicht essen. Man ist als Mensch vergessen, wenn man nichts hinterlässt, was überall gilt. Wetteifert um gute Taten. The more I give the more I have. Getan ist, was du tust, nicht, was man dir tut.

[Randbemerkung der Randbemerkung: Jugendliche erfanden das Rad, eine Frau war der erste Autofahrer, ein Linkshänder relativierte das All, ein Schwarzer kreierte die moderne Musik und ein Schwuler den Computer. Hört auf, euch zu feiern.]

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Iris123

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