Wann wird auch der Zeitpunkt kommen, wo es nur Menschen geben wird?

Beethoven an Struve, 1795

Der Kollateralschaden der Demokratie ist der Zweifel. In den vordemokratischen Zeitaltern war die Erziehung durch Zweifel und zum Zweifel die Voraussetzung zur Weiterentwicklung, zur Fortentwicklung aus dumpfen Sklaven- und Feudalverhältnissen. Alle autoritären Gesellschaftsmodelle setzen auf Loyalität, alle Solidarmodelle gehen vom Konsens aus. Aber beides ist falsch.

Sobald der Diktator kippt oder auch nur wackelt, schlägt die vermeintliche Treue in Schadenfreude um. Die Ratten waren alle nur Opportunisten. Sie hoffen auf einen neuen Herrn, selten eine Herrin.

Und dieses seltsame Wort gibt uns wieder Gelegenheit, über das Gegenteil des Gegenteils nachzudenken und zu der Erkenntnis zu kommen, dass jede Medaille tausend Seiten hat, so viele wie ein guter Roman. Das Gegenteil eines Herren ist eine Dame, sie ist sein Komplement, aber wenn sie nicht untergeordnet sein will oder soll, muss sie den weiblichen Titel, der im Patriarchat nichts gilt, ablegen. Sie wird zur Herrin und gibt damit zu, dass Herr eben doch mehr ist als Frau. So geht es vielen Politikerinnen.

Auch Merkel hatte lange diesen Hang zur übergestülpten Männlichkeit. Es waren ihre Jäckchen, die sie zur etwas lächerlichen Herrin machten. Mit dem Titel ‚Mutti‘, den ein bösartiger Journalist ihr gab, war nicht gemeint, dass sie die Mutter der Nation als Pendent zum Vater der Nation, dem Gebieter des Vaterlandes, sei, sondern es war ihre Piefigkeit gemeint. ‚Mutti‘ ist ein Kinderwort, so wie ‚Opa‘. Nachdem sie nun auch die dritte Krise gemeistert (schon wieder ein Herr) hat, bleibt den meisten Kritikern die Kritik im Halse stecken. Und übrigens: gegen solchen Spott wehren sich Autokraten durch Blasphemie-Paragrafen.

Solidarität ist das Lebenselixier allen menschlichen Seins. Aber sie wurde in den letzten fünftausend Jahren teilweise durch eine Staatsfürsorge substituiert. Und das daraus notwendig resultierende Staatsversagen führte zu dem Wunsch nach Demokratie und schließlich zur Demokratie.

Die Geschichte von David und Goliath ist die Grunderzählung des Staatversagens. Der König kassiert Steuern und gibt sie sicher ungerecht für sich und sein Volk aus. Zur Fürsorge gehörte damals auch der Krieg um die besten Weideplätze und der Feind wurde durch die eigene Propaganda als ein seelenloses, aber doch irgendwie unbesiegbares Monster dargestellt. Und nun kommt der kleine David, sechzehn Jahre alt, der seinen großen Brüdern den Proviant für die Schlacht bringen soll. Er kommt gerade rechtzeitig, um die Frage des Königs nach einem Freiwilligen, übrigens eine typische Militärfrage, vorlaut beantworten zu können.

Meist wird der Ausgang der Geschichte so interpretiert, dass Macht zu Ohnmacht wird, wenn auf der anderen Seite Verstand eingesetzt wird. Es ist aber zunächst die Geschichte des ohnmächtigen Königs, des Staatsversagens also. Und immer, wenn der Staat am Versagen ist, fragt er nach Freiwilligen zur Rettung. In der Suche nach Freiwilligen liegt aber ein vordemokratisches Element. Durch eine Rettungstat kann sich jemand von ganz unten, David war ein Hilfshirt und das jüngste Kind, in die Elite katapultieren. Der König muss ihm dann, um die Beförderung zu legitimieren, seine Tochter zur Frau geben.

Dieses vordemokratische Element der Auswahl führt zur allmählichen Zerstörung der Vorstellung von der Natur und der Natürlichkeit der Hierarchie.

Wie kann, fragt man sich tausend Jahre später und tausend Beispiele weiter, die Hierarchie göttlich und naturgegeben sein, wenn sie durch ein einfaches Katapult – mit dem David das Monster Goliath exekutierte – außer Kraft gesetzt wird?

Der Goliath des stotternden und hyperventilierenden Davids Edison waren die Dunkelheit und die Einmaligkeit. Er erfand die Glühbirne als automatisierte Kerze und den Phonographen als Wiederholer bis dahin einmaliger Kunstereignisse. Der Adel des Geldes, zu dem er dann – im Gegensatz zu seinem erfolgloseren Konkurrenten Nikola Tesla – gehörte, war längst als Alternative zur Geburtselite akzeptiert.

Das ganze neunzehnte Jahrhundert über kämpfte das demokratische gegen das autoritäre Prinzip, gleichzeitig die Globalisierung gegen das Nationalstaatssystem. Globalisierung ist im Gegensatz zum Nationalismus keine Ideologie, sondern eine Methode, eine Möglichkeit des Marktes. Beide fanden im Kolonialismus ein zeitlich begrenztes gemeinsames Dach. Der Vietnam- und der Algerienkrieg sind so gesehen Triumphe über den Kolonialismus und für die Demokratie.

Es ist kein Wunder, dass der rechte, recht unbekannte Theoretiker Renaud Camus, den wir am vorigen Sonntag vorgestellt haben, den Algerienkrieg und seine Folgen für Frankreich traumatisch erlebt hat und dem Verlust durchaus rachsüchtig nachtrauert, während der weltberühmte Großautor Albert Camus, dessen Mutter Analphabetin war, aus Algerien stammt – ohne Araber oder Berber zu sein – und wie David und wie Edison höchst erfolgreich für den Verstand und das Licht votierte.

In der Anfangsphase der Demokratie, in der wir uns jetzt befinden, leben die Menschen mit ihren eingelernten Zweifeln, die sie den Sturz der angeblich felsenfesten Autoritäten lehrten, fort. Sie vermuten hinter jeder gewählten Persönlichkeit Korruption und Allmachtsfantasien. Andererseits verlangen sie aber auch Allwissen und Allmacht. Einerseits fragen viele Bürger, wie jemand Gesundheitsminister sein kann, ohne Arzt zu sein. Andererseits vermuten sie aber, wenn ein Arzt Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation ist, Dr. Tedros Adhanom Gebreyesus, dass er gerade deswegen korrupt sein muss. Andere glauben sogar, dass er eine Marionette von Bill Gates sei.

Bill Gates seinerseits aber wird als neuer Weltgesundheitsdiktator beschimpft. Wir erinnern uns: er hat große Teile seines – allerdings unermesslich und unvorstellbar großen - Vermögens für die Bekämpfung von AIDS gestiftet. Sie setzen also Zweifel, die früher nicht nur berechtigt, sondern notwendig waren, für die Bekämpfung derjenigen Gesellschaft ein, die für ihre Ahnen das Ziel war: ‚die Gedanken sind frei‘ – so sangen heimlich die ersten Demokraten Deutschlands in den Kerkern ihrer Staatsversager. Und heute bemerken sie nicht, dass sie wählen und zweifeln und ihre abstruse Meinung hinausposaunen können, ohne dass sie von jemandem gehindert würden.

Es ist das Paradox der Diktatur, dass sie von Treue lebt und immer in Verrat und Attentat endet. Es ist das Paradox der Demokratie, dass sie von der Solidarität lebt, die gleichzeitig ihr letztes Ziel ist, und dass sie aber von denjenigen, die der Autorität nachtrauern, missbraucht und mit sozusagen demokratischen Möglichkeiten bekämpft wird. Schon Goebbels hat das mit großer Schadenfreude verkündet, aber wo ist er geblieben? Seine heutigen Bewunderer, die sich auch so gerne mit ihm vergleichen lassen, sollten bedenken, dass er – nachdem er seinen Krieg verloren hatte und Deutschland in Schutt und Asche gelegt war - erst seine sechs Kinder ermordete, dann seine Frau, die in Wirklichkeit Hitler liebte, weswegen er eine tschechische Filmschauspielerin liebte, und schließlich sich selbst erschoss. Manchmal enden die Monster von selbst und benötigen keinen David.

Wir haben auf den bisherigen 1000 Seiten (wirklich!) immer die Hierarchie, also die angeblich natürliche, tatsächlich aber immer zeitweilige oder konstruierte Rangfolge der Menschen als Verursacherprinzip der Ungleichheit (besser: Ungleichartigkeit) dargestellt: Rassismus, Klassismus oder Sexismus, auch die Religionen schließen sich gerne gegenseitig aus statt ein. Nur kein Synkretismus, rufen ihre alle ein wenig fundamentalistisch angehauchten Würdenträger.

Dabei ist alle Kultur synkretisch, zusammengewürfelt, ineinander verschachtelt, kollateral verästelt.

Es gibt neben Israel nur ein einziges Gebiet, das die jüdische Religion im Namen führt: die Jüdische Autonome Oblast Birobidshan, von Stalin aus antisemitischen Gründen gegründet, aber zeitweilig doch von vielen Juden angenommen. Jetzt aber ist nur ein Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens und es gibt nur eine Synagoge, und in der beten die wenigen Menschen den berühmtesten und größten Juden aller Zeiten an: Yesus. Wir haben gerade Ostern gefeiert, aber statt an die Auferstehung eben jenes Yesus zu denken, dachten wir an den Frühling und die Fruchtbarkeit und färbten Eier als deren Symbol, wie die Slawen taten, die vor uns hier gelebt haben und andere Götter hatten als wir.

Vielleicht ist auch die Hierarchie auf eine noch ältere Grundstruktur zurückzuführen: auf die Anmaßung des Richtens, die Erkennung einer Schuld und die Verhängung einer Sühne. Es gibt einen Hadith*, der besagt, dass ich, statt meinen Bruder oder meine Schwester einer Untat zu bezichtigen, siebzig Entschuldigungsgründe suchen soll, die für sie sprechen, die Gründe für die Tat sein könnten, die allgemein akzeptiert würden, und dass ich dann aber sagen soll: vielleicht gibt es einen weiteren Grund, den ich nicht gefunden habe.

Und obwohl die moderne Rechtsprechung, das von Anselm Ritter von Feuerbach begründete positive Recht etwa so vorgehen, die Tat untersuchen, den Täter in seiner Würde als Mensch und mögliches Opfer vorangegangener Untaten anderer – zum Beispiel seiner Eltern oder des Staatsversagens – anerkennen, obwohl also die gesamte nördliche Welt diesem Hadith folgt, ohne ihn jedoch explizit zu erwähnen, ohne ihn aber auch ausdrücklich zu verwerfen, verbleiben große Teile des Südens und der Anhänger der Autoritäten mindestens in der Vorstellung harter Sühne, wenn nicht sogar in Rache.

Demokratie geht im Gegenteil davon aus, dass sich der Täter selbst seiner Würde beraubt hat, die ihm nun durch das, was wir Resozialisierung nennen, schrittweise wiedergegeben werden kann. Wahre und vollkommene Demokratie immunisiert gegen Untaten. Das ist es. Sie bedarf nicht der Schuldfeststellung und der Sühne, sondern der Verbesserung. Wir erinnern an einen unserer schönen Sätze: WENN JEDER DIE SCHULD BEI SICH SUCHT, IST DER TÄTER SCHNELL GEFUNDEN.**

Das wird das Zeitalter sein, wo es nur Menschen geben wird.

Zur Feierstunde der Schließung des letzten Gefängnisses wird der pensionierte Gefängnisdirektor, das letzte Opfer von Schuld und Sühne, die Waldsteinsonate von Beethoven spielen. Das ist eine Vision, sicher, aber zu fliegen war auch eine Vision, wie auch Licht und Geschwindigkeit und Reproduktion und weltweiter Alphabetismus.

*überlieferte Weisheit des Propheten Mohammed, diese geht möglicherweise auf Al-Buchari zurück

**oder: NICHT DER GEGENWIND IST SCHULD, SONDERN UNSRE UNGEDULD.

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rahab

rahab bewertete diesen Eintrag 19.04.2020 22:08:33

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