Die schrecklichste Vergeltungsaktion hat gerade ihren fünfundsiebzigsten Gedenktag, und wir sollten sie nicht vergessen: Gegen die deutsche Besetzung der ukrainischen Hauptstadt Kiew gab es erheblichen Widerstand, dem einige hundert deutsche Besatzer zum Opfer fielen. Daraufhin beschlossen SS und Wehrmacht, als Vergeltung dafür alle verbliebenen Menschen jüdischer Herkunft zu erschießen. Das geschah dann auch um den Rosh Haschana Feiertag, an dem sich die Menschen sicher fühlten.

Die Anordnung, der die Menschen folgten, lautete auch nicht auf Erschießung, sondern auf Umsiedlung. Sie wurden in eine Schlucht getrieben, die damals am Rande der Stadt lag: Babi Jar, Weiberschlucht. In sechsunddreißig Stunden wurden von deutschen betrunkenen SS-Männern, Polizisten und Wehrmachtssoldaten 33.771 Menschen erschossen. Von der Wehrmacht wurden danach die Wände der Schlucht gesprengt. Bis 1943 wurden in dieser Schlucht noch einmal doppelt soviele Menschen wie in den ersten beiden Tagen ermordet. Viel später, am 13. März 1961, kam es zu einer Flutkatastrophe, weil die Stadt Kiew versucht hatte, das Gelände zu nutzen, durch die Schneeschmelze rutschte aber die aufgefüllte Schlucht in ein Wohngebiet, zweitausend Menschen starben.

Der Dichter Jewgenij Jewtuschenko, damals eine Ikone der jungen sowjetischen Poesie, beklagte in einem weltberühmt werdenden Gedicht, dass es noch nicht einmal ein Denkmal in Babi Jar gab. Dmitrij Schostakowitsch vertonte das Gedicht zum Unmut der Sowjetbehörden, die gerade begannen, den Stalinterror aufzuarbeiten, in seiner XIII. Sinfonie. In John Littells Roman DIE WOHLGESINNTEN wird das Massaker aus der Sicht der SS dargestellt. Jeder, der bis dahin an die Rechtmäßigkeit von Strafe und Vergeltung geglaubt hat, müsste eigentlich jetzt wissen, dass dieser Gedanke oder besser diese Gedankenlosigkeit auf einem doppelten Irrtum beruht.

Überall, wo Menschen aufeinander treffen, versuchen sie, sich mit Überzeugung, Empathie und Liebe auf den im Moment als richtig erkannten Weg zu bringen. Dass es aber gerade in der generationsübergreifenden Erfahrungsweitergabe immer wieder zu Problemen kommt, zeigt sich in den jahrtausendalten Forderungen nach Strafe oder in der ebensoalten Resignation der jeweils anderen Seite. Allerdings stehen dem Menschen, wie allen Lebewesen, immer mindestens zwei völlig entgegengesetzte Strategien zur Verfügung: Anpassung und Widerstand. Oftmals erreichen beide so ziemlich dasselbe.

Der gleiche Widerspruch scheint der zwischen Sesshaften und Nomaden zu sein. In einem geschlossenen System wird dabei der Sesshaftigkeit nicht nur der Vorzug gegeben, sondern sie wird zum Fortschritt erklärt. Wenn man aber den heutigen Wohlstand der sesshaften Industrienationen als Fortschritt gegenüber den verbliebenen Nomaden, also etwa Massai, Tuareg oder Roma, bezeichnet, dann muss man alle Kriege, alle Zivilisationskrankheiten, die Klima- und die Umweltkatastrophe ausblenden. Erst eine von Hunger, Pest und Krieg bereinigte Geschichtsbetrachtung zeigt den Vorteil des heutigen Zivilisationstyps gegenüber den Nomaden.

Damit ist noch nichts über das Glück gesagt. Ein großer Teil der Menschen in den reichen Ländern leidet unter Adipositas, Herzkreislauferkrankungen oder psychischen Problemen. Die hohe Selbstmordquote der Inuit in Grönland ist ausschließlich auf das unglückliche Zusammentreffen der heutigen sesshaften Wohlstandsideologie mit einer traditionellen Lebensweise zurückzuführen.

Nirgendwo ist das Verbrechen wirkungsvoller bekämpft worden als in den Wohlstandsdemokratien durch Strafminderungen, Wiedereingliederungen und vor allem durch die Abschaffung der drastischen Strafen wie Amputationen oder Tod. Allerdings muss man bedenken, dass es in den traditionellen Gesellschaften, aber auch in den Diktaturen kaum Statistiken gab oder gibt. Wir beschäftigen uns erst seit zweihundert Jahren wissenschaftlich mit dem Verbrechen oder Versagen. Auf der anderen Seite gibt es erst eine Gesellschaft in der ganzen Weltgeschichte und Weltgegenwart, die das Glück der Menschen zum Maß aller Dinge gemacht hat. Wir selbst rechnen eher mit Wohlstand und Wachstum, in den von uns abgelehnten Reichen sehen wir Unterdrückung, Erschießung und Straflager, aber das Glück wird bisher nur in dem kleinen Himalayaland Bhutan als ökonomischer und politischer Messwert anerkannt. Der junge König Jigme Singye Wangchuk wurde nach dem sicher unerheblichen Bruttosozialprodukt von Bhutan gefragt und reagierte spontan mit der Ausrufung des Gross National Happiness, des Bruttonationalglücks.

Im gleichen Jahr heiratete er vier Schwestern einer mit dem Königshaus traditionell verfeindeten Familie. Der Streit wurde durch die glückliche Ehe beendet. Der König trat 2006 mit einundfünfzig Jahren zugunsten seines sechsundzwanzigjährigen Sohnes, des Kronprinzen, zurück.

Alle Religionen und Philosophien betonen die Relativität des Menschen, seine gleichrangige Beziehung zu seinen Mitmenschen. Niemand kann also einen anderen Menschen strafen oder gar töten. Der berühmte Satz von Rousseau, dass zwar alle Menschen frei geboren würden, aber dennoch in Ketten lägen, trifft auch hier zu. Alle Menschen werden nicht nur frei, sondern auch gleich geboren, und trotzdem begründen sich immer wieder Hierarchien und entstehen Theorien zu Hierarchien. Selbst die unsinnige Volksphilosophie 'Geld regiert die Welt' konstruiert eine Ungleichheit. Immer wieder setzt uns die Frühzeitigkeit der besseren Erkenntnis in Staunen: schon Voltaire wusste, was aus Papiergeld immer wird, das nämlich, was es schon immer ist: 0. Der Mensch wird von seiner Mutter geboren, die nur dadurch zur Mutter wird, dass sie den Menschen gebiert. Aber kaum ist er auf der Welt, steht schon ein von Machtfantasien geblendeter Vater mit dem Knüppel bereit, wenn er den neuen Menschen nicht schon vor dem Schlagen auf den Müll geworfen hat, wie bis zum Mittelalter üblich. Deshalb ist die dritte Komponente, die Brüderlichkeit, die wir heute besser Geschwisterlichkeit nennen, neben der Freiheit und der Gleichheit, relevant wie nie zuvor.

Deshalb ist jede moderne Gesellschaft, die die Würde jedes Menschen schützt, so hoch zu achten, trotz mancher traditioneller und neuer Fehler. Diese modernen Gesellschaften, in denen wir leben, lösen sich langsam von einem weiteren, immer überflüssiger werdenden Ordnungsprinzip, dem Nationalstaat. Sein Verschwinden wird genauso bitter empfunden, wie jedes Verschwinden von irgendetwas. Die Annahme, dass ein Vater uns prügeln kann, wenn wir nicht hören, ist einige tausend Jahre lang für ein Naturgesetz gehalten und selbst vom weisen Salomo kolportiert worden.

Die Hypothese, dass Mann und Frau zwei völlig verschiedene, sich auch qualitativ krass unterscheidende Wesen wären, ist zuungunsten der einleuchtenderen und wahrscheinlicheren, aber auch spät (Euler- oder Venndiagramm) entdeckten Theorie der Überschneidungen und Komplemente ebenfalls lange Zeit als unumstößlich angesehen worden. Bis in die Gegenwart reicht die Vorstellung, dass Menschen mit einer anderen Hautfarbe auch eine andere Achillessehne (oder irgendetwas anderes anderes) haben müssten oder wenigstens könnten. So ist es aber nicht. Wir haben alle die gleiche Achillesferse.

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