Rest in peace, Tuğçe. Ein Bruder nimmt Abschied.

Vor zwei Tagen habe ich mich durch die Timeline meiner Facebook-Freunde gewühlt. Gegen zwei Uhr morgens bin ich auf ein Posting gestoßen, das mich nicht mehr loslässt. Ich weine wieder und wieder, ich spüre den Schmerz und die Trauer, sie lässt sich schwer in Worte fassen. Es sind die Worte eines Bruders, die mich so tief berührten und schockierten. Ein Bruder, der seine geliebte Schwester für immer verloren hat. Sie wurde umgebracht.

Ihr kennt den Fall aus den Medien: Im Morgengrauen des 15. November 2014 versetzt Sanel M. Tugce Albayrak auf einem Parkplatz vor einem Fast-Food-Lokal in Offenbach einen heftigen Schlag. Die 22-Jährige stürzt, wird schwer am Kopf verletzt und fällt ins Koma. Die Eltern der jungen Frau lassen 13 Tage später die lebenserhaltenden Apparate abschalten. Es ist der 23. Geburtstag ihrer Tochter. Die Mediziner hatten schon Tage vorher den Hirntod festgestellt.

Der Täter wird nun nach Serbien abgeschoben, er wehrt sich dagegen. Doch um seine Abschiebung soll es hier nicht gehen. Mir geht es um die Worte von Doğuş Albayrak, und ich bitte Euch, aus diesem Beitrag keine Diskussion darüber entstehen zu lassen, ob straffällige Migranten abgeschoben werden sollen oder nicht.

Ich habe Doğuş Albayrak kontaktiert und ihn gebeten, seinen Beitrag auf unserer Plattform veröffentlichen zu dürfen. Er hat eingewilligt. Lasst diese Worte Euer Herz berühren und schenken wir dieser jungen, schönen Frau unsere Gedanken.

Rest in peace, Tugce.

Hey Schwesterherz,

als wäre es gestern gewesen, dass wir zusammen in der Frühe mit deinem lilanen Micra in die Uni gefahren sind. Ein kurzer Stop in der Tanke, denn ohne "Kaffee" wärst du wohl nicht weitergefahren. Als wäre es gestern, dass ich dir dann nach der Uni am Abend bei den Popcakes, für die Überraschungsparty, geholfen habe. Was heißt geholfen, ich glaube ich habe Dich eher geärgert und Dich vom Wesentlichen abgelenkt. "Oh man abi, nerv nicht!" hast du immer gesagt.

Nein es war nicht gestern Schwesterherz, mittlerweile sind genau zwei Jahre rum. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass ich Dir an diesem Abend das letzte Mal in die Augen schaue, Dich das letzte Mal so schön lächeln sehe und das letzte Mal Deine Stimme höre.

Woher sollte ich das denn auch wissen. Der Tod war bis zu jener Nacht ein Fremdwort für uns, beide Omas & Opas sind noch am Leben. Was ich sagen will Schwesterherz, der Tod ist etwas, was wir mit Dir, dem jüngsten Familienmitglied kennenlernen mussten. Das ist so unfair!

Mit Dir weiß ich erst, dass Menschen gehen und nicht mehr zurückkommen, dass eine Sekunde dein ganzes Leben auf den Kopf stellen kann. Dass es einem vorher eigentlich an nichts gefehlt hat und man über Dinge geklagt hat, wo ich jetzt mit dem Kopf schüttel, die einfach keinen Sinn ergeben. Dir wird klar, dass eines der schönsten Dinge im Leben, das gemeinsame Abendessen mit der vollständigen Familie am Tisch ist. Dir wird klar, dass die Zeit mit deinen Liebsten um dich, die wertvollste Zeit ist, die du eigentlich hast. Dir wird klar, dass genau diese Zeiten eigentlich leider nicht selbstverständlich sind. Ich wünschte, ich hätte diese Erfahrung anders gemacht und die Zeit mit Dir intensiver verbracht!

Mit Deinem Tod, Schwesterherz, hat ein Kapitel in unserm Leben angefangen, das ich eigentlich kaum beschreiben kann. Die Zeit im Krankenhaus, Deine Beerdigung, der Prozess und währenddessen die ständige mediale Begleitung. Da sind so viele Sachen passiert, die passen hier einfach nicht rein. Aber eigentlich hab ich den Drang, es zu erzählen, weil ich wünschte, dass alles ans Tageslicht kommt, aber ich fasse es mal kurz:

Wir haben Menschen erlebt, die eigentlich keine Menschen sein können, sei es im Krankenhaus, auf der Beerdigung oder während dem Prozess. Menschen, die mit so viel Hass erfüllt sind, Menschen, die keine Empathie haben, Menschen, die pietätlos sind, Menschen, die nur an das Kommerzielle denken, Menschen, die Dich als Promotion genutzt haben, Menschen, die plötzlich mit dir verwandt sind, und und und. Mir ist heute noch schlecht wenn ich sehe, zu was die Menschen fähig sind.

Aber die Erde besteht halt nicht nur aus schwarz sondern auch aus weiß. Wir haben zum Glück auch Menschen erlebt, die das Menschsein wirklich verkörpern. Gute Menschen, die kulturelle und soziale Hindernisse überwunden haben, bei denen die Religion, Farbe und alles, was die Menschen sonst trennt, keine Rolle spielen. Diese Menschen haben vereint für Dich gebetet, Schwesterherz.

Es waren keine ein oder zwei Menschen, wobei die Anzahl ja eigentlich keine Rolle spielt. Aber es waren so viele Menschen, die versucht haben uns Kraft zu geben, Du wirst es nicht glauben, aber diese geballte Kraft haben wir gespürt und es hat wirklich geholfen, nicht einzuknicken. Viele von ihnen sind heute noch an unserer Seite, da können sich manche Familienmitgleider eine Scheibe abschneiden!

Schwesterherz, ich habe mich in den letzten Monaten lange mit dem Tod beschäftigt und ich bin mir sicher, dass es über den Tod hinaus etwas gibt und wir uns früher oder später wiedersehen werden. Jeder einzelne hier ist Gast und wird den Tod, wie blöd es auch klingen mag, erleben müssen. Weil es eben nun mal dazu gehört. Nur wichtig ist halt eben, was man hinterlässt, wenn man geht! Ich wiederhole, wichtig ist, was man hinterlässt, wenn man geht!

Mit Deinem mutigen Handeln hast Du Dich in sehr viele Herzen gezaubert. Du hast tiefe prägende Spuren der Liebe hinterlassen. Ich bin stolz auf Dich kleine Hexe. Zwar holt Dich nichts zurück und manches fand ich sogar übetrieben, aber wenn ich sehe, dass auf dem Campus der Uni Gießen ein Gedenkstein zur Erinnerung an Dich und Deine Tat steht, ich hier und da mal höre wie Du Gespächsthema am Kiosk oder wo auch immer wirst, wir den Briefkasten öffnen und Briefe noch an Dich erhalten, wenn ich sehe, dass Menschen unbedingt Projekte mit dem Verein verwirklichen wollen, wenn ich sehe, dass heute noch an Deinem Grab alles hell erleuchtet ist und alles voll mit Blumen ist, wenn ich sehe, dass die Stadt in der Du geboren bist, zwei Jahre später zu Deinem Geburstag eine Gedenktafel errichtet an dem Krankenhaus, wo Du Deine Augen das erste Mal geöffnet hast, ja dann kann ich mit Stolz zurückblicken und das Ganze als ein Trostpflaster, vielleicht sogar mehr betrachten, was uns die Wunde lindert.

Schwesterherz, wir lieben Dich!

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WICHTIGER NACHTRAG DER REDAKTION, HIER ENTNOMMEN –

MAHNWACHE GEGEN GEWALT:

Vor fast genau zwei Jahre wurde Tugce vor einem Offenbacher Fast-Food-Restaurant niedergeschlagen und fiel ins Koma, weil sie Zivilcourage zeigte und zwei minderjährigen Mädchen geholfen hat. Sie starb zwei Wochen später an den Folgen ihrer Verletzungen im Krankenhaus. Gerade in Zeiten von Hass und Gewalt brauchen wir solche Menschen. Wir dürfen sie nicht vergessen! Um an Tugce zu erinnern, findet fast zwei Jahre danach, am Sonntag, den 20. November 2016, um 15:30 Uhr eine Mahnwache statt. Lass uns ein Zeichen setzen: gegen Hass und Gewalt!

Doğuş Albayrak https://www.facebook.com/dogus.albayrak.79?fref=nf&pnref=story

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