Zehntausend Schritte sollst du täglich tun, der Gesundheit zuliebe.

Täglich! Auch wenns heiss ist und noch heisser werden wird.

Mein Schrittzähler und ich arbeiten daran und nähern uns - schrittweise! - dem täglichen Ziel ein Stück. (Nie habe ich an den Erwerb eines solchen Gerätes gedacht! Ich meinte immer, das wäre etwas für die ganz Körperbewussten. Für die Kalorienzähler, die Körperfettmesser, die vernünftigen Spaßbremsen,kurzum: die sanften Irren. Die ja immerhin nur sich selbst geisseln und schlimmstenfalls die Menschen in ihrer Umgebung mit allzu großem Sendungsbewusstsein nerven. Und nun bin ich selber so eine. Aus mancherlei Gründen.)

Mein Schrittzähler und ich machen uns auf dem Weg, unter sanften Wolkenschleiern.

Und während der Zähler zählt, schaue ich mich um.

Aus einem Garten, hinter einer Hecke höre ich, wie die größere zur kleineren Schwester sagt: „Du bist ein doofer Arsch.“

Die Kleine, nicht dumm, antwortet: „Ich geh jetzt und sags, dass du Arschloch zu mir gesagt hast.“

Die Größere lenkt ein: „Na, gut, Entschuldigung.“

Die Kleine nutzt ihr Oberwasser und begehrt, jetzt auf die Schaukel zu dürfen. Und sie darf. Böse Worte werden offenbar in dieser Familie schlimm geahndet.

Zwei Straßen weiter sehe ich, wie sich in einem Hinterhof die Blasmusikkapelle versammelt. Alles in blauem Einheitsgewand. Da werden Kaffeetassen gereicht, Instrumente noch ein wenig nachpoliert. Ein Becken scheppert. Im Hintergrund steht ein Kasten Radler. (Bier wird erst später getrunken.)

Die Verkäuferin an der Tankstelle ächzt, dass sie so müde sei. Sie bekämen so viel vom Volksfest ab. Spätabends, wenn die Leute nach Hause gingen und noch ein bissel nachfeiern wollten.

Ja, gut, denken mein Schrittzähler und ich, schauen wir, was auf dem Festplatz los ist.

Viel passiert da noch nicht.

Die Frau, die - die Brüste wie Kanonen nach vorn gestreckt - ihren Mann hinter sich herziehend zum Platz eilt, muss wohl dort zu tun haben. Denn es gibt nur Budenbesitzer zu sehen, die ihr Geschäft vorbereiten. Große Käselaibe werden entpackt, Baguettes ordentlich aufgestapelt, Riesenpfannen angeheizt. Ein Fahrgeschäft wird mit dem Wasserschlauch gereinigt, ein anderer Budenbesitzer ruft in sein Mikrofon: „Testtesttest!“ und lässt das maschinelle Echo eine Ewigkeit nachhallen. Zwei Polizisten gehen geschäftig durch die Reihen. Und noch ehe ich mich dergleichen fragen kann, höre ich einen Budenbesitzer dem Nachbarn zurufen, dass bei XY heute Nacht eingebrochen worden sei. Ein paar Schritte später zeigt die Bestohlene den Polizisten, wo die Diebe herein gekommen sind.

Ich mache nur die kleine Runde, schaue noch kurz bei diesem Metallhändler vorbei, dessen Werkzeuge mir schon nützliche Dienste erwiesen. Aber die Zahnhaken wecken üble Erinnerung an die Zahnbehandlung vorgestern, deren Folgen noch nicht ganz ausgestanden sind.

An der Ecke vor dem Kino, an der jeder Besucher vorbei muss, breitet eine Frau gerade eine Bastmatte aus, wirft ihren Rucksack hinter sich. Ihr Mann, Frohnatur und nicht so leicht zu kränken, tritt mit einer Büchse an den nächsten Besucher heran und fragt: „Möchten Sie mir vielleicht etwas Geld geben?“ Der Besucher schüttelt den Kopf, woraufhin der Mann eine Zigarette aus seiner Büchse nimmt und ihm hinterher ruft: „Ich nehme auch Zigaretten, Drogen, Sprengstoff …“

Die Umstehenden lachen. Das Eis ist gebrochen und die ersten Münzen klimpern in der Büchse.

Aha, habe ich gelernt, es kommt nicht so sehr auf die Not an, sondern auf die Performance.

Jenseits der Straßen, in denen das Volk sich zum Festplatz zu drängen beginnt, bleibe ich staunend vor einem „Schmetterlingsbaum“ stehen. Pfauenaugen über Pfauenaugen umschwirren mich, kosten von den riesigen weißen Blütendolden, fliegen erst auf, als hinter mir ein Auto beim Vorbeifahren gar zu viel Wind macht.

Über die Häuserfront hinweg höre ich, wie die Blaskapelle ihren Lauf beginnt.

Noch vor der Haustür bekomme ich den ersten Regentropfen ab. Ein kleiner freundlicher Regen ist das, den die Festplatzbesucher sicherlich als angenehm empfinden werden. Auf dem Schrittzähler erscheint die Zahl 4518. Die andere Hälfte der vielleicht nicht ganz 10 000 folgt heute Abend. Dann werde ich zusammen mit vielen anderen Einheimischen von der Friedhofsmauer aus das Feuerwerk betrachten.

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MartinMartin

MartinMartin bewertete diesen Eintrag 27.07.2016 10:01:58

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