Ein Jahr lang macht Sebastian zwei Mal pro Woche eine Therapie. Er hat sich das Ziel gesetzt, seine Zwangsneurosen zu überwinden. In den ersten Stunden erzählt ihm sein Therapeut davon, dass er an keiner so monströsen Zwangsneurose leide. Es wäre eher eine kleinere Form einer Zwangsstörung. Oder, um es fast poetisch auszudrücken:

Ein Zwangsneuröschen habe sich in den Kopf und das Denken von Sebastian geschlichen.

Wenn er möchte, dass die Therapie einen ansprechenden Erfolg zur Folge hätte, muss er etwas tun, das er sehr ungern tut: Über sich selbst sprechen. Es dauert dementsprechend, bis er aus seinem Eisblock ausbrechen kann. Der Therapeut versichert, dass nichts nach außen dringen werde. Nach knapp zwei Monaten beginnt Sebastian von seiner Familie, und sozialen Komponenten zu sprechen. Eines der augenscheinlichsten Probleme, die er seit seiner Kindheit hat, ist jenes, Anschluß an andere Menschen zu finden, oder mit Menschen überhaupt eine halbwegs funktionierende Beziehung aufzubauen.

Er versteckte sich vor seinen Mitmenschen, und baute in seinem Kopf Märchenschlösser oder aber schreckliche Gruselburgen, in denen er allerlei Abenteuer überstehen mochte. Die Realität war eine nichtexistente Dimension. Innerlich blieb er Menschen immer entfremdet.

Er hatte aber das Glück, zwei Menschen kennen zu lernen, die sein Leben in eine Richtung brachten, sodass ein mächtiger Funke Hoffnung in seiner Seele entzündet wurde:

Herr Specht, sein Deutschlehrer in der ansonsten uninteressanten Abendschule, motivierte ihn innerhalb nur weniger Wochen so stark und nachdrücklich, dass er damit begann, intensiv zu schreiben, und sich für Literatur zu interessieren. Ohne ihn wäre er vielleicht nie auf die Idee gekommen, dem Schreiben oder der Literatur irgendeine Bedeutung beizumessen.

Lisa, die über alles geliebte Lisa, machte ihn mit Gefühlen vertraut, über dessen Existenz er zuvor kaum spekuliert hatte. Wärme, Geborgenheit, Liebe, Vertrauen. Ein Nest, in dem er geborgen ist. Bis heute.

Sebastian hatte mächtiges Glück, diesen beiden Menschen zu begegnen. Er ist derart glücklich, dass er aus Dankbarkeit eine Geschichte schrieb, die er „Nennt mich Sebastian, den Erwachten“ nannte.

Eines aber verschwieg er, und das sind jene Dinge, die ich nun in seinem Namen zu Papier bringe: Seine Zwangsneurosen sind ein wesentlicher Teil von ihm. Sie werden immer ein Teil von ihm bleiben. Auch das hat er in der Therapie gelernt.

Er erfährt im Laufe der Therapie unglaublich viele Dinge über sich selbst. Nach jeder Therapiestunde macht er einen kleinen Spaziergang, und reflektiert über die neuen Erkenntnisse, die er gemacht hat. Die Zwangsneurosen sind nicht selbstgemacht; sie haben Ursachen, die in der Kindheit liegen. Er erinnert sich natürlich daran, wie er als Kind ständig nachschauen musste, ob seine Schulsachen noch da sind. Vieles hat er vollständig verdrängt, und durch die Atemkontrolle kam alles wieder an die Oberfläche. Es war so etwas wie ein Hilferuf seines Gewissens: Du solltest wieder an dir arbeiten! Du solltest versuchen, dir einen Reim darauf zu machen!

Es ist keine Schande, zum Therapeuten zu gehen. Nicht wenige Menschen mögen dieser Ansicht sein, aber für Sebastian stellt die Therapie eine große Herausforderung dar, welche sein höchstpersönliches Leben zum Gegenstand hat. Es ist nicht leicht, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Wer will auch einen Selbsterforschungstrip machen, und im Laufe dessen in fast undurchdringlichem Gestrüpp landen?

Jeder Lebensweg ist individuell, und einmalig. Und die intensive Beschäftigung mit dem eigenen Leben kann eine Notwendigkeit sein, wenn zuviele Ungereimtheiten existieren, die als Lasten empfunden werden. Sebastian stellt sich den steilen Klippen, und den traumatischen Weggabelungen.

Eine Erkenntnis ist als die Wichtigste anzusehen: Er hat in seinem Leben immer mit Menschen zu kämpfen gehabt, die er nicht akzeptieren konnte. Und er setzt überhaupt kein Vertrauen in Menschen. Jahrelang ist er von Menschen enttäuscht worden. Im Kindergarten, in der Schule, und in der Arbeitswelt. Er wurde nicht ernst genommen; wurde nur als Träumer angesehen.

Darum sollte er jene Menschen, die ihm Glück gebracht, und ihn geliebt haben oder unverändert lieben, als Beweis dafür ansehen, dass Menschen nicht immer böse und abweisend sind.

Ja, er ist sehr oft abgewiesen worden, und musste sich sozusagen selbst erziehen. Der Umzug weg von den Großeltern hat einen Bruch in ihm erzeugt. Für seine Eltern war es vielleicht wichtig, sich von dieser „Umklammerung“ zu lösen; für ihn war es bedrückend.

Geschehene Dinge bleiben bestehen, und wirken in Seele und Geist weiter. Sebastian fehlten seine Großeltern sehr, und als sie viele Jahre später beide starben, wurde ein riesengroßes Loch in sein Herz gerissen.

Es hat viel Substanz gekostet, mit aller Kraft den eigenen Weg zu beschreiten. Er braucht sich jedoch keine Vorwürfe zu machen. Er tat und tut dies, weil es seinem inneren Antrieb entspricht. Sebastian ist keine Oberfläche, an der sich andere Menschen reiben mögen. Er kann eine glühendheiße Stichflamme sein, der niemand zu nahe kommen sollte. Und er kann kälter als ein Eisblock sein. Jede Berührung kann zu einem Kälteschock führen. Er hat Menschen vor den Kopf gestoßen, die ihn geliebt haben. Und er ist nicht jene perfekte Person, als die er sich jahrelang sehen wollte.

Solange sich ein Mensch nur mit sich selbst beschäftigt, wird er in sich selbst und den daraus entwickelten Konflikten steckenbleiben. Der Ausweg kann nur darin liegen, sich anderen Menschen zu öffnen, oder, wie es Kierkegaard so schön schrieb: „Einen Angelhaken in die Welt nach außen zu halten.“ Dadurch kann sich schlagartig alles ändern.

Was sich so leicht anliest, war und ist für Sebastian ein langwieriger Prozeß, der nie an ein Ende gelangen wird. Durch die Therapie ist es ihm jetzt möglich, sich selbst und die Ursachen seiner Zwangsneurosen besser zu verstehen. Er weiß, dass sein Leben von ihm nicht kontrolliert werden kann, sondern Gesetzen unterliegt, deren Eigenheiten er zu akzeptieren gelernt hat. Er versucht, sich selbst nicht anzuschwindeln, sondern die Dinge beim Namen zu nennen. Das kann furchtbar schmerzhaft sein. Aber es ist notwendig, wenn er nicht auf der Stelle treten will.

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