Was uns die Spieltheorie über die Flüchtlingskrise sagen kann

Nach der Katastrophe mit 71 Toten im Burgenland kommt das Land nicht mehr zur Ruhe. Vor wenigen Tagen sind erneut drei Kinder im miserablen Zustand gefunden worden; immer wieder werden Flüchtlinge vor ihren bösen Schleppern „befreit“. Die Antwort der Politik und des Boulevards darauf lautet: Mehr Kontrollen, Kampf gegen Schlepper.

Dass das alles aus rein menschlicher Sicht zu hinterfragen ist, haben viele andere in den letzten Tagen schon eloquent angemerkt. Nur darum soll es heute nicht gehen. Während die Katastrophe aus dem Burgenland bekannt wurde, lag ich in Italien am Flüchtlingsgrab Mittelmeer und nutzte den Urlaub, um etwas zu lesen, von dem ich keine Ahnung hatte, wie politisch relevant es eigentlich war. Nämlich ein Buch über Spieltheorie.

Spieltheorie: Kosten und Nutzen

Jetzt kann man fragen, was ist Spieltheorie und was hat das mit der Flüchtlingskrise zu tun? Spieltheorie ist einerseits eine mathematische und rhetorische Anleitung, wie man Gesellschaftsspiele gewinnen kann. Andererseits modelliert sie Entscheidungssituationen, in denen mehrere Personen beteiligt sind – und gibt Aufschluss darüber, wie man in jedem Fall eine möglichst rationale (wenn auch egoistische) Entscheidung treffen kann. Im Kalten Krieg beschäftigten sich die Amerikaner mit der Spieltheorie, um ihre Strategie für einen Nuklearkrieg zu finden. Und auch die heutige Politik aus Sicht nationaler Interessen kann durch sie analysiert werden.

Dabei müssen wir gar nicht tief in die Materie eintauchen und großartig rumrechnen. Denn das „Spiel“ mit den Flüchtlingen ist ein ganz einfaches: Eine rationale Kosten-Nutzen-Entscheidung. Flüchtlinge fliehen, weil der Nutzen einer potentiellen Aufnahme in Europa die relativ sicheren Kosten eines Todes in Syrien bei weitem übersteigt. Deshalb treffen so viele von ihnen die rationale Entscheidung, ihr Glück zu versuchen.

Spätestens in Ungarn angekommen, stehen sie vor einer neuen Situation („Teilspiel“). Sie können dort bleiben, oder nach Österreich weiter. Hier kommt allerdings dazu, dass im Falle einer Weiterfahrt nach Österreich als schlimmstes Szenario die Rückführung nach Ungarn droht – oft das erste sichere EU-Land, das sie betreten haben. In diesem Fall gibt es – zumindest für Kriegsflüchtlinge – wenig zu befürchten. Erneut riskieren sie alles und pferchen sich in LKWs über die Grenze zum Burgenland. Oft natürlich auch weiter als nur nach Österreich.

Foto: Peter Murphy, AFP

Warum der „Kampf gegen die Schlepper“ eine schlechte Idee ist

Die Politik dürfte das nicht nur wissen, sondern auch verstehen. So schwer ist das immerhin nicht: Wenn der Nutzen die Kosten übersteigt, ist eine Entscheidung rational. Und da die Politik genau das versteht, erhöht sie die Kosten. Der „Kampf gegen Schlepper“, so scheint die Überlegung zu lauten, soll Schlepperei endgültig unterbinden. Aus spieltheoretischer Sicht hapert’s dieser Plan an zwei Stellen.

Nummer Eins ist, dass die Drohung nicht die glaubwürdigste ist. Eine optimale Situation für Österreich und Europa – bzw. für die „nationalen Interessen“ dieser Regierungen – wäre, wenn die Schlepper dieser Drohung glauben würden und aufhören würden, es überhaupt zu versuchen. Das wird allerdings nicht der Fall sein – denn wenn ein Schlepper es nun schafft, ändert sich wenig an der Situation. Mehr Flüchtlinge in Österreich. Ob man den Schlepper dann noch härter bestraft, ist für das Ergebnis wenig relevant – die Innenministerin kann nur Exempel statuieren, die ihre Drohung zumindest halbwegs bekräftigen. Dabei geht es allerdings nicht darum, Schlepper zu bestrafen. Es geht einfach darum, sie im Voraus abzuhalten.

Nummer Zwei ist, dass, selbst wenn die Innenministerin ihre Drohung wahrmacht, sie damit die Zustände sogar noch verschärft. Flüchtlinge treffen eine rationale Entscheidung, wenn sie sich auf einen Schlepper einlassen – zumindest, solange es keine legalen Alternativen gibt. Den Scheppern wiederum winkt dadurch, dass es nun weniger gibt und das Angebot sinkt, ein höherer finanzieller Nutzen – er kann mehr Geld verlangen, da es weniger Alternativen zu ihm gibt. Auch er trifft eine rationale Entscheidung, sofern er risikofreundlich genug ist.

Gleichgewicht

Und so wird es auch weitergehen. Schlepper werden nach wie vor über die Grenzen fahren und Flüchtlinge in teils verheerendem Zustand wie Vieh transportieren. Massentierhaltung auf menschlich. Die Innenministerin wird das wiederum registrieren. Aber wird sie ihre Strategie ändern?

Wohl eher nicht. Denn wenn sie einseitig von ihrer Strategie „Kampf gegen Schlepper“ abweicht, kommen ja umso mehr Schlepper. Wenn diese wiederum von ihrer Strategie „trotzdem versuchen“ abweichen, entgeht ihnen finanzieller Gewinn, der immer größer wird. Das Geschäft wird durch die Politik der Innenministerin ja lukrativer. Somit ist es für beide Seiten irrational, (einseitig) von ihrer Strategie abzuweichen. Das nennt man in der Spieltheorie ein „Nash-Gleichgewicht“. Beide Parteien können davon ausgehen, dass die andere Seite ihre Strategie maximal aktualisiert, jedoch nicht ändert.

Ausblick

Ja, es ist nicht immer gut, so ein Gleichgewicht. Vielleicht ist es auch nur zynisch, Politik durch Spieltheorie zu beschreiben. Was ich aber gelernt habe: Es funktioniert. In einem Essay für die Uni habe ich vor kurzem die Weltklimakonferenz Ende des Jahres in Paris spieltheoretisch analysiert – und ich glaube, das Ergebnis zu kennen und begründen zu können. Das wird wiederum zu einem anderen Zeitpunkt veröffentlicht. Aus realistischer Sicht – alle Akteure haben ihre egoistischen Interessen zu verfolgen – ist die Spieltheorie sinnvoll, obwohl sie Menschlichkeit ausklammert.

Was also tun mit unserem Gleichgewicht in der Flüchtlingskrise? Nun, ein Gleichgewicht kann man nur brechen, wenn man ein besseres Gleichgewicht schafft. Man müsste für beide Seiten Anreize setzen, von ihrer momentanen Strategie abzuweichen. Legale Möglichkeiten für die Einreise wären ein Ansatz – so hätte Österreich eine bessere Kontrollmöglichkeit und Planungssicherheit, und gleichzeitig würde sich das Geschäft der Schlepper dramatisch verschlechtern. Zudem würde das Leid der Flüchtlinge gesenkt. Selbst, wenn das der Innenministerin egal ist – gute Schlagzeilen dürften ihr in solchen Zeiten umso wichtiger sein.

Dagegen sprechen allerdings mehrere Gegebenheiten. Wenn nur Österreich legale Einwanderungsmöglichkeiten schafft, wird es (diesmal wirklich) zum „Zielland Nummer 1“ und mit den Flüchtlingsströmen irgendwann nicht mehr fertig. Man sieht ja schon jetzt die Überforderung. Für die anderen EU-Staaten, die den Mehraufwand meiden wollen, ergibt es aus realistischer Sicht wiederum nur Sinn, solchen Möglichkeiten nicht zuzustimmen – sollen das doch die anderen machen. Das Vereinigte Königreich ist ein Beispiel – obwohl natürlich viele die englische Küste ansteuern, putzt sich die Monarchie ab und überlässt Südeuropa die Arbeit. Fair ist das nicht.

Außerdem kann sich die Politik nicht sicher sein, wie Flüchtlingspolitik von einer kritischen Bevölkerung beurteilt wird. Genauso, wie vielen ihre Maßnahmen nicht human genug sein können, finden viele, ein Pro-Flüchtlings-Kurs sei generell der falsche Ansatz und es brauche Grenzkontrollen – die wiederum das oben genannte Gleichgewicht befeuern würden.

Es ist schon eine schwierige Situation, diese Flüchtlingskrise. Doch wie immer, wenn man eine realistische Lösung erzielen will, gilt es auch, an den Eigennutz aller zu appellieren. Denkt daran, wenn ihr bei der heutigen Demo um 18:30 Uhr am Christian-Broda-Platz eure Forderungen formuliert.

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Dieter Knoflach

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