Inmitten all der Nachrichten über Terror, Krieg und Flucht, kurz vor Beginn des kollektiven Fußballtaumels dank EM, ist still und leise und von den Medien weitestgehend ignoriert, ein Gesetzesentwurf von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) eingereicht worden, der Medikamententests an Demenzkranken zulassen will. Hierbei handelt es sich keinesfalls um die Erkrankten im Anfangsstadium, die noch ein gewisses Maß an Krankheitseinsicht hätten, juristisch damit als „einwilligungsfähige Erwachsene“ gelten könnten. Hier sollen die Menschen für Medikamentenstudien herangezogen werden, die aus den Studien selber keinen Nutzen mehr ziehen können und schon gar nicht einwilligungsfähig im juristischen Sinne sind.

Von „Gruppennützigkeit“ ist hier die Rede. Was so euphemistisch zur sozialen Wohltat umgedeutet wird, bedeutet den Bruch mit bisherigen Grundrechtsverständnissen.

Denn bisher galt: Nur wenn der Betroffene einen direkten Nutzen aus einer Medikamentengabe ziehen könnte, wäre eine solche überhaupt erst möglich. Und selbstverständlich musste der Betroffene im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten auch bewusst einwilligen können.

Nun soll dieser Schutz vor fragwürdigen Experimenten am Menschen wegfallen und Betreuern die Möglichkeit geben, anstelle ihrer unmündigen Schützlinge einzuwilligen. Wer sich in der Vergangenheit mit den unzähligen Fällen von innerfamiliärem wie auch staatlichem Missbrauch von Pflegevormundschaften befasst hat wird verstehen, welcher Willkür damit Menschen ausgeliefert sind, die nicht mehr für sich entscheiden, für sich sprechen können.

Wie Frau Gesine Palmer in der Welt richtig bemerkt:

„…Wie das im konkreten Fall aussehen kann – das können Sie sich bitte selbst ausmalen. In Filmen und Büchern kommen die pflegenden Angehörigen von Dementen regelmäßig an ihre Grenze – und dann wird alles wieder gut, wenn der Gepflegte sein dankbares Lächeln sehen lässt. Im richtigen Leben gibt es schon unter Angehörigen selten eine Liebesgarantie – und oft genug nicht einmal Angehörige.

Da hat dann ein staatlich bestellter Betreuer mehrere Fälle, um die er sich eher nüchtern kümmert – und das tut er selten ohne einen interessierten Seitenblick auf Zusatzverdienste. Kirchen, die ja eigene Pflegeeinrichtungen betreiben, wissen das nur zu gut. Darum haben sie in einem bemerkenswert schnell und gründlich gearbeiteten gemeinsamen Papier ihre berechtigten Bedenken so formuliert, dass es die Ministerialen und die Bundestagsabgeordneten, die über diese Gesetzesänderung entscheiden sollen, gut verstehen können.

Bisher regt sich gegen diesen Vorschlag außer von Seiten der Kirche und von Behindertenverbänden kein Widerstand. Ganz im Gegenteil verteidigt Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) den Plan, die Möglichkeiten für Arzneimitteltests an Demenzkranken auszuweiten:

„…In der alternden Gesellschaft nähmen Demenzerkrankungen stark zu, sagte die Ministerin der Zeitung zufolge weiter. Deshalb sei die Entwicklung von Medikamenten ein wichtiges Ziel. "Personen in einem späten Zustand der Demenz reagieren anders auf Medikamente als Patienten, die noch in einem Frühstadium sind", erklärte Wanka: "Es ist ein selbstverständliches Anliegen, die Schutzinteressen der Betroffenen zu wahren – und dies mit allem Nachdruck…."

Womit Frau Wanka sicherlich Recht hat ist die Tatsache, dass Medikamentenentwicklung ein wichtiges Ziel ist und bleiben muss. In keinem Falle jedoch rechtfertigt ein berechtigtes Interesse an Medikamentenentwicklung Tests an Personen, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Zustimmung oder Ablehnung zu artikulieren. Hier werden schlicht Grundrechte ausgehebelt. Basis für die Gesetzesänderung sollen Patientenverfügungen werden, in denen Menschen im Vorfeld noch im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten klinischer Forschung zugestimmt haben. Bevor nun eifrig genickt wird sei gesagt:

Die Patientenverfügung (die übrigens jeder zeitig formulieren und fertigstellen sollte), regelt alle Eventualitäten im Detail. Punkte, die nicht explizit aufgeführt werden, haben auch keine Geltung. Für Interessierte hier ein kleiner Einblick. Wer also z.b. einwilligt, nach seinem Tode der Forschung zur Verfügung zu stehen, hat damit noch lange nicht eingewilligt, noch zu Lebzeiten Versuchskaninchen zu spielen. Auch für Demente hat diese Rechtssicherheit zu gelten. Wer in Organspenden einwilligt, der hat noch immer das Recht auf jede Form der menschenwürdigen Grundversorgung und Hilfeleistung bis zu seinem (klinischen) Tode. Ebenso stehen auch Demenzerkrankten alle verfassungsrechtlich geregelten Rechte zu. Die Würde des Menschen und das unbedingte Recht auf körperliche Unversehrtheit sind nur zwei davon.

Übersetzt heißt das: Selbstverständlich wäre es theoretisch möglich, in Zeiten der Entscheidungsfähigkeit in Medikamententests im Falle von Demenz einzuwilligen. Dies müsste man aber explizit tun. Und selbst dann müsste in ethischer Hinsicht noch die Frage bestehen bleiben, ob der Betroffene zum Zeitpunkt seiner Einwilligung ausreichend absehen konnte, wie das Leben mit Demenz sich dann tatsächlich gestaltet. Also: Kann einem (möglicherweise noch jungen) Menschen überhaupt ausreichend bewusst sein, wie ein Leben mit Demenz als Versuchskaninchen sich letztendlich anfühlt, kann er die Konsequenzen ohne Eigenerfahrung überhaupt realistisch erfassen und abschätzen? Auch, wie zeitnah die Verfügung erstellt wurde und ob diese damit überhaupt noch eine Berechtigung hat, wäre zu beantworten. Das Hauptproblem ist jedoch, dass ein Mensch, der möglicherweise seine Einwilligung gegeben hat und dann diese Erfahrung macht, sich nicht mehr ausreichend zur Wehr setzen und seine vormalige Entscheidung widerrufen kann, falls er an der Gabe der Testmedikation Schmerzen leidet, feststellt, dass er diese doch nicht mehr wünscht oder gar daran zu sterben droht. Die fehlende Möglichkeit, diese Entscheidung zur Abkehr von früheren Entscheidungen zu artikulieren und damit rückgängig zu machen, macht die Idee der Medikamententests an Demenzpatienten so verwerflich. Und wir als Gesellschaft müssen uns selbstverständlich auch im Falle einer früheren Einwilligung des Probanden fragen, ob die Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen der Tests mit unseren Grundrechten vereinbar sind.

Menschen mit Demenzerkrankung wurden seit Jahren von Staat und Gesellschaft vernachlässigt. Lange Jahre mussten Demente und Angehörige von Demenzerkrankten darum kämpfen, überhaupt angemessene Pflegeleistungen und Unterstützung in der Pflege zu erhalten. Die bis zum 01.01.2015 geltenden Gesetze sahen eine Genehmigung diverser Pflegestufen erst bei massiven physischen Einschränkungen vor. Demenzerkrankte galten damit als Personen mit eingeschränktem Leistungsanspruch. Das Pflegestärkungsgesetz sollte dies ändern und Demenzerkrankten endlich die gleichen Rechte und Ansprüche gewährleisten, wie sie physisch Eingeschränkten zustehen.

„…Das neue Begutachtungssystem und die neuen Pflegegrade werden vom 1. Januar 2017 an eingeführt, um Pflegekassen und Einrichtungen genügend Zeit zur Umstellung zu geben. Verbesserungen für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen treten bereits zum 1. Januar 2016 in Kraft. So wird etwa die Beratung verbessert, der Pflege-TÜV wird überarbeitet, und Pflegekassen werden zu gesundheitsfördernden Maßnahmen in Pflegeheimen verpflichtet…“

Da die Neuausrichtung der Pflegestufen zugunsten Demenzerkrankter noch nicht abgeschlossen ist, lässt sich noch kein Fazit hinsichtlich der Funktionalität der aktuellen Gesetzeslage und des Nutzens für die Erkrankten ziehen.

Mit dem eingereichten Gesetzesentwurf jedoch schickt Gröhe sich an, diesen „Meilenstein“, wie er den Umbau selbst nannte, zunichte zu machen, indem er mit Experimenten am nicht wehrhaften Patienten eine massive Entrechtung der Betroffenen vorantreibt. Denn nichts anderes ist die Freigabe nicht einwilligungsfähiger Menschen zu Tests, die für die Testpersonen selber nicht von Nutzen sind.

Die ursprünglich für Donnerstag geplante Beratung über den Gesetzesentwurf ist schließlich noch kurzfristig vertagt worden, weil letztendlich doch Stimmen innerhalb der großen Koalition laut wurden, die ethische Bedenken anmeldeten. Vom Tisch ist das Gesetz damit jedoch nicht.

Das große Vergessen, die Demenz, mit der mittlerweile 1,5 Millionen Betroffene und deren Angehörige leben, es trifft die Erkrankten doppelt.

Sieht man sich das mangelnde öffentliche Interesse am Thema und dem Gesetzesentwurf an, vergessen diese Menschen nicht nur.

Sie werden auch vergessen.

shutterstock/Ocskay Mark

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