Ich

Mir geht es beschissen. Ich habe das ganze Jahr hindurch Haltung bewahrt. Mir war klar, dass ich meinem Kind nicht helfen kann, wenn ich mich emotional zu sehr involviere. Daher habe ich mir verboten, mich hineinfallen zu lassen. Ich habe mir die Bilder im Kopf verboten, langes Nachdenken darüber, den Polizeibericht zu lesen, den gesamten Akt mit den Zeugenaussagen zu lesen. Ich wusste, dass ich mich nur mühsam aufrecht halten konnte und dass dieses filigrane Gebilde in Sekunden in sich zusammenfallen konnte. Also wischte ich – bis auf ganz wenige Ausnahmen, in denen ich mich verheerenden Gewaltfantasien hingab – alle intensiven Gedanken an M´s Vergewaltigung weg. Nur so konnte M ihren Gefühlen freien Lauf in meiner Gegenwart lassen und musste keine Angst davor haben, dass auch noch ihre Mutter belastet wird und unter dem Geschehenen zusammenbricht. Und nur so konnte ich weiter arbeiten. Beinahe immer ist es mir gelungen.

Die dissoziativen Zustände haben sich hinterhältig angeschlichen. Am Anfang dachte ich noch, es ginge um akuten Stress. Irgendwann hatten sie aber nichts mehr mit momentanen Situationen zu tun. Sie überfielen mich völlig unvermittelt, in der Nacht, im Auto, im Büro, während des Essens. Mittlerweile kann ich sie nicht mehr einordnen. Mein Neurologe hat mich auf Tabletten gesetzt und mir den Antrag auf Reha unterschrieben. Ich hoffe, die Bewilligung kommt bald. Ich bete, dass ich nicht lange auf einen Platz warten muss. Meine einzige Chance, die posttraumatische Belastungsstörung schnell wieder in den Griff zu bekommen, sehe ich in dieser 6wöchigen Therapie. Ich traue mich nicht, das Erlebte alleine aufzuarbeiten, während ich noch im Job funktionieren muss. Ich will auch nicht jetzt, wo es M. wieder besser geht, völlig eintauchen in meinen Schmerz. Mein Zustand ist ein Tanz auf dem Drahtseil. Ich spüre, wie kraftlos ich bin, wie ausgelaugt und traurig. Gleichzeitig spüre ich, dass ich den Gefühlen nicht nachgeben darf – noch nicht, bis ich in Sicherheit bin. Ich fühle mich wie ein Tier, das sich schwer verletzt einen geschützten Platz sucht und ihn nicht findet. Ich werde mit jedem Tag müder.

November 2015

M. geht nun wieder zur Schule. Sie ist sehr aufgeregt und stolz auf sich. Darauf, dass sie alleine hin und wieder zurückfahren kann, darauf, dass sie sich mit ein paar Leuten angefreundet hat, darauf, dass sie manchmal nach der Schule noch mit zu Starbuck´s geht, darauf dass sie in Latein die Beste ist. Sie hat einige Prüfungen bereits abgelegt, es geht in riesigen Schritten Richtung Matura.

6. Jänner 2016

Die Reha hat mir gutgetan, aber das Hauptthema wurde nicht angerührt. Dafür war – laut meiner Therapeutin – die Zeit nämlich zu knapp bemessen. Dafür hat sie an meinen anderen Baustellen großartige Arbeit geleistet und mein Lebensrucksack wurde um so viele Dinge erleichtert, dass sich das eine große Paket nun sehr viel leichter tragen lässt. Sie hat mir eine Traumatherapie ans Herz gelegt – mir und den Kindern. Und die werde ich uns auch gönnen, denn auch wenn im Moment alles ruhig erscheint, so spüren wir alle doch, wie sehr es unter der ruhigen Oberfläche brodelt. M will diese Therapie im Moment nicht machen. Sie sagt, sie muss sich auf ihre Matura konzentrieren und da kann sie es sich nicht leisten, gleichzeitig in ihr Trauma einzusteigen. Ich kann sie gut verstehen und ich bin so wahnsinnig stolz auf sie. Sie ist letztendlich nicht zerbrochen. Sie hat sich hochgerappelt und sich wieder ins Leben gekämpft und sie ist stärker als jemals zuvor.

Aber manchmal, wenn ich sie von der Seite beobachte, wenn sie am Freitagabend über den Büchern sitzt und lernt, anstatt sich mit Freunden zu treffen – dann spüre ich noch immer das aufkommende Schluchzen in meinem Hals. Denn die Unbeschwertheit , die sie früher so bezaubernd lachen ließ, die ist weg. Sie verschwand zusammen mit dem Sommer 2014 und kommt vielleicht nie mehr zurück.

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