Als der Sommer verschwand, Teil 1

Geschrieben unter Pseudonym - die, die mich kennen, wissen schon - es geht um den Schutz meiner Tochter. Bitte derzeit weder Twittern, noch auf FB teilen.

Als der Sommer verschwand - Tagebuch einer Verarbeitung

Sonntag, 29.06.2014

Zurück in Wien! Nach zwei Wochen auf der wunderbaren Insel Korsika, bin ich noch voller sommerlich-leichter, duftender Eindrücke. Trotzdem freue ich mich auf daheim, die Kinder. Es war das erste Mal, dass ich so lange ohne sie Urlaub gemacht habe. Hoffentlich hatte sie ihr Vater ordentlich im Griff, sie sind Meisterinnen darin, ihn um den Finger zu wickeln.

Montag, 30.06.2014

Meine Tochter erzählt mir am Abend von einer 2 Wochen zurückliegenden Vergewaltigung durch 4 Burschen im Alter von 19-22 Jahren. Sie war betrunken, so sehr, dass sie sich nicht mehr rühren konnte und auch nur bruchstückhafte Erinnerung an den Vorfall hat. Nur Alkohol? Ich bezweifle das, aber nun ist es zu spät, um etwas anderes nachzuweisen. Bei ihrer Schilderung breche ich in Tränen aus. Sie selbst ist seltsam ruhig. Sie erklärt mir ihre Strategie: Nichts ist passiert, sie vergisst es einfach, sie schafft das schon. Bitte keine Anzeige, ich bin selbst schuld, warum musste ich so viel trinken, vielleicht habe ich mich nicht genug gewehrt – ich habe zwar nein gesagt, aber ich habe ja nicht alles mitbekommen, sie sind nicht schuld – ich bin es. Dann fängt sie an zu weinen. Sie möchte auch, dass ich ihr psychologische Hilfe zur Verarbeitung suche.

Erst nach zwei Stunden kapiere ich die Sache in ihrer gesamten Dimension. Mein Kind wurde zutiefst verletzt und gedemütigt. Was soll das heißen – keine Anzeige? Und die Täter leben glücklich, als wäre nichts geschehen, weiter in ihren Familien? Deren Familien haben einen entspannten Sommer mit ihren tollen Söhnen? Nur bei uns bricht das Chaos aus? Nur meine Tochter soll eine der schwierigsten Zeiten ihres Lebens durchmachen?

In meinem Kopf dreht sich alles. Ich will sie umarmen, sie am liebsten wieder in meinen Körper stopfen. Dorthin, wo sie herkommt und in Sicherheit ist. Aber sie gibt mir zu verstehen, dass sie das Thema gerade nicht endlos besprechen will. Sie will ihre Ruhe. Ich muss sie respektieren, aber in mir tobt ein Sturm, der emotionale Verwüstung hinterlässt.

Dann denke ich, ich bin doch ihre Mutter, ich bin erwachsen, ich muss die Sache in die Hand nehmen und ihr mitteilen, wie es weitergeht. Ich gehe also zu ihr und teile ihr meinen Entschluss mit, dass in jedem Fall Anzeige erstattet wird. Sie weint. Nein – kein Aufsehen, bitte nicht. Die Männer haben sich entschuldigt, einer hat ihr sogar via Facebook geschrieben, dass sie alle nicht mitbekommen haben, dass sie nicht will. Und sie solle jetzt keinen Aufstand machen, sonst würde sie ihr blaues Wunder erleben. In ein paar Tagen wäre alles vergessen, in ein paar Monaten würden sie gemeinsam darüber lachen.

Ich zerbreche innerlich.

Dienstag 01.07.2014

Ich habe heute in der Beratungsstelle „Frauen beraten Frauen“ angerufen. Ich konnte kaum klar denken und ihnen erzählen, was passiert ist. Das Weinen hängt mir ständig im Hals. Sie haben für mein Kind eine andere Stelle genannt. Tamar soll viel Erfahrung mit missbrauchten Mädchen haben, aber die sind heute nicht mehr erreichbar. Dann haben sie mir einen Termin in zwei Wochen gegeben. Sie wollen auch mich begleiten. Für heute kann ich nichts mehr tun, das ist das Schlimmste. Dasitzen und warten. Auf morgen, wenn ich Tamar anrufen kann. Auf den Termin in 14 Tagen. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann, sonst drehe ich durch. Was ist zu tun? Wie kann ich meiner Tochter helfen? Was ist richtig?

M war heute mit ihrer besten Freundin im Krankenhaus. Sie wollte mich nicht dabei haben, aber die Untersuchung ist wichtig. Wir müssen sicher gehen, dass sie keine Krankheiten hat. An die andere Möglichkeit will ich gar nicht denken – bitte nicht.

Mich wundert, dass das Krankenhaus nicht sofort Anzeige erstattet hat. Müssen die das nicht eigentlich? Auf dem Untersuchungszettel steht nur drauf, dass eine Anzeige empfohlen wird. Naja, ich kann mir schon vorstellen, wie das gelaufen ist. M hat sich sicher geweigert.

Mittwoch, 03.07.2014

Ich sitze wie auf Nadeln. Es wird und wird nicht 13 Uhr. Ab da hat Tamar geöffnet. Als ich dort anrufe, muss ich schon wieder weinen. Ich bekomme einen Termin für nächsten Montag. Ein Informationsgespräch. M muss nicht reden, wenn sie nicht möchte. Wir sollen die Kleidung von diesem Tag aufheben, sagen sie. Und dass wir uns ansehen, ob eine Anzeige überhaupt noch Sinn macht. Sinn? Ich will, dass die Täter, die das meiner Tochter angetan haben, verurteilt werden. In meinem Kopf ist nur Chaos.

Am Abend ist H da, M´s beste Freundin. Sie, die M erst mit diesen Leuten bekannt gemacht hat. Sie, die meine Tochter ins Waldviertel gelotst hat, wo das Schreckliche passiert ist. Ihr fester Freund ist einer der Vergewaltiger, aber sie hat nicht Schluss gemacht. Meine Wut auf dieses Mädchen steigt ins Unermessliche. Sie sitzt da und heult, weil ihr Freund sie „betrogen“ hat. Und mein Kind sieht sie als beste Freundin. Ich gehe raus auf den Balkon zu den beiden und spreche mit ihnen. Beide weinen. Ich mache ihnen klar, dass wir die Täter anzeigen müssen. H nickt und weint. Sie erzählt mir, dass sie versucht hat, die Jungs von M runter zu ziehen, es aber nicht geschafft hat. Dass sie ihnen gesagt hat, sie sollen sie in Ruhe lassen. Dann ist sie schlafen gegangen, weil ihr schlecht war. Auch sie war sehr betrunken. Der Unterschied ist nur, dass sie durch ihren Freund beschützt war. Sie schreibt mir die vollständigen Namen der Täter auf einen Zettel, sagt, dass sie M beistehen wird und alles bei der Polizei aussagen wird, was sie gesehen hat. Dann weint sie wieder und fragt, ob es wirklich nötig ist, dass ihre Eltern von der Sache erfahren. Ihre Mutter würde sie umbringen, meint sie. Mein Kind hatte auch niemanden, der es beschützte. Ich würde sie so gerne rauswerfen, aber meine Tochter braucht sie. Das Erlebte vereint sie. Ist denn gar nichts mehr normal in dieser Welt?

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