Als der Sommer verschwand, Teil 8

30.10.2014

Einsamkeit

M. ist mittlerweile sehr isoliert. Ihre Freunde sieht sie nicht mehr, denn dazu müsste sie Nähe ertragen können und das funktioniert nicht. Sie ist auch schnell erschöpft. Ein 10minütiges Gespräch strengt sie an wie eine zweistündige Mediation. Immer wieder schläft sie einfach mitten im Gespräch ein. Dafür sind die Nächte katastrophal. M. schläft keine 2 Stunden am Stück. Immer wieder schreckt sie hoch und weint. Manchmal werde ich von lauten Schreien geweckt, dann streichle ich ihre Wangen, bis sie wieder ruhig ist. Sie lebt immer noch in meinem Bett, dort fühlt sie sich sicher. Manchmal schlafen wir jetzt zu Dritt im Bett. Und manchmal schläft M. bei ihrer Schwester im Bett. Alleine hält sie es gar nicht mehr aus. Wenn sie bei ihrer Schwester schläft, schleiche ich mich nachts bis zu zwanzigmal in ihr Zimmer um mich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht.

Das Reden über das, was passiert ist, fällt mir immer schwerer. Ich spreche mittlerweile ausschließlich mit meiner besten Freundin oder der Therapeutin darüber. Ich habe keine Lust mehr, zu erklären und es ist angenehm für mich, wenn ich dort einsetzen kann, wo wir das letzte Mal aufgehört haben. Einige meiner ArbeitskollegInnen wissen Bescheid. Ich musste ja einen Grund für meine 4wöchige Freistellung angeben und natürlich hatte es keinen Sinn, etwas zu verschleiern, denn geredet wird immer. Meine KollegInnen sind unglaublich lieb mit mir, sie fragen nach, wie es uns geht, versichern mir immer wieder ihren Beistand. Trotzdem merke ich, dass das Wissen um die Katastrophe sie und mich überfordert. Sie wissen teilweise nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. Ich bin eigentlich niemand, der Privates hinausposaunt, gehöre eher zu den verschlosseneren Menschen. Daher lasse ich das Reden, es wird auch mittlerweile alles so komplex, dass ich zuviel erklären müsste und das strengt mich unheimlich an. Aber das Gefühl der Einsamkeit steigt auch bei mir.

Whiskey

Ich sehe im Internet das Foto eines 6monatigen Rüden. Er sieht ein bisschen aus wie ein Schaf, nur cognacfarben. Er hat wunderbare, grüne Augen und ich merke, dass es ein schwieriger Fall von Spontanverknallung ist. Zwei Wochen später holen wir ihn ab. Es handelt sich um einen Vizsla-Mix, unglaublich lieb und ruhig.

Als sich M. und Whiskey das erste Mal begegnen, ist es Liebe auf den ersten Blick. Whiskey ist von nun an ständig bei ihr. Sie redet mit ihm, liest ihm vor, er schläft bei ihr, er wacht über sie. Ihm flüstert sie ihre Gedanken und Gefühle ins Fell. Sie traut sich sogar raus mit ihm. Whiskey gibt ihr ein Gefühl von Sicherheit, das wir alle miteinander zu vermitteln nicht geschafft haben.

Whiskey gibt ihr eine Form von Nähe, die M. erträgt. Und langsam, ganz langsam merke ich, wie M. wieder weicher wird. Sie weint jetzt mehr, aber das ist gut. Der Dreck muss raus und es ist mir lieber, sie weint, als sie verharrt in diesem seltsam versteinerten Zustand, aus dem ich nichts und alles herausinterpretieren kann. Vielleicht geht es langsam bergauf, ich traue mich kaum, zu hoffen.

Mitte November 2014

Ich bin im Büro, als mich der Anruf von M`s Psychotherapeutin ereilt. Sie ist sehr besorgt um M. So sehr, dass sie mir rät, mit ihr zu einem Psychiater zu gehen und ihr Medikamente verschreiben zu lassen. Sie bestätigt mir im Grunde nur, was ich mir selbst seit einigen Tagen denke. Nur nehmen die Gedanken jetzt, wo es auch die Therapeutin ausspricht, dramatische, realistische Formen an. Noch während ich mit ihr telefoniere, geht ein anderer Anruf ein. Ich sehe, dass es M ist und wechsle die Leitung. Sie schreit. Schreit und weint ins Handy, dass sie nicht mehr will. Eigentlich hätte sie in einer Stunde Therapie, aber sie schafft es nicht mehr, aus dem Haus zu gehen. Ich lasse alles stehen und liegen, springe ins Auto und rase nach Hause. Während der ganzen Fahrt werde ich von Weinkrämpfen durchgeschüttelt. Ich habe Angst! Nun ist es also soweit – ich werde mein Kind in die geschlossene Psychiatrie bringen müssen.

Die Psychiaterin im Krankenhaus möchte M stationär behalten. M hat seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen und ist in einem erbärmlichen Zustand. Beide versuchen wir, M davon zu überzeugen, dass es gut für sie wäre, wenigstens ein paar Tage dort zu bleiben, aber sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Sie will nur heim, dorthin, wo sie sich sicher fühlt. Vielleicht sollte ich ein Machtwort sprechen, aber ich schaffe es nicht. Also vereinbaren wir eine engmaschige, ambulante Betreuung. Mit einem Rezept für Seroquel und Trittico verlassen wir die Station.

M hat nun zusätzlich zu den wöchentlichen Therapiestunden bei Tamar auch Termine auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wir wollen ein psychiatrisches Gutachten, um es der Staatsanwaltschaft vorlegen zu können. Es sind einige Termine notwendig, um dieses, doch recht aufwändige Gutachten, zu erstellen. Und jedes Mal ist eine andere Ärztin für sie zuständig, jedes Mal wieder kann sie jemand anderem erzählen, warum sie hier ist. Sie tut mir so leid.

Immer wieder fragt mich M, ob ich denke, dass die Anzeige etwas bringt. Und immer wieder antworte ich ihr, dass sie das Richtige getan hat, es aber sein könnte, dass das Verfahren eingestellt wird aus Mangel an Beweisen. Ich muss ihr das sagen, weil es nicht auszudenken wäre, sollte dieser Fall eintreten und sie unvorbereitet treffen. Aber ich glaube daran, dass die Gerechtigkeit siegt, muss daran glauben, weil sonst alles hoffnungslos und vollkommen absurd wäre. Es muss einfach so sein, weil das, was passiert ist, Realität ist und M die Gelegenheit haben will, das vor Gericht in aller Deutlichkeit zu sagen.

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fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 25.04.2016 22:18:04

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