Mit dem Lebensmenschen war ich vor einigen Wochen in der Oper, im MiR. Gespielt wurde „Don Pasquale“, Donizettis komisches Drama über das Problem, dass das letzte Hemd keine Taschen hat und kein Bourgeois den zusammengerafften Reichtum ins Himmelreich mitnehmen kann, das ihm die Chefideologen des Christenthums versprechen. Don Pasquale möchte das Problem dadurch beheben, daß er, mit 70, auf den letzten Lebensmetern noch heiratet und Erben zeugt, doch scheitert er mit diesem Plan.

Die Dramaturgin aber, die die Fabel und die Schwerpunkte der Inszenierung erklärte, versprach, dass auch das brandaktuelle Thema „cancel culture“ behandelt werde, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich sah keine Hinweise auf verbotene Winnetous oder rausgeschmissene TERFs. Ich nehme das als Bestätigung meiner These, dass die ganze cancel- eine vor allem eingebildete culture ist.

Am selben Sonntag sendete die „Achse der Guten“ einen Podcast „Willkommen im Cancel Culture Club“, der davon handelte, dass „Menschen (…) aufgrund Ihrer Meinungen gemobbt, von Veranstaltungen ausgeladen, niedergebrüllt und sogar körperlich angegriffen“ werden. Moderiert wurde die Sendung von Gerd Buurmann, der auf seinem Blog „Tapfer im Nirgendwo“ gerne unliebsame Kommentare löscht (ich weiß, wovon ich spreche), sich aber nun mit seinen Mitdiskutanten einig war, dass bereits öffentliche Proteste – zum Beispiel durch die Antifa oder gegen transfeindliche Positionen – zur „cancel culture“ zählen. Dabei kam es zu dem bemerkenswerten Statement, dass Buurmann mehr Angst vor dem Koran als vor dem Parteiprogramm der AfD habe, was einerseits lediglich dumm ist, da er offenbar verschiedene Textarten nicht auseinanderhalten kann, andererseits aber die Zuhörerschaft erfreuen wird, von der man annehmen darf, dass ihre Sympathien für die AfD größer sind als die für die Antifa.

Einer der Diskutierenden (wenn man überhaupt ein Gespräch als Diskussion bezeichnen will, das es sich im Konsens bequem machte) war der Gründer der Seite cancelculture.de, die dokumentieren möchte, „wie diese konformistische und zensorische Kultur unseren Alltag prägt, Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt bedroht und so der Demokratie schadet“. Dort finden sich dann Fälle wie der von Lisa Eckhart, die wöchentlich im TV auftritt, von Harald Martenstein, der beim Tagesspiegel kündigte, als der einen seiner Artikel nicht online stellen wollte, oder der bizarre Rücktritt vom „Amt als Beisitzer im Vorstand der Wittgensteiner Kunstgesellschaft“, weil eine Stadtbibliothek sich weigerte, das Buch eines Selbstverlagsautors geschenkt zu bekommen. Nicht zu vergessen die Querelen um das angebliche Canceln „Winnetous“ (https://angenehmwiderwaertigzugleich.home.blog/2022/08/27/winnetou-bitte-noch-mehr-canceln/) oder die Umdichtungen von Schlagertexten, die das Missfallen des Schlagertexters Dehm erregten, welcher prompt eine „Verschandlung eines geschützten künstlerischen Werks“ witterte.

Besonders heftig sieht sich der deutsche Großdichter Uwe Tellkamp von der Cancel culture gejagt, was er, wie der Deutschlandfunk berichtete, Anfang März auf einer Veranstaltung in der Dresdner Frauenkirche beklagte: „Bereits mit Blick auf die gestiegene Zuwanderung 2015/2016 hätten Kritiker im übertragenen Sinne „sofort eins drüber gekriegt“, führte Tellkamp aus. Das setze sich nun bei Energiewende, Klimawandel und Gendern fort.“ Tellkamp sagte das übrigens während einer Live-Übertragung, die ermöglicht wurde „durch eine Förderung der KULTURGEMEINSCHAFTEN mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, NEUSTART KULTUR, der Kulturstiftung der Länder und KULTUR.GEMEINSCHAFTEN“ (Majuskeln im Original). Das ist sicherlich eine völlig neue Dimension der „cancel culture“: Man lässt sich nicht mehr nur ausladen oder niederbrüllen, sondern sogar bezahlen.

„Cancel culture“ ist ein Leermorphem, eine rechte Chimäre wie ähnlich nichtssagende Begriffe („Wokismus“, „political correctness“, „Gutmensch“ ), und wird gerne von Leuten beklagt, die eigentlich froh sein sollten, dass man den Stuss, den sie von sich geben, überhaupt ernst nimmt.

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Aron Sperber

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