Als ich noch zur Schule ging, hatte ich einen Professor, dessen undankbare Aufgabe es war, in unseren hohlen Köpfen ein erstes Feuer zu entfachen.

Und der daran kläglich scheiterte.

Eines Tages erzählte er voller Begeisterung von einem Buch, das die Welt aus der Sicht eines Katers schilderte. Und davon, wie sehr es ihn beeindruckt hatte und wie lustig es im Grunde war.

Und wir saßen einfach da, mit unseren jugendblinden Augen, und starrten ihm höhnisch ins Gesicht.

Ich weiß noch, wie sein Lächeln gefror und er sich schließlich abwandte, einsam und allein.

Vielleicht war es das erste Mal, dass wir die berauschende Macht unserer Jugend spürten und die Kraft, die im nicht Wissen Wollen liegt.

Und vielleicht war das damals schön.

Doch heute tut es mir in der Seele weh, nur daran zu denken.

An den alten Mann, wie er dort stand.

Vor ihm eine Mauer des Schweigens.

Feindlich.

Und gemein.

Jahre später, ich war schon lange aus der Schule, entdeckte ich das Buch bei einem Trödler. Fleckig, mit Eselsohren und in der billigsten Ausgabe, die man sich denken kann.

Es war die Zeit, in der jeder mit seiner Vergangenheit bricht und alles von sich wirft, was er einmal war.

Für mich war es ein stiller Protest gegen meine eigene Jugend und die Freunde, die nicht mehr waren, dass ich das Buch heimlich zu mir steckte und dann ging.

Zuhause warf ich es auf einen Stapel und hätte es fast vergessen, bis es mir eines Abends vor die Füße fiel.

Ich begann darin zu blättern und las.

Und las.

Kennt ihr das, wenn ihr ein Buch aufschlagt und es euch plötzlich gefangen nimmt?

Ihr überfliegt die ersten Seiten, froh, bald das Licht zu löschen, doch nach ein paar Kapiteln, nach ein paar Worten nur, nimmt euch die Geschichte mit sich fort und plötzlich ist es drei Uhr morgens?

Und ihr wisst, es kommt ein schwerer Tag, ihr solltet eigentlich schlafen und euch ausruhen, aber diese eine Seite möchtet ihr noch lesen, nur dieses eine Kapitel noch.

Und plötzlich hört ihr das Zwitschern der Vögel und ihr wisst, die Nacht ist bald zu Ende und ihr erwacht aus eurem Traum.

So ist es mir damals mit dem „Kater Murr“ ergangen, dem einzigen lustigen Buch der klassischen Literatur, das neben Ch. Dickens „Pickwicker“ bestehen kann.

Es ist eine Wohltat vom Kater Murr und seiner Welt zu lesen. Den feinen Humor zu spüren, mit dem Hofmann spielt und mit dem er das Wesen der Menschen schildert und ihr Wirken in seiner Zeit.

Doch neben dieser wunderbaren Geschichte bietet uns Hoffmann noch eine zweite Erzählung an.

Denn aus Mangel an verfügbaren Papier hat der Kater Murr seine Beichte auf Blätter geschrieben, die er zuvor aus einem fremden Buche riss. Und der Drucker der Geschichte hat, aus Mutwillen oder purer Ignoranz, einfach beide Seiten drucken lassen und zu einem Buch gebunden.

Und so erhalten wir neben der Lebensgeschichte des Kater Murr auch noch Einblick in das Leben des Kapellmeisters Johannes Kreisler. Und dieses Buch nun ist voll mit skurrilen, derben Späßen und gleicht einem Parforceritt durch das Seelenleben eines genialen Künstlers.

Das ist die Grundform und die wahrhaft erfrischende Idee dieses Werkes.

Auf der einen Seite die Bildungsgeschichte eines feigen Philisters, am Leben eines Katers nacherzählt.

Und auf der anderen Seite die Seele eines Bürgerschrecks, eines gesellschaftlich unangepassten Künstlers und verkannten Genies, der mit wütenden Schritten durch die gepflegten Gärten seiner Zeitgenossen stapft.

Und doch, auch wenn das Buch durchgehend leicht und amüsant zu lesen ist, so beschreibt es doch einen tiefen Konflikt, der in allen fortgeschritten Zivilisationen zu finden ist und an dem so viele, vor allem junge Menschen, leiden.

Denn man kann sich nicht zugleich mit Flügeln aufschwingen ins Reich der Poesie und gebunden sein an die harte Scholle der Realität.

Oder, anders ausgedrückt, das Buch erzählt vom ewigen Zwiespalt des jungen Künstlers, der etwas Neues schaffen will und einer verknöcherten Gesellschaft, die nur darauf aus ist, das Alte zu bewahren.

Hoffmann bemüht dafür das Zweigespann Kater Murr und Johannes Kreisler.

Er zeigt den Kater als behäbigen Bürger, der nach einer kurzen Zeit des jugendlichen Übermuts einschwenkt in das gemütliche Fahrwasser des vorgegebenen Seins. Im festen Glauben, noch immer der verwegene und draufgängerische Held seiner Jugend zu sein.

Dagegen steht Johannes Kreisler, der geniale Künstler, der dämonisch schöpferische Mensch, dem das Leben der Anderen nur Spiel ist und Bühne, nur Material, aus dem er seine Träume webt.

Dem am Ende nur der Ausweg in den Wahnsinn bleibt, der Untergang seiner Seele, während der Philister weiter am warmen Ofen sitzt und sich die dicken Beine wärmt.

Und doch ist es ein Gespann, das sich gegenseitig bedingt und braucht!

Denn genauso verschlungen wie Künstler und Bürger seit Jahrhunderten sind, der eine als Material und Grundstoff allen Seins, der andere als mahnende Erinnerung an das leidende Selbst, genauso verschlungen ist auch dieses Buch.

Die Erzählung des wunderbaren E.T.A. Hoffmann.

Und heute verstehe ich auch das Lächeln meines Professors besser.

Denn ist ein Lehrer nicht ein seltsames Zwitterwesen? Mit einem Bein sich aufschwingend in der Welt der Künste und der freien Wissenschaft und mit dem anderen fest verwurzelt in der Hierarchie seiner Zeit?

Der er das Wichtigste schenken soll, das es gibt – einen vollständig gebildeten Menschen.

Wie sehr muss das an ihm gezogen haben.

Vielleicht war er in seiner Jugend selbst ein Künstler. Vielleicht hatte er geheime Träume, Sehnsüchte, ein stilles Lachen für die Verworrenheit unserer Welt. Für unsere Jugend, unsere Torheit und seine eigene Sehnsucht danach.

Vielleicht galt das erlöschende Lächeln gar nicht ihm selbst. Vielleicht galt es uns. Weil er sah, dass sich der Funke nicht mehr weitergeben ließ.

Eine Erfahrung, die jeder Lehrer machen muss.

Und die bitter ist, wie sonst nichts.

Aber vielleicht war er in Wirklichkeit auch nur ein feister Bürger wie der Kater Murr, der aus einer verknöcherten Bürgerseele heraus über unsere hochfliegenden Träume lachte und sich dabei eine blutige Nase holte.

Ganz so, als wäre ihm der Kater Murr ins Antlitz gehüpft.

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