Todesstrafe: Türkei disqualifiziert sich selbst

Die Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe entspreche dem Willen seines Volkes, meint der mittlerweile allmächtige türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Es wird wohl kaum ein Abgeordneter den Mut aufbringen, gegen den „Willen des Volkes“ zu stimmen.

„Die mehr als 300 Angeklagten erhalten hohe Haftstrafen, einige Ex-Generäle sogar lebenslänglich. Die Urteile zeigen, dass in der modernen Türkei nichts mehr ist, wie es einmal war. Die einst unantastbaren Militärs liegen nun am Boden.“ So die Journalistin und Autorin Çiğdem Akyol in ihrer Erdoğan-Biografie über den Abschluss der Ergenekon-Prozesse im Jahr 2013. Bei den fünf Jahre dauernden Verfahren verhandelten erstmals Zivilgerichte gegen Angehörige des Militärs.

Hinter dem sagenhaften Namen Ergenekon, laut Mythologie ein geheimnisvolles Tal in den Bergen Zentralasiens, verbirgt sich eine Gruppe von hochrangigen Offizieren, die angeblich einen Putsch vorbereitet haben. „Die Prozesse seien vor allem von der Gülen-Bewegung angeschoben worden, um mit den Gegnern abzurechnen. Ein sehr cleveres Vorgehen der Gülen-Bewegung, welche die von ihr infiltrierte Justiz dazu nutzte, um abzurechnen, und Erdoğan habe das eindeutig politische Verfahren unterstützt“, zitiert Akyol eine Studie des Türkei-Experten Gareth Jenkins.

Über 30.000 Türken wurden nach dem dubiosen Putschversuch vom 15. Juli 2016 verhaftet, gut 100.000 Beamte, darunter 13.000 Polizisten vom Dienst suspendiert. Diesmal stehen die Gülen-Anhänger im Visier von Recep Tayyip Erdoğan, der als Präsident des Landes offenbar niemandem mehr traut. Dass gerade in dieser Situation auf Betreiben von Erdoğan ein Gesetzesentwurf über die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Parlament kommt, dass der erste vom Volk gewählte Präsident der Türkei den Putsch als „Geschenk Allahs“ bezeichnet und die Säuberungswellen nur wenige Stunden nach dem gescheiterten Putschversuch los gingen, kann nicht einmal der naivste politische Beobachter als zufällige Chronologie der Ereignisse sehen. Auch wenn es Erdoğan war, der nur wenige Monate nach seinem ersten Amtsantritt als Ministerpräsident im Jahr 2003 die Todesstrafe abgeschafft hat.

Çiğdem Akyol im Kunstraum www.thurnhofer.cc

Tatsächlich war Erdoğan damals für Europa ein Hoffnungsschimmer in den islamisch geprägten Staaten. Die EU war sein erklärtes Ziel und sogar mit den Kurden hat er Gespräche zur Beilegung des jahrzehnte alten Konfliktes aufgenommen. „Im Juni 2004 kommt die kurdische Abgeordnete Leyla Zana aus der Haft frei. Sie war 1994 als Parlamentarierin der kurdischen Partei DEP zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden, unter anderem, weil sie vor dem Parlament in Ankara Kurdisch gesprochen hatte“, schreibt Akyol und erinnert daran, dass Erdoğan im Oktober 2004 in Berlin zum „Europäer des Jahres“ gekürt wurde. Ein Jahr später wurden die EU-Beitrittsverhandlungen aufgenommen und „trotz der Rückschläge in Sachen EU setzt Erdoğan auch in der neuen Amtszeit dieses Ziel ganz oben auf die Agenda.“ Übrigens: „um satte zwölf Prozentpunkte steigert seine AKP in den vorgezogenen Neuwahlen am 22. Juli 2007 ihr Ergebnis von 2002.“ Akyol weist auch darauf hin, dass er „dem Land auch die lange ersehnte Stabilität und den ökonomischen Aufschwung“ bringt.

Die Wende erfolgt mit seinen neuen politischen Zielen: „Im Jahr 2012 intensiviert Erdoğan die Vorbereitungen für seine Zukunft nach seiner Zeit als Premier, als Präsident einer Präsidialrepublik. Konkurrenten müssen deswegen aus dem Weg geräumt werden. … Mittlerweile ist AKP eine Erdoğan-AG. … Der Gezi-Sommer (2013) ist für Erdoğan der schon längst überfällige Dämpfer. Er kennt überhaupt kein Pardon mehr und lässt alle Masken fallen. … berauscht von der eigenen Macht und den Erfolgen hat er jedes Gespür für die Stimmung der Gesellschaft verloren. Sein Ziel lautet uneingeschränkte Macht...Sein Ton wird immer aggressiver, die Demonstranten beschimpft er wahlweise als Stümper, Marodeure, Lumpen … oder erbärmliche Nagetiere, die das Schiff, in dem sich 77 Millionen türkische Bürger befinden, zum Sinken bringen wollen.“

Von seinem amerikanischen Wohnsitz aus kritisiert Fethullah Gülen den damaligen Ministerpräsidenten. Aber warum der ehemalige Freund Erdoğans und mit ihm alle seine Anhänger heute unter Generalverdacht stehen, erklären folgende Ereignisse, die Akyol schildert: „Am 17. Dezemer 2013 führen Polizisten … Großrazzien durch. Den Durchsuchungen waren über ein Jahr lang währende Ermittlungen vorausgegangen – ohne Kenntnis der Regierung. Jetzt werden Dutzende Menschen festgenommen, darunter auch drei Ministersöhne und ein AKP-Bürgereister. Bei den Razzien werden Millionenbeträge gefunden – verstaut in Schuhkartons. Den Verdächtigen werden unter anderem aktive Bestechung, Betrug, Geldwäsche … vorgeworfen.“ Drei Minister müssen in Folge des Skandals zurücktreten. Für Erdoğan ein von langer Hand geplanter Schlag Gülens.

Dass nur einen Tag nach dem Putschversuch als erste Maßnahme fast 3.000 Richter entlassen werden, kann man mit diesem Hintergrund nur als Vergeltung verstehen. Oder, wie der Denkweise von Erdoğan wohl eher entspricht: die Rache des “tek adam“, des „Alleinherrschers“.

Çiğdem Akyol

Erdoğan. Die Biografie, 2016

ISBN 978 3 451 32886 2

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