Ich habe Tränen in den Augen, während ich diese Zeilen tippe.

Soeben habe ich das Video von dem verzweifelten, syrischen Vater gesehen, der wie viele andere mit seiner Familie in ein besseres Leben flüchten wollte, alles auf eine Karte gesetzt hat – und alles verlor. Heute musste Abdullah Kurdi seine Familie begraben. Das Foto seines toten Sohnes Ailan, der ertrank als das Flüchtlingsboot kenterte, auf dem die Familie saß, ging um die Welt und avancierte binnen weniger Stunden zum Symbol der Flüchtlingskrise.

Ich frage mich gerade, wer es schafft trockenen Auges zu bleiben, wenn Abdullah von dem Unglück erzählt. Ein Familienvater, der weinend davon berichtet, wie er versucht hat, seine Familie zu retten und zuerst den einen Sohn den Wellen überlassen musste, dann den anderen. Das zerreißt einem das Herz.

Doch es gibt Menschen, die sich über diesen Tod freuen können.

Nur ein Beispiel von einem deutschen Facebook-User: „Wir TRAUERN NICHT, sondern wir FEIERN ES! Nur ein Flüchtling, ein Flüchtling ist zu wenig: Das Meer hat schon mehr Flüchtlinge geschluckt!“

Ich ertrage diese Hasspostings und die Hetze im Netz nicht mehr. Ich dachte immer, dass meine Generation, der die Gräuel des Zweiten Weltkriegs permanent vor die Nase gehalten wurden, bestimmt nicht mehr zu derartigen menschlichen Untiefen abdriften kann.

Und dann das.

Was mich jedoch noch mehr verstört: Es gibt nicht nur Hassposter, die in brüchiger Grammatik ihren Trotz in das weite Web absondern, sondern durchaus professionelle Schreiber.

In den letzten Wochen musste ich oft genug sehen, dass zahlreiche Menschen auf Facebook Beiträge eines rechtspopolistischen Blogs teilten, die freilich keine Ahnung hatten, dass sie hier zu digitalen Marktschreiern einer fragwürdigen Gruppe wurden.

Das ist an sich schon schlimm genug.

Doch dann bemerkte ich, dass auch durchaus „seriöse“ Medien Artikel abdrucken und online verbreiten, die jeglicher objektiven Berichterstattung entbehren.

Besonders ein Artikel des Wochenmagazins „Die ganze Woche“ ist mir da aufgefallen. Er trägt den Titel „Asylanten dürfen bei uns stehlen“ und hat auf Facebook für große Entrüstung gesorgt. Dabei handelt es sich um eine Reportage aus der Gemeinde St. Georgen im Attergau, in dem die Flüchtlinge aus dem benachbarten Erstaufnahmezentrum Thalham angeblich ihr „Unwesen“ treiben.

In dem Artikel wird unter anderem der Bürgermeister Ferdinand Aigner zitiert: „Die Asylwerber bespucken Autos, Mütter fürchten sich, ihre Kinder alleine auf die Straße zu schicken, auch sexuelle Belästigungen der Frauen kommen vor. Kürzlich hat sich sogar das Zugpersonal unserer Lokalbahn darüber beschwert, dass ein Asylwerber randaliert hat, weil er nicht gratis mitfahren durfte. Und Diebstähle in unseren Geschäften gehören sowieso zur Tagesordnung.“

Auch eine anonyme Verkäuferin kommt zu Wort: „Weil die Diebstähle überhand genommen haben und den Flüchtlingen nicht beizukommen ist, haben wir bereits resigniert. Deshalb dürfen die Flüchtlinge Produkte im Wert von mehreren hundert Euro pro Monat stehlen.“

Die Vorwürfe gegenüber den Asylwerbern von Thalham waren so gravierend, dass ich sie selbst überprüfen wollte. Die Ergebnisse sind übrigens auch als Bewegtbild auf PULS4.com zu sehen.

Und siehe da: Der zitierte Bürgermeister Ferdinand Aigner erklärte mir gegenüber, dass es zwar Probleme mit Asylwerbern gäbe, der Artikel jedoch „völlig übertrieben“ dargestellt ist.

Die Polizei weiß nichts von „erlaubten Diebstählen“ und verzeichnet keinen Anzeigen-Anstieg in St. Georgen.

Und auch der REWE-Pressesprecher zeigte sich schockiert. Man habe gegenüber der Ganze Woche-Redakteurin nur von einem „leicht erhöhtem Schwund“ gesprochen und habe dabei keine Verbindung zur Situation in St. Georgen herstellen wollen.

„Überhaupt können wir den Tenor des Artikels nicht nachvollziehen weil unsere Mitarbeiter bei Bipa und Billa vor Ort das anders berichten. Warum die Redakteurin die Story dennoch in diese Richtung gebracht hat und woher sie ihre Informationen bezieht müssen Sie die Dame schon selbst fragen,“ so der REWE-Pressesprecher in seiner schriftlichen Stellungnahme.

Von der „Ganzen Woche“ habe ich übrigens auch nach mehrmaligem Nachfragen keine Stellungnahme erhalten.

Was bleibt also nach dem Gegencheck übrig: Was in dem Artikel der „ganzen Woche“ steht, stimmt teilweise nicht, oder ist absichtlich völlig übertrieben wiedergegeben worden.

Und das, obwohl sich „Die ganze Woche“ einem Leitsatz verschrieben hat, der auch auf der Homepage zu finden ist: „Kritisch gegenüber den Mächtigen. Hilfreich den Schwachen. Den Tatsachen verpflichtet.

Wäre schön, wenn sich die Redaktion diesen selbst verinnerlicht hätte.

Und nicht in Zeiten, in denen objektive Berichterstattung bei einem so polarisierenden Thema wie der Flüchtlingskrise wichtiger ist denn je, zusätzlich Öl ins Feuer gießt.

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Claudia Braunstein

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