Wunsch und Wirklichkeit (Teil 2)

Es ist unbestritten: Die Menschheit hat in den letzten hundert Jahren mehr Wissen erworben als sämtliche Generationen zuvor. Heute weiß man, dass Raum und Zeit nicht  schon seit ewigen Zeiten existieren, sondern im Urknall einen Anfang hatten. Relativitätstheorie und Quantenmechanik haben unser Weltverständnis grundlegend verändert. Es besteht auch kein Zweifel mehr, dass das Leben nicht durch einen einmaligen Schöpfungsakt, sondern durch Evolution entstanden ist. Was den freien Willen des Menschen und seine vermeintliche Selbstbestimmung anbelangt, so wurden diese von der Psychoanalyse Sigmund Freuds längst als Fiktion entlarvt. Heute wissen wir, dass das Verhalten des Menschen weitestgehend von unbewussten Prozessen gesteuert wird. Die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung unter der Führung maßgeblicher Neurologen wie Antonio R. Damasio und Gerhard Roth lieferte überzeugende Beweise für die Macht des Unbewussten und die eingeschränkte Willensfreiheit des Menschen. Von einer unsterblichen Seele, die den menschlichen Körper im Augenblick des Todes verlässt, ist ohnedies schon lange nicht mehr die Rede. Selbst das Leib-Seele Problem, welches den religiös-gesellschaftlichen Diskurs über so viele Jahre bestimmte, hat sich mittlerweile stillschweigend in Nichts aufgelöst.Dem zum Trotz hat der Aberglaube magischer Weltbilder der wissenschaftlichen Sichtweise bis heute nahezu unbeschadet standgehalten. Wenn Glaubensinhalte schon nicht beweisbar sind, so ist das intuitive "Für-Wahr-Halten" dieser Verheißungen, die Wahrscheinlichkeit, „dass es so sein könnte,“ doch die mindeste Voraussetzung für deren "Beglaubigung". Dort, wo Glaubensinhalte nicht einmal dieser primitivsten Form der Realitätsprüfung genügen, ja sogar nachweisbar unwahr sind, müsste ein Mensch, so sollte man meinen, doch die Bereitschaft haben, seine Sichtweise der Realität anzupassen. Doch wie die Alltagserfahrung zeigt, ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Die große Mehrheit der Menschen ist eher bereit, die Realität als ihre Überzeugungen in Frage zu stellen. Glaubensinhalte sind ganz offensichtlich unkorrigierbar. Weit davon entfernt, logisch ableitbar zu sein, zeichnen sie sich dennoch durch Unerschütterlichkeit und subjektive Gewissheit aus. Das Dogma der unbefleckten Empfängnis entbehrt ohne Zweifel einer rationalen Grundlage. Genauso wie die Annahme, dass beim Hochgebet der Messe Brot und Wein in das „Fleisch und Blut Christi“ verwandelt werden. Vom Standpunkt der menschlichen Logik ist es auch nicht nachvollziehbar, warum ein liebender Gott ein grausames Blutopfer braucht, um einen Erlösungsakt zu setzen. Möglich, dass sich die katholische Kirche bloß an der göttlichen Logik orientierte, als sie im Laufe ihrer Geschichte Millionen Unschuldiger durch Kreuzzüge, Zwangsmissionierungen, Glaubenskriege, Pogrome, Ketzer- und Hexenverbrennungen auf noch viel grausamere Weise hinschlachtete. Vielleicht, um der Menschheit ganz nach dem allmächtigen Vorbild die Frohbotschaft des Herrn zu überbringen. Gott opferte seinen Sohn, die kirchlichen Hirten ihre Schafe.Genau genommen sind weder die Inhalte dieser noch irgendeiner anderen religiösen oder esoterischen Richtung aus rationaler Sicht nachvollziehbar. Es sei denn, man akzeptiert die fraglichen Inhalte im übertragenen Sinn, als Metaphern von Inhalten des Unbewussten, was von den Glaubensgemeinschaften in seltener Einigkeit jedoch aufs Heftigste bestritten wird. Sie alle wollen, dass ihre Dogmen – einerlei ob es sich dabei um die Jungfräulichkeit der Gottesmutter, um den Aufstieg Mohammeds in den Himmel mit einem Elefanten, oder UFO-Sichtungen handelt - in der direkten, naturwissenschaftlichen Bedeutung geglaubt werden.Subjektive Gewissheit, Nichtableitbarkeit und Unkorrigierbarkeit treffen jedoch nicht nur auf Glaubenssysteme zu.  Nach dem Diagnosesystem ICD-10 sind sie auch die Leitsymptome der wahnhaften Störung. Die wahnhafte Störung, früher als Paranoia bekannt, ist „...charakterisiert durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern.“ Noch immer gilt es als anstößig,  Religion und Wahn im selben Atemzug zu nennen. Natürlich gibt es zwischen wahnhaften und religiösen Überzeugungen Unterschiede. Während wahnhafte Überzeugungen in der Regel individuell sind, haben religiöse meist kollektiven Charakter. Dennoch lässt sich die Ähnlichkeit zwischen Glauben, Wahn und Vorurteil, einem den beiden benachbarten Alltags-Phänomen, nicht so leicht von der Hand weisen. Grund genug also, um der Frage nachzugehen, ob diese Ähnlichkeit nur oberflächlicher Natur ist, oder ob zwischen Glaube, Vorurteil und Wahn nicht doch ein tiefere Wesensverwandtschaft besteht, die sich möglicher Weise sogar auf gemeinsame Wurzeln zurückführen lässt. Ohne Frage tritt die Realitätsverleugnung beim Glauben, Vorurteil und Wahn am deutlichsten hervor. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie sich auch auf diese Bereiche beschränkt. Die menschliche Fähigkeit Realität  durch Illusion zu ersetzen, zeigt sich überall im Alltag. Die Selbst- und Fremdwahrnehmung unterliegen ihr genauso wie unser Verständnis von Kultur und Natur. Sie ist die Voraussetzung für den Mythos von der Willensfreiheit des Menschen und seiner Überzeugung, die Krönung der Schöpfung, Ebenbild Gottes zu sein. „Rien ne vas plus“ – immer dann, wenn im Leben nichts mehr geht, kommt die Hoffnung ins Spiel.  Es kommt nicht von ungefähr, dass Glaube und Illusion in so enger Verbindung zur Hoffnung stehen und überall dort zur Entfaltung gelangen, wo die Realität unseren Wünschen und Sehnsüchten eine unerbittliche Grenze setzt. Hoffnung geben, Hoffnung leben ist eine der zentralen Botschaften zumindest der christlichen Religion. Ist es da bloß ein Zufall, dass sich der Begriff Wahn etymologisch aus dem mittelhochdeutschen „wen“ ableitet -  was so viel wie Hoffnung bedeutet? Eine spätere Verbindung mit dem mittelhochdeutschen „wan“ (leer) führt zur heutigen Bedeutung „leerer Wahn.“ Sind Glaube und Hoffnung daher nichts anderes als ein leerer Wahn, Trugbilder der Seele, die helfen sollen, die Realität dort zu verschleiern, wo ihre Versagung für den Menschen unerträglich wird?  Es lässt sich zumindest nicht leugnen, dass magische Weltbilder überall dort ansetzen, wo dem Menschen schmerzhaft die Grenzen seiner Wünsche bewusst werden. Magische Weltbilder verkünden buchstäblich immer das, wonach sich Menschen am stärksten sehnen: das ewige Leben im Paradies, Gerechtigkeit, Glückseligkeit, Vergebung, immer währende Verbundenheit mit den Menschen, die sie lieben und Verdammnis für die, die sie hassen.  Aus psychoanalytischer Sicht besteht kein Zweifel: Magische Weltbilder sind komplexe, fantasierte Wunscherfüllungen. Sie gründen nicht im logischen sondern im magischen Denken, wie es Kindern eigen ist. Kinder denken vorwiegend assoziativ, bildhaft. Sie können zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Fantasie und Realität noch nicht ausreichend unterscheiden- Kinder leben in der Überzeugung, dass sie sich ein Ereignis „nur ganz fest wünschen müssen,“ damit es auch eintritt und fühlen sich daher stets für das verantwortlich, was um sie herum geschieht – im Guten wie im Bösen. Ist unser Bild von der Realität nicht bloß ein Puzzle, bei dem die Steine der inneren Wunschwelt mit denen aus der beobachteten Außenwelt so optimal aufeinander abgestimmt sind, dass die Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit im Erleben des Menschen weitgehend verschwimmen? Gott, der Jenseitsglaube, die UFO-Sichtungen, die vermeintliche Erinnerung an frühere Leben, magische Kräfte existieren – aber sie existieren nur in unserer nach außen projizierten Vorstellungswelt und nur weil wir es dringend so wollen um unlustvolle Anteile der Realität in unserem Bewusstsein durch lustvollere zu ersetzen. Unsere Bezug zur Realität ist daher in vieler Hinsicht ein wahnhafter, eine Legierung von Wirklichkeit und Illusionen eben – magisches Denken, Glaube, Aberglaube, Vorurteil und wahnhafte Störung sind nur die Spitze des Eisberges.  Neuerliche Aufklärung tut Not.

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