Die Goldfisch-Variationen: Wie das Internet die alte Welt ausgelöscht hat und warum Bücher unnötig sind

In letzter Zeit mal versucht ein Buch zu lesen? Und? Lassen Sie mich raten. Nach spätestens 50 Seiten haben Sie es entnervt weggelegt. Im Regal, gleich neben den anderen angebrochenen Wälzern, fristet es nun eine passiv aggressive Existenz als papiergewordener Vorwurf und hält einer Klimaanlage gleich die Betriebstemperatur des schlechten Gewissens unangenehm über der Wahrnehmungsgrenze. Grämen Sie sich nicht. Sie sind nicht allein. Vielen Menschen geht es wie Ihnen. Das Stichwort heißt Aufmerksamkeitsspanne. Oder besser: Verlust derselben. Ich erkläre es Ihnen. Und zwar in aller gebotenen Kürze. Sind sie noch da? Okay, ich beeile mich.

Das Internet hat die Welt verändert. So lautet der einschlägige Stehsatz, den einschlägige Stehsatz-Experten nun seit knapp 20 Jahre medial rauf- und runterbeten. Dabei wäre ausgelöscht das passendere Wort. Denn das Netz hat die alte Ordnung so gründlich und nachhaltig beseitigt, dass wir uns die Zeit davor nicht einmal mehr theoretisch vorstellen können. Ein Telegramm statt einem Email versenden? Ein Reisebüro konsultieren? Eine aufgeklappte Straßenkarte sachkundig wieder zusammenfalten? Am Abend ausgehen ohne Handy? Gar eine Telefonzelle benutzen? In einer Diskussion ein frei erfundenes Argument verwenden, ohne dass das Gegenüber den Bären sofort per Google-Recherche als aufgebunden entlarvt? Oder: In einem Lexikon etwas nachschlagen, die gewünschte Information nicht finden und daraufhin zwecks weiterführender Recherche in die örtliche Stadtbibliothek fahren? Und bei eben dieser Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln kein Smartphone in der Hand halten und stattdessen gezwungen sein, den eigenen Gedanken nachzugehen. Sie schütteln zu Recht entsetzt den Kopf angesichts solch grotesker Szenarien.

Sollten Sie, geschätzte Leserin oder Leser, nach 1990 geboren worden sein, dann werden sie wohl misstrauisch ihre Stirn in Falten werfen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich mich an eine Zeit erinnern kann, in der ich mehr wusste als mein Telefon. Mehr noch: Es ist gerade mal 25 Jahre her, da teilten sich an manchen Orten vier Haushalte einen Anschluss. Vierteltelefon nannte man das seltsame Phänomen. Rückblickend gesehen natürlich eine von allen guten Geistern verlassene Einrichtung. Damals aber wäre niemand auf die Idee gekommen, an der Sinnhaftigkeit der fernmeldetechnischen Kolchose zu zweifeln. Nicht auszudenken, was heute los wäre, würde man plötzlich eine Rufnummer an je vier iPhone-Besitzer vergeben. Telefonieren im 20. Jahrhundert war überhaupt eine abenteuerliche Angelegenheit. So konnte man etwa ein handelsübliches Telefon in Österreich lange Zeit gar nicht kaufen. Um einer solche Gerätschaft habhaft zu werden, musste man bei der Post- und Telegraphenverwaltung vorstellig werden. War einem der zuständige Beamte gewogen, wurde Monate später gnadenhalber ein Apparat ins Haus geliefert und von einem sogenannten Entstörer ans Festnetz angeschlossen.

Doch zurück zur Aufmerksamkeitsspanne. Sie sind noch bei mir, oder? Gut. Also, wo war ich gerade? Ach ja, bei der Aufmerksamkeitsspanne. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Internet-Users im Jahr 2000 noch rund zwölf Sekunden betragen hat. 2013 lag sie bei nur noch acht Sekunden. Tendenz also fallend. Zum Vergleich: Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches hält sich konstant. Laut Internetrecherche betrug sie sowohl 2000 als auch 2013 genau neun Sekunden. Ein Mensch, der surft, hat also gegen ein Ziergetier das schwimmt, bereits heute das Nachsehen. Es ist kein unschönes Schicksal, das der vernetzte Mensch hier erdulden muss: Intellektuell überholt vom possierlichen Kiemenatmer. Kein Wunder, dass wir „Krieg und Frieden" oder „Der Mann ohne Eigenschaften" nicht mehr in einem Rutsch durchlesen können. Auf der andern Seite: Wer braucht schon Bücher? Hässliche, meist in Schweinsleder gebundene Staubfänger, die vielerlei Ungeziefer anlocken. Dazu kommen Bücher im Regelfall ohne Bilder daher und sind außerdem extrem unpraktisch. Schon mal versucht mit einer gut sortierten Privatbibliothek in einem Altbau ohne Lift in den sechsten Stock zu übersiedeln. Eben. Bücher sind ungefähr so zeitgemäß wie Schallfolien oder Hellebarden. Und überhaupt: Wer hat den heute noch Zeit zum Bücherlesen. Niemand. Wie auch? Wir haben unsere Zeit ja nicht gestohlen. Denn es gibt so viel zu tun. Etwa Mails checken. Das macht der durchschnittliche Büromensch 30 Mal. Und zwar nicht pro Tag, sondern pro Stunde. Die Zeit, die wir für andere Lebenszeitabsauger wie Facebook oder Twitter aufwenden, ist da gar nicht eingerechnet.

Gut, dass auch Qualitätsmedien diesen Trend erkannt und implementiert, also kapituliert haben. Die Lösung ist der Häppchen-Journalismus. Bei Spiegel Online etwa steht seit einiger Zeit am Ende eines jeden Artikels eine kurze, mehrzeilige Zusammenfassung. Selbst der gehetzteste Wahrnehmungsverlierer schafft so ein Kurz-Resümee unter acht Sekunden. Glaube ich zumindest. Oder was meinen Sie? Sind sie noch bei mir? Hallo? Schade.

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