Ein Gruß aus der Giftküche – das kulinaristische Manifest

Ich eröffne diese Belehrung mit einer erschütternden biografischen Beichte: Ich kenne immer mehr Menschen, die in Ihrer Freizeit fast ausschließlich übers Essen reden. Als ich unlängst einen Freund ins Vertrauen zog und ihm von diesem Phänomen berichtete, nickte dieser wissend und meinte, dass es sich dabei um eine normale Alterserscheinung handle. Wenn der Freundeskreis langsam vergreist, so seine Logik, verschiebe sich vor allem bei Männern das Interesse vom sexuellen hin zum kulinarischen Abenteuer. Die Gaumenfreude als Fortsetzung der Lendenfreude mit anderen Mitteln? Mich hinterließ diese Erklärung unbefriedigt. Zumal ich auch einige sehr junge Menschen kenne, die diese obsessive Beschäftigung mit Essen auf eine sehr beunruhigende Art auf die Spitze treiben. Sie pflastern ihre Social Media-Auftritte mit Fotos von Selbstgekochtem zu.

Nein, so einfach ließ ich mich von meinem Freund nicht abspeisen. Die Theorie von der sexuellen Ersatzhandlung wollte mir so gar nicht schmecken. Darum wagte ich einen Blick über den Tellerrand. Als Mann des Wortes war mir zugleich klar: Um dem Phänomen auf den Grund gehen zu können, benötigte ich erstmals einen Begriff. Also erfand ich das Wort Kulinarismus – ein Neologismus, der sich aus Kulinarik und Eskapismus zusammensetzt. Am Anfang war das Wort, der Rest, also die selbst zusammenfantasierte Theorie, folgte auf den Fuß . Arbeitstitel: Das kulinaristische Manifest. Untertitel: Ein Gespenst geht um in Europas Küchen. Die Kurzform geht so: Weil die alten Ideologien und Religionen im Zeitalter der entfesselten Unübersichtlichkeit nicht mehr greifen, suchen Menschen nach neuen Sinnstiftern. Immer mehr finden diese daheim in der Küche. Die Folgen sind dramatisch: Man grenzt sich ab, macht die Schoten dicht und kocht auf. Denn die Wirtschaftskrise hat die Mittelschicht in der ersten Welt in die Pfanne gehaut. Doch bevor diese endgültig anbrennt und die Küche in Flammen setzt, geht man noch einmal gut essen. Gerne auch mal vegan. Jetzt haben wir den Salat: Denn am neoliberalen Abgrund gibt es nur mehr eine wahre Leere – den Kulinarismus. Und immer mehr intellektuelle Hungerleider klammern sich an die letzte, verblieben Hoffnung: Dass ihnen zumindest die Henkersmahlzeit mundet, bevor sie endgültig ins Gras beißen. Prost, Mahlzeit!

So weit die Theorie. Nun zur Praxis. Die Wirkungsmächtigkeit des Kulinarismus erschuf Dinge, die noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen wäre. Etwa den Food-Blogger. Newsflash: Entgegen der landläufigen Meinung war früher nicht alles besser. Die Sieben Plagen? Die Punischen Kriege? Die Pest? Der Kinderkreuzzug? Alles miteinander ziemlich unerquickliche Zeiterscheinungen, an die kaum noch jemand mit Wehmut zurückdenkt. Eines freilich war früher tatsächlich besser: Es gab keine Food-Blogger. Und dafür gab es auch einen guten Grund. Denn damals, in der sogenannten guten alten Zeit, als man noch ganze Kälber am Eisenspieß briet, der gebackener Uhu als Delikatesse galt und der Biberschwanz eine weit verbreitete Fastenspeise war, wurden verhaltensauffällige Figuren, die ihren Mitmenschen mit aufdringlich Nahrungsbeschreibungen die Zeit zu stehlen versuchten, auf unbestimmte Zeit in den örtlichen Hungerturm gesperrt.  Heute sind Food-Blogger Food Porn-Dealer, die gutes Geld damit verdienen, indem sie das angejunkte Koch-Biedermeier mit kulinaristischem Stoff versorgen.1.000 lieblos zusammengewürfelte Wörter über die fachgerechte Zubereitung eines Quinoa-Fladen? Ein schlecht geschriebenes Traktat über die Vorzüge von Kumquat-Kompott?  Eine Step-by-step-Anleitung für selbstgemachtes Curuba-Eis? Eine Brandrede für das Tortenbacken im Kugelgrill? Eine „herrlich-augenzwinkernde“ Fotostrecke zum Thema „Burger, die wie Geschlechtsteile aussehen“?  Food Blogs sind eine nie versiegende Quelle für schwer verdaulichen Bedeutungslosigkeit. Sie liefern den kulinaristischen Untergangs-Soundtrack zu einem sinnentleerten, satten Leben. File under: Die Einstürzenden Gourmettempeln.

Schlimm auch, dass sich immer mehr junge Menschen einkochen lassen und dem kollektiven Fress-Fetisch zum Opfer fallen. Früher kannte man mit Anfang 20 noch den Unterschied zwischen Post Punk und Post Rock. Heute wissen die kochenden Jung-Stubenhocker, wie man eine Pithayafrucht von einer Papayafrucht unterscheidet. Früher hatte die Nahrungsaufnahme bei Studenten vor allem einen praktischen Grund: eine möglichst gute Unterlage für die anstehenden Wochenend-Ausschweifungen zu liefern. Heute legen bereits Erstsemestrige Wert darauf, dass das selbst gekochte Sieben-Gänge-Menü und die Weinbegleitung perfekt miteinander harmonieren. Verschwende Deine Jugend? Das war einmal. Heute wird die Jugend maximal verquirlt, schaumig geschlagen und dann in die Form eines leckeren Cupcake gebracht. Man reiche mir den Kübel.

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Herbert Erregger

Herbert Erregger bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:09

Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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Judith Innreither

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