Progressivismus und Konservatismus in der Postmoderne

Der Konservatismus erhält das, was der Progressivismus erreicht hat, besagt eine satirische Internet-Weisheit. Es ist sicherlich etwas dran an der Unterstellung, die konservativen Bewegungen hätten kein wirklich klares Ideal mehr, kein definiertes Weltbild dem sie nacheifern können, ausser sich gegenüber dem Progressivismus quer zu stellen, und sich nach den Verhältnissen der jungen Vergangenheit zu sehnen, welche ja auch im Vergleich zum sich exponentiell beschleunigenden progressiven Denken schon fast altmodisch und traditionell erscheint.

Doch interessanterweise trifft umgekehrt das Gleiche auf den Progressivismus zu: Dieser besitzt ebensowenig ein klares Ideal oder Weltbild, sondern ist die Summe von ideologischen Auswüchsen, welche sich in ihren intersektionalen Gedankengängen konstant zu überbieten versuchen. Ebenso wie das progressive Ideal von gestern das konservative Ideal von heute ist, ist das progressive Ideal von heute das konservative Ideal von Morgen.

Die Krise der Dichotomie Progressiv-Konservativ, welche eine der grundlegenden Dichotomien des politischen und sozialen Denkens ist, liegt also nicht weniger darin, dass die einzelnen Denkensrichtungen keine klare Ausrichtung mehr besitzen, sondern eher darin, dass es keinen Haltepunkt für die Realitätserkenntnis gibt. Das konservative wie das progressive Denken sind ebenso konstant im Wandel, wie es auch die Erkenntnis der Realität, und damit die akzeptierte Auffassung über die Realität, ist.

Das Konzept des Konservatismus ist relativ jung, und tritt erst mit Aufkommen der Moderne in Erscheinung, zugleich wie sich auch die Idee des Progressivismus ausbildet. Die beiden Konzepte sind somit strukturalistisch voll und ganz ineinander verflechtet. Der Progressivismus ist die logische Konsequenz daraus, infolge des aufgeklärten Denkens der Moderne auch die traditionellen Strukturen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung in Frage zu stellen; und der Konservatismus die logische Konsequenz vom Progressivismus, indem das wahllose vorstossen des dekonstruktivistischen Denkens berechtigt in Frage gestellt wird.

Die menschliche Wahrnehmung folgt weitgehend der Erkennung von Kontrasten, so wie das Helle, das Licht, Schatten wirft, und hierdurch das Auge formen erkennen kann; oder wie die Töne die wir hören aus Vibrationen bestehen. Ebenso geschieht es mit der Erkennung soziopolitischer Muster, und im Fehlen einer Alternanz werden die Werte des geltenden Musters nicht mehr erkannt, sondern als eine Art von Normal- oder Naturzustand begriffen, wodurch der progressivistische Komplex, diesen Normalzustand weiterzuentwickeln greift. Ein Zitat von Donald Kingsbury sagt hierzu: „Tradition ist eine Reihe von Lösungen, für die wir das Problem vergessen habe. Werfe die Lösungen weg, und du bekommst das Problem zurück.“ Ohne den Kontrast zwischen dem Problem und seiner Lösung, wird die Lösung vom Progressivismus nicht mehr als solche erkannt, sondern lediglich als Laster von gesellschaftlichen Redundanzen, welche dekonstruiert gehören.

Der Sinn des Konservatismus ist folglich darin zu finden, diese Lösungen vergessener Probleme zu erhalten, während die Dekonstruktion tatsächlicher Redundanzen und Laster missachtet werden kann. Dies setzt allerdings das Vorhandensein einer klaren Wertvorstellung und eines Weltbildes voraus, was in der postmoderne schwierig ist, zumal der Zeitgeist sich selber als das einzige moralische Weltbild voraussetzt, und somit ein Dogma der Moralität und Weltanschauung diktiert. Der Progressivismus reagiert auf die Postmoderne durch praktisch vollständige Assimilierung, d.h. das, was einstmals das progressive Denken war, entspricht nun gänzlich dem postmodernen Zeitgeist. Indem dass der Konservatismus nun weiterhin dem postmodernen Progressivismus strukturalistisch gegenübersteht, resultiert das zu Beginn dargestellte Bild eines ziellosen vorpreschenden Progressivismus, und eines entsprechend haltlos zurückhaltenden Konservatismus.

Der Konservatismus steht somit vor der übermenschlichen Herausforderung, einerseits der Postmoderne eine moderne Weltanschauung zu entgegnen, und daraufhin dann die bedeutsamen Traditionen hochzuhalten. Diese schiere Unmöglichkeit führt zur Tendenz konservativer Bewegungen, dem postmodernen Zeitgeist zu verfallen, und damit unwillentlich zu Trägern der Postmoderne zu werden, eine Entfaltung des Zeitgeistes in eine Posse von ideologischer Vielfalt, die aber letzten Endes immer auf das Gleiche, lediglich zeitversetzt, herausläuft. Die Ablehnung der Vorgaben des postmodernen Zeitgeistes gestaltet sich aufgrund der massiven Anhaftung an diesen extrem schwerfällig, wie jeder Widerspruch an ein gesellschaftlich verbreitetes und akzeptiertes dogmatische Diktat.

Das postmoderne Denken ist letztlich in der Lage, das gewissenhafte Handeln und den Aufstand gegen die ungerechte, oder in diesem Fall irrationale, Verfügung als Theorie zu glorifizieren; und als Praxis gleichzeitig zu verteufeln. Dies ist womöglich einer der effektivsten Durchsetzungsmechanismen der Postmoderne, welches erlaubt, die entgegengesetzte Kraft auszuschalten, indem sie im Konzept die Zustimmung erhält, während sie gleichzeitig bekämpft wird, denn es bietet letztlich kaum geistige Angriffsfläche für all die, die diese Mechanismen nicht als solche erkannt haben.

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