Wenn das Hören zum gefühlten Problem wird...

„Franz Welser-Möst und Claus Guth gelang im Festspielhaus eine intelligente, diskutierenswerte Produktion von Beethovens "unmöglicher" Oper. Aber...“

So der Beginn der Kritik in den Salzburger Nachrichten vom 15.8.2015 zu Fidelio.

Nun, praktisch alle Darstellungen in derlei Kritiken stammen von Autoren, deren Virtuosität eher im publizistischen denn im musikalischen Bereich gelegen sein dürfte. Hier soll die Sache einmal diesbezüglich umgekehrt und bei dieser Gelegenheit sollen ein paar Gedanken zu Entwicklungen der Aufführungspraxis generell in den Raum gestellt werden. Die bereits erwähnte Produktion der Salzburger Festspiele drängt sich als für diesen Versuch ideal geeignetes Kaninchen geradezu auf.

Vorweg ist ganz allgemein von Interesse, dass es seit jeher, und seit den 1950ger Jahren intensiv, international Bemühungen gibt, den Originalklang, den Komponisten ab dem frühen Barock bis in die Romantik in ihrer Aufführungspraxis vor Augen und in Ohren hatten, wieder zu finden und zu reproduzieren. Die Bestrebungen nach möglichst authentischer Wiedergabe sind an vielen europäischen Stellen fast gleichzeitig aufgetaucht. Nach Gründung des Concentus Musicus (Harnoncourt hat ab 1953 einfach alte Instrumente aus Museen geholt und sie seinen Wiener symphonischen Kollegen in die Hand gedrückt) und etwa zeitgleich der Cappella Coloniensis (1954), existieren nun diverseste Spitzenensembles, wie etwa die Hannover Band, das Concerto Köln, Il Giardino Armonico, das Ensemble Mathéus u.v.a.m., die auf alten Instrumenten, die heute auch teilweise wieder qualitativ hochwertig nachgebaut werden können, vermutlich einigermaßen jenen Klang wieder reproduzieren, der zum Zeitpunkt der Komposition gehört werden konnte. Die Betonung liegt dabei auf „vermutlich“, da vieles einfach unerforscht oder sogar unerforschbar geblieben ist, so etwa ist die Kunst des Clarinblasens mit dem Verschwinden der Zünfte verloren gegangen und bislang nicht wiederentdeckt worden. (Sämtliche auf Originalinstrumenten spielenden Trompeter verwenden heute ausschließlich nachgebaute Instrumente mit Grifflöchern, die es nachweislich im Barock nicht gab, weil auf „echten“ alten Instrumenten auch nur einigermaßen brauchbare Ergebnisse nicht erzielbar sind).

Die wesentliche Kritik an historischer Aufführungspraxis ist, dass angeblich dabei immer wieder vergessen würde, dass sowohl Interpreten als auch Zuhörer Menschen der Gegenwart  seien, die alte Musik für sich in ihren heutigen Lebenszusammenhängen entdecken, bewerten und einordnen wollen, und dass durch eine rein historische Aufführungspraxis eine lebendige Auseinandersetzung mit der Musik nicht sichergestellt sein würde. Dieser Gedankengang übersieht allerdings generös, dass weder das heute in Verwendung stehende Orchesterinstrumentarium noch die grundsätzliche Gesangstechnik seit ca. 1850  wesentliche Weiterentwicklungen erfahren haben. Beispielsweise finden sich im Fundus der beiden Wiener Orchester je ein Satz Wagnertuben der Produktivgemeinschaft der Instrumentenmacher, die um 1900 erzeugt wurden und weder technisch noch klanglich von neu gebauten Instrumenten zu übertreffen sind. Ganz zu schweigen von so gut wie sämtlichen Streichinstrumenten, die, um den Anforderungen nach mehr Klangvolumen zu entsprechen, im 19. Jhdt. auf größere Mensuren umgebaut und danach nicht mehr verändert wurden. Eine Diskussion über Sinn und Unsinn des Originalklanges wird letztlich also so zu keinem qualifizierten Ergebnis führen können.

Über jeden Zweifel erhaben ist aber wohl das Faktum, dass gerade die Klangkörper der beiden Wiener Spitzenorchester einen seit der Klassik über Generationen tradierten Stil hervorbringen, der vom Standpunkt der Klangschönheit weltweit einzigartig ist. Insbesondere die subtilen Nuancen der Wiener Phrasierung und die (technisch riskante) Verwendung von Wiener F-Hörnern und Wiener Oboen sind Markenzeichen für Ausdruckstärke, die selbst von jenen Dirigenten, die dem Originalklang skeptisch gegenüber stehen, höchst geschätzt wird. Die Aufnahme beispielsweise einer Schumann Symphonie unter Karajan, ehemals Chefdirigent der Wiener Symphoniker und einem erklärten Gegner historischer Aufführungspraktiken, aus dem Jahr 1965 wird stilistisch(!) kaum von einer solchen der Wiener Philharmoniker unter Thielemann (ebenfalls nicht eben ein Freund alter Instrumente)  aus dem Jahr 2012 zu unterscheiden sein, wohingegen die Unterschiede zu Aufnahmen etwa deutscher Orchester unter gleicher Leitung nach wenigen Takten deutlich hörbar sind.

Wenig Neues hat man in den Jahrzehnten, seit es Tonaufnahmen gibt, auch zur sängerischen Darstellung gefunden. Mag man heute vielleicht eine in deutscher Sprache gesungene da Ponte oder Rossini Oper textlich etwas skurril finden so werden wohl viele davon träumen einen Fritz Wunderlich als Palestrina, eine Maria Callas als Lucia die Lammermoor oder einen Luciano Pavarotti in einer Glanzpartie des Verismo zu hören.

Völlig anderes spielt sich jedoch quasi galoppierend inflationär in der Entwicklung im Bereich der Inszenierungen von Opern seit einiger Zeit ab. Hier geht es plötzlich nicht mehr um Musik oder gar den Ausdruck des Librettos in Musik sondern hier wird schlicht in Selbstverwirklichung wirrer exogener Impressionen des Regisseurs, die Inhaltsangabe auf die Couch gelegt und psychoanalytisch aufbereitet, aus dem Ergebnis dessen entstehen krude Bilder, um die sich der Rest des Werks zu gestalten hat. Natürlich haben auch die Interpreten das schauspielerisch mitzutragen, koste es was es wolle, eine Spitzensängerin schafft es ja heute spielerisch, eine Donna Elvira auf einer Bank in einer Autobusstation auf dem Rücken liegend, mit von Strapsen bedeckten, in die Luft gestreckten Beinen zu singen. Da findet sich so nebenbei in einer Inszenierung von Don Giovanni der selbe (ja der selbe, nicht der gleiche) fahrende Hamburgerstand der Bregenzer Inszenierung von Porgy und Bess der Jahre 1997/98, da schmiedet Siegfried in München sein Schwert Nothung aus Teilen eines Autowracks und härtet es (zum Glück mit dem Rücken zum Publikum stehend) in einem Urinal, da werden die gesprochenen Zwischentexte in der Entführung aus dem Serail in Salzburg durch eine völlige Neudichtung in Fäkalsprache ersetzt und, um zu den Geniestreichen des Herrn Guth überzuleiten, aus dem mystischen Helden Lohengrin wird ein geknickter Schwanenritter umgeben von Zylinder- und Bedenkenträgern, der, nachdem er nicht mehr fähig ist sich auf dem auf der Bühne unmotiviert herumstehenden Pianino abzustützen, als auf dem Boden liegendes, von spastischen Lähmungen gebeuteltes Häufchen Elend endet, wobei die Sache mit dem Schwan eigentlich nicht so recht in die Szenerie integrierbar ist. Dazu aber singt er jedenfalls die hehre Gralserzählung und nach dieser doch noch etwas von seinem ungeduldig wartenden "lieben Schwan", begleitet von einem Wagner´schen Orchesterapparat, der in subtiler Leitmotivtechnik genau das Gegenteil von dem, was auf der Bühne zu sehen ist, ausdrückt, kein Wunder, haben doch die Musiker das Notenmaterial, das schon vor vielleicht 70 Jahren verwendet wurde, auf ihren Pulten liegen.

Ähnliches erlebt man jetzt, wenn man zum Spottpreis von bis zu € 430,-- für die Salzburger Festspiele eine Karte für Fidelio erwirbt (wobei Restkarten eigenartigerweise noch von einigen Kartenbüros in diversen E-Mails fast täglich angeboten werden). Nun, Herr Guth mag zwar im Gegensatz zu Beethoven nicht taub sein, was aber noch lange nicht bedeutet, dass er auch nur annähernd so gut, wie Beethoven es konnte, hören kann. Sicher aber ist er, bei aller Intellektualität, nicht in der Lage, Beethovens Fidelio zu fühlen. Das Weglassen der doch eher antiquierten Zwischentexte mag für meinen Geschmack durchaus diskutabel sein, das elektronische Gejaule anstatt dessen stört aber in gewisser Weise die Harmonie empfindlich; wenn jedoch schon in einer in jubelnder C-Dur endenden Schlussszene der gerettete Held, glücklich darüber, ein holdes Weib errungen zu haben, tot umfallen soll, sollte man wenigstens Herrn Möst aus Wels und die Damen und Herren Philharmoniker aus Wien noch dazu bewegen, Beethovens Marcia funebre als Abgesang zu geben. Bei der Gelegenheit könnte man für künftige Aufführungen der 9. Symphonie Beethovens erwägen, an diese, weil kompositorisch und vom Text ja dem Fidelio ähnlich, einen fünften Satz vielleicht in der Art eines formlosen Requiems anzufügen. Mag ja sein, dass sich Herr Cerha dafür auf seine alten Tage etwas ganz spezielles einfallen lassen könnte und daraus sogar noch eine dritte Wiener Schule entsteht.

Weiteres ist über die ansonsten im wahrsten Sinn des Wortes farblose, da tatsächlich in Grautönen gehaltene Inszenierung nicht zu sagen, weil ein Mehr an Unverständnis für den Ausdruck eines vor allem auch musikalisch derart komplexen Werkes einfach schwer möglich erscheint.

Zum Sängerischen ist zu bemerken, dass Jonas Kaufmann als Florestan unglaubliche Bühnenpräsenz entwickelt, die einem sensiblen Menschen die Tränen in die Augen treibt. Kaufmann verfügt schlicht in diesem und vielen anderen Fächern im Moment über DIE Jahrhundertstimme, es bleibt zu hoffen, dass seine Physis dem enormen Verschleiß auf Sicht stand hält. Für die restliche Besetzung griff man in Salzburg auf wenig bekannte, durchaus solide Stimmen zurück, die man vom Niveau und Charisma her durchaus auch in Routineaufführungen der Wiener Staatsoper oder der Oper in Bratislava zu hören bekommen kann.

Jenseits von gut und böse natürlich die Leistung der Wiener Philharmoniker, insbesondere ganz hervorragend disponiert in der Arie des Florestan Martin Gabriel an der Solooboe, hervorzuheben auch Dieter Flury, 1. Flöte und Michael Werba am 1. Fagott. Die Grenzen des Wiener Horns sind interessanterweise bei den Wiener Philharmonikern bei Fidelio regelmäßig in der 3-stimmigen E-Dur Arie der Leonore hörbar, da jeder 1. philharmonische Hornist (in diesem Fall Manuel Huber) auf das tonlich begrenzte, weil nur halb so lange, dafür wesentlich sicherere, hohe F-Horn zurückgreifen muss um nicht an exponiertester Stelle eine dem fast 4m langen Wiener Horn immanente, unkalkulierbare Katastrophe zu riskieren, gegen die selbst die besten Hornisten der Welt nicht gefeit sind. An etwa dieser Stelle zeigt sich, dass die von den Wiener Symphonikern praktizierte Technik, den Wiener Hornstil auf klanglich spezifisch ausgesuchten Doppel- bzw. Tripelhörnern von Paxman, Finke, Holton oder Alexander zu reproduzieren, letztlich die im Endergebnis bessere Lösung als das kurzfristige Wechseln des Instruments für einzelne heikle Stellen ist.

Bleibt noch ein Wort zur musikalischen Leitung zu sagen, ja; da genügt ein Wort. Durchschnitt.

Anhang: Arbeitsplatz der beiden Hornisten bei einer Aufführung von Don Giovanni in der Wiener Staatsoper; bei exponierten Stellen in der hohen Lage wechselt der 1. Hornist vom „kicksgefährdeten“ Wiener- auf das hohe F-Horn (im Bild ganz rechts).

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:12

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:12

1 Kommentare

Mehr von Alexander