Lucia di Lammermoore oder die Quadratur des Belcanto

Lucia die Lammermoor, uraufgeführt 1835 in Neapel, ist einer der interessantesten Versuche, mit auf dem in dieser Epoche am Höhepunkt stehenden italienischen Belcanto höchste und finsterste Dramatik darzustellen. Liegt doch der Grundcharakteristik des Belcanto mit seinen ausgeprägten Appogiaturen und Portamenti harmonikal nicht unbedingt das Tragische der Opera seria inne. Gaetano Donizetti´s Dependenz von der Virtuosität der Solisten ist somit enorm, seine Schwierigkeit, diesen „Spagat“ kompositorisch ernsthaft darzustellen, hörbar. Wie problematisch und grenzwertig insbesondere die Partie der Lucia ist, zeigt sich an der Tatsache, dass viele, selbst weltberühmte Diven der Opernszene wie Selma Kurz, Frieda Hempel, LuisaTetrazzini oder Lily Pons erhebliche Vereinfachungen, Streichungen und/oder Transpositionen in der Rolle der Lucia vornehmen mussten, um mit den technischen Anforderungen zurecht zu kommen. Nicht einmal in späterer Zeit wagten sich Größen wie Maria Callas, Anna Moffo, Renata Scotto oder Editha Gruberova über die ungekürzte Fassung, die sogar heute noch von Anna Netrebko gemieden wird. Erst bei Schallplattenaufnahmen Mitte der 70ger Jahre sang Monserat Caballé erstmals wieder die ursprüngliche Fassung, die nun wieder weitestgehend üblich ist.

Die Mailänder Scala übernahm für die laufende Spielzeit die Inszenierung der Amerikanerin Mary Zimmerman, die seit der Saison 2007/08 in der Metropolitan Opera New York im Repertoire steht. Eine absolut kluge Wahl, verzichtet Zimmerman doch in angenehmer Weise darauf, mit aller Gewalt Bezüge zu politischen Themen der Gegenwart oder zur Geschichte des 20. Jahrhunderts herzustellen. In einer Zeit, in der sich Regisseure erblöden Inszenierungen zu schaffen, in welchen Siegfried sein Schwert Nothung aus einem Autowrack schmiedet und in einem Urinal härtet, oder Lohengrin die Gralserzählung an spastischer Lähmung erkrankt, zuckend am Boden liegend, singen muss, nicht unbedingt Selbstverständlichkeit. Zimmerman verlegt vielmehr die Handlung schlüssig vom 16. ins späte 19. Jahrhundert, somit  in eine Zeit des Niedergangs des britischen Empires und der allgemeinen Stimmung des Dekadentismus sowie der überkommenen rigiden Strukturen dieser Epoche. Insgesamt bleibt damit die Inszenierung dezent im Hintergrund und ermöglicht den Sängern ungestört ihre anspruchsvolle musikalische Arbeit nicht auf dem Kopf stehend verrichten zu müssen.

Bei der Premiere am 28. mai 2015 sah und hörte man im Theatro alla Scala eine Aufführung in einer Qualität, die dem Ruf dieses Opernhauses mehr als adäquat war. Technisch, klanglich und stilistisch hervorragend das Orchester, mit insbesondere einer in den intonationsmäßig heiklen lyrischen Soli gleich zu Beginn perfekt eingestimmten Horngruppe.  Herausragend das Dirigat von Stefano Ranzani, in Zeiten, in denen sich selbst Musiker in Spitzenhäusern mit Mittelklassedirigenten mit höchst eigenwilliger Schlagtechnik abmühen, fast als Seltenheit zu betrachten, ein Mitgrund für eine ungewohnt fast schon verblüffende Präzision u.a. der Chorstellen. Dass mit Gabriele Viviani, Enrico, Juan José de León, Arturo, Alexander Tsymbalyuk,  Raimondo,  Chiara Isotton, Alisa und Edoardo Milletti, Normanno ein Weltklasseensemble sowohl schauspielerisch als vor allem sängerisch absolut überzeugend agierte, schien zu erwarten. Ebenfalls vorauszusehen war allerdings die Tatsache, dass es in unserer Zeit eine Jahrhundertstimme im Tenorfach, wie etwa einen jungen Placido Domingo oder einen Luciano Pavarotti, weltweit nicht gibt und Vittorio Grigolo als Edgardo daher zwar als technisch sicher und vom Timbre her absolut passend, letztlich vom Charisma her nur als mittelklassig empfunden wird.

Herausragend die deutsche Sopranistin Diana Damrau, die auch live nicht davor zurückschreckt, die Partie in der vollständigen Fassung (also etwa auch ohne den oft immer noch üblichen Strich des ersten Bildes des III. Akts) zu singen und das, ohne sich bei ihren Einsätzen vor der gefürchteten schier endlos scheinenden „Wahnsinssarie“  („Il dolce suono“), die in der Scala übrigens wie in der Originalfassung vorgesehen mit einer Glasharmonika und nicht wie oft üblich mit der (viel zu linear klingenden) Flöte begleitet wird, zu schonen.  Die Damrau sang an diesem Abend vom ersten bis zum letzten Ton wie von einem anderen Stern. Selbst die verwöhnten Mailänder Zuhörer saßen letztlich atemlos auf ihren Stuhlkanten, während sich diese nach Unabhängigkeit schreiende, tragische Frauenfigur durch Flucht in Wahnsinn und Tod nach der Ermordung des ihr aufgezwungenen Ehegatten aus ihren gesellschaftlichen und familiären Fesseln befreite.  Nach dem letzten Ton schien bis zum Losbrechen der standig Ovations mehr als eine Schrecksekunde, in der man im Raum eine Stecknadel hätte fallen hören, zu vergehen.…

Paul S. Alexander

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