Für Juden und Jüdinnen ist es nicht besonders wichtig, ob der Antisemit ein Rechter oder ein Linker, ein Muslim oder ein Christ, eine Migrantin oder eine Autochthone, vom Mars oder von der Venus ist. Juden möchten von Antisemitismus, von wem auch immer der ausgeht, nach Möglichkeit verschont bleiben. Dies zu garantieren wäre die Aufgabe zivilisierter Staaten und Gesellschaften, doch die gibt es auf diesem Planeten nicht. Unmittelbar nach der Shoah, dem Völkermord an sechs Millionen jüdischen Frauen, Männern und Kindern, wurde sich die Welt dieses beklagenswerten Umstandes kurz bewusst und ließ die Gründung des Staates Israel zu. Es war ein Augenblick der Selbsterkenntnis, in dem die Weltgemeinschaft zugab, nicht nur bei der Verhinderung des Holocaust versagt zu haben, sondern auch nicht versprechen zu können, dass sich ähnliches nicht wiederhole. Die Gründung des Staates Israel war gleicheitig großartig und einer der traurigsten Momente der Geschichte. Großartig, weil die Sicherheit des jüdischen Volkes nun nicht mehr von der Großherzigkeit und den Stimmungsschwankungen anderer abhing und tief traurig, weil es das Eingeständnis der Welt war, Juden nicht ausreichend beschützen zu können oder zu wollen. Die Welt sagte: “Ja, wir sind Barbaren, wir können die Sicherheit der Juden nicht garantieren, aber zumindest sorgen wir dafür, dass die Juden beim nächsten Versuch, sie auszurotten, nicht wehrlos sein werden”. Und so wurde Israel die Steinschleuder, die David in die Hand nahm, nachdem sein Volk von den Goliaths dieser Erde fast ausgelöscht worden wäre.

Der Antizionist, der die Staatlichkeit Israels ablehnt, ist zwingend auch Antisemit, da er die vernichtungsantisemitische Geschichte, die zur Gründung Israels hinführte, ebenso ignoriert wie das Weiterbestehen des Antisemitismus. Im freundlichsten Fall ist der Antiztionist naiv und träumt von einer Welt ohne Staaten, vom sozialistischen Utopia, aber auch diese Freundlichkeit ändert nichts am realen Antisemitismus, der sich darin äußert, die Entstaatlichung der Welt ausgerechnet mit jenem Land beginnen zu wollen, das das Land der Juden ist. Dass antiisraelische Stömungen derzeit weltweit die Oberhand gewinnen, ist weder ein Zufall noch liegt das an der Politik der israelischen Regierung. Die macht zwar viele Fehler und darf und sollte für diese Fehler auch kritisiert werden, doch allein mit Siedlungsbau und ähnlichem Firlefanz lässt sich nicht erklären, warum derzeit ein europäisches Parlament nach dem anderen einseitig und gegen die Warnungen von Expertinnen einen “Staat Palästina” anerkennt und warum die akademische Elite, vor allem die junge, in Europa und den USA so antiisraelisch und damit antisemitisch eingestellt ist wie nie zuvor.

Wollen wir verstehen, was da vor sich geht, müssen wir zunächst eines festhalten: Antisemitismus war in seiner langen, blutigen Geschichte stets ein Gradmesser für den jeweiligen Stand im Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. Wo immer Juden verfolgt wurden, war die Gesellschaft rückständiger als dort, wo diese Verfolgung milder ausfiel oder zeitweise kaum stattfand. Und wo immer Juden verfolgt wurden, wurden auch andere verfolgt und unterdrückt. Antisemitismus war ohne Frauenunterdrückung, Homophobie, Behindertendiskriminierung, Intellektuellenfeindlichkeit und Antiziganismus nie zu haben. Wo viel Antisemtismus war, gab es stets einen Zug zum autoritären Staat, zu monarchischer Verkrustung, zu Faschismus. Antisemitismus gedieh umso besser, je weniger Freiheit war. Und all das das gilt uneingeschränkt auch heute. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem wachsenden Antisemitismus im modernen Europa und dem anschwellenden, sich ideologisch strukturierenden und formierenden antifeministischen Backlash, dem salonfähig gewordenen Fremdenhass, der Verachtung von Roma, der wachsenden Ausgrenzung von Kranken und Behinderten und der Wiederkehr der Euthanasie in immer mehr Staaten. Dabei ist es völlig unerheblich, ob sich diese Symptome der Barbarei ein progressives Mäntelchen umhängen oder nicht. Wer zum Beispiel den Mord an Kranken legalisieren will, mag noch so sehr beteuern, es ginge ihm um reinste Nächstenliebe und die Linderung von Leid, in Wahrheit will er nichts anderes, als statt der Krankheit die Kranken zu eliminieren. Wenn die Stadtregierung von Marseille beschließt, dass Obdachlose ein gelbes Dreieck auf der Kleidung zu tragen hätten, hat das nichts mit der behaupteten “Hilfe” für diese Menschen zu tun, sondern alles mit deren Stigmatisierung und Demütigung. Und wenn Österreich, Deutschland und die Schweiz sich weigern, Sonderstrafgesetze für psychisch Kranke und Sonderschulen für Behinderte abzuschaffen, liegt das nicht an den vorgeschobenen Motiven der Hilfe, sondern an einer zurückgekehrten bzw. nie überwundenen faschistischen Antimoral, die den “gesunden Volkskörper” vor den “Kranken schützen” will, in Wahrheit also an der Lust, Menschen für deren Persönlichkeitsmerkmale auszugrenzen und zu bestrafen.

Wenn die europäischen Parlamente und Regierungen immer antiisraelischer werden und gleichzeitig auf Europas Straßen ungestraft Hitlergrüße gezeigt werden und Sprechchöre “Juden ins Gas” brüllen können, wie das bei den israelfeindlichen Ausschreitungen im Sommer 2014 geschah, sind das keine unglücklichen Zufälle, sondern Anzeichen einer Rebarbarisierung Europas, die umso rascher voranschreitet, je heftigere soziale Verwüstungen die Wirtschaftskrise anrichtet, die wirklich zu bekämpfen den derzeit aktiven Politkerinnen Wille, Mut und Ideen mangelt.

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Alex Feuerherdt

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