Hommage an die YU-Pop-Rock-Bands meiner Jugend

Als ich neulich an der Kassa im Supermarkt in nostalgischer Gedankenlosigkeit leise einen Song vom "Blauen Orchester" (Plavi orkestar) singe, fällt die Ex-Jugo-Kassiererin plötzlich in den Refrain ein, und wir singen ihn zu Ende, bevor sie mein Bier über den Scanner zieht. Wir lachen. Ich sage nur "Zdravo!", sie auch.

Besser betrunken als alt!

Das ist der Titel des Songs, der mich und die Kassiererin urplötzlich an die sonnige Vergangenheit unserer Jugend erinnert. Und sonnig ist sie nur, weil sie die Jugend ist. Aus keinem anderen Grund. Doch dieser eine Grund genügt offenbar, um die Herzen zweier wildfremder Menschen kurz zu verbinden.

"Besser betrunken als alt,

der Wein, er weiß das nicht,

doch wir waren einst ein glückliches Paar,

besser betrunken als alt.

Das Leben fliegt, die Jugend ist immer kürzer,

alles kommt einmal wieder, nur sie bleibt zurück!

Besser betrunken als alt!"

Auf Serbisch/Kroatisch reimt sich das natürlich, aber ich habe keinen Bock auf Übertragungen, weil ich schon so betrunken und alt bin.

Rockende Knöpfe

Man kann ruhig, sagen dass Bjelo dugme – "Der weiße Knopf" – die Band aller YU-Bands ever ist. Bjelo dugme sind nicht nur das Sprungbrett zur Weltkarriere von Goran "Brega" Bregović, der die musikalische Intelligenz und der Raubritter der Band ist, sondern sie prägen dauerhaft und perfekt den Aspekt des genuinen Balkan-Ethno-Pop-Rocks ihrer Periode und bis heute.

Die späte Phase der Band ist deckungsgleich mit der spätesten Phase der Story vom brüderlichen und einigen Jugoslawien aller ihrer Völker und Ethnien. So bekommt ein Song aus dem Jahr 1986 eine starke politische Ladung und kann als Kritik und Prophezeiung gehört werden. Der Titel: "Spuck aus und singe, mein Jugoslawien" ("Pljuni i zapjevaj, moja Jugoslavijo!";).

s beginnt mit einer Art Zustandsbeschreibung Jugoslawiens im Jahre 1986:

"Mutter und Stiefmutter, meine Trauer und mein Trost,

mein Herz, mein altes Haus, meine Quitte aus dem Schrank*,

meine Braut, meine Schönheit, meine arme Königin!"

Der Refrain ist (wahrscheinlich) ein Partisanenlied oder wie eines:

"Jugoslawien, auf die Beine!

Sing, dass man dich hört!

Wer das Lied nicht hört,

der wird den Sturm hören!"

Anschließend singen Bjelo dugme den frommen Wunsch:

"Hier! Dieses Brot, ich breche es, mein Jugoslawien,

für dich und für bessere Tage,

für ungesattelte Pferde!

Wem bei uns keine Zähne wachsen,

dessen Mutter wird noch weinen.

Bei uns wird keiner eine Meute finden,

der das Heulen nicht lernt!"

Zusammen mit dem Refrain über den Sturm ist das auch schon der ganze Text. Und wenn man ihn heute irgendwo in Ex-Jugoslawien auch nur leise singt, wird sich immer ein Mensch mit einem klugen Herzen finden, der in die Melodie einfällt.

Die Ballade vom öffentlichen Klo

Der Ausdruck "Tschorba" (čorba) wird in der österreichischen Küche kaum noch verwendet. Es ist eine eingedickte Suppe, kann aus Gemüse, Fleisch oder Fisch gemacht werden und schmeckt super.

Als 1978 Borislav "Bora" Đorđević im bekannten Belgrader Restaurant Šumatovac Fischtschorba isst, entsteht die kontroverseste, langlebigste und neben Bjelo dugme berühmteste Band Jugoslawiens – Riblja Čorba. Doch an diesem Tag wird auch Borislav Đorđević zu "Bora čorba", dem unter allen jugoslawischen Rock-Pop-Balladen-Musikern kontroversesten, langlebigsten und berühmtesten Alkoholiker, Ehekonsumenten, Antikommunisten, Milošević-Fan, Milošević-Feind, Berater des Kulturministers nach Milošević und, seit 2012, Tschetnik-Vojvoden honoris causa.

Man kann von Bora čorba und seinen politischen Windungen halten, was man will. Sein dunkles poetisches Talent wirft jedoch den größten und tiefsten Schatten über ganz Jugoslawien und darüber hinaus. Im Jahr 1981 entsteht eine leicht chauvinistische Ballade über das Ende einer Liebe, und wir Kids aus Beograd, Zagreb, Sarajevo, Skopje und sogar Ljubljana summen und singen sie auf jeder Party, jedem Adriastrand und jeder gemeinsamen Reise.

Das Ende der Liebe findet in Boras Lied auf einem öffentlichen Klo statt:

"Der Sozialfall vor der Klotür sagte:

zwei Dinar Genosse, zwei Dinar Genosse ...

Die kleine Not einen, die große Not zwei.

Mein Blick zerschneidet ihn wie ein Schwert,

ich fragte:

Entschuldigen Sie bitte,

was kostet es, wenn ich drinnen weine,

wenn ich drinnen weine?"

Bora čorba ist noch unter uns. Wie lange seine Leber das noch aushält, ist ungewiss. Eine seiner Ehefrauen, die vorletzte, hält die Scheidung nicht aus und begeht 2007 Selbstmord. Die neueste Ehefrau ist fast 30 Jahre jünger und offenbar robust genug, um Bora zu überleben.

Die perfekte Ballade

Diese Disziplin kennt zwei Könige: Đorđe Balašević und Momčilo Bajagić "Bajaga". Beide kommen ursprünglich aus der Blase rund um Bora čorba und einem Band-Konglomerat aus Čačak und Beograd wie Zajedno (Zusammen), Suncokret (Sonnenblume) und Rani mraz (Früher Frost).

Grob kann man sagen, dass Blašević ein klassischer Liedermacher ist und im Zauberland der nebeligen Tümpel der Vojvodina seiner Kindheit und seiner Vorfahren lebt. Bajaga ist nicht weniger magisch, aber urbaner, flotter, verspielter und ... hm ... irgendwie leichter. Eine messbare Pathetik in ihren nostalgisch-magischen Liedern ist so gut dosiert, dass Tränen weder ausgeschlossen sind noch beschämend.

Das beste Beispiel ist Balaševićs Ballade "Priča o vasi Ladačkom" (Die Geschichte von Vasa Ladački), die 1978 praktisch direkt aus dem Tonstudio in die Musikgeschichte Jugoslawiens eingeht und dort für immer und ewig bleibt. Es ist einer seiner typischen Songs, die ihm aus der kollektiven Erinnerung der Vojvodina zufliegen: Vasa Ladački heiratet nicht die arme Liebe seines Lebens, sondern eine reiche Hoferbin, und säuft sich eines Tages zu Tode. Es klingt banal. Außer wenn Balašević es erzählt.

"Bekommen hat er Rappen, die tollten auf der Weide,

eine Uhr mit goldener Kette und Höfe.

Bekommen hat er fruchtbare Felder und reiche Weinberge,

vor die Kutsche gespannte Schimmel,

alles hatte er, und gar nichts hatte er ...

Nicht lange, und er begann zu trinken,

dem Teufel die Seele verkauft,

alle Wirte kannten ihn,

er suchte Heil im Glas

und fand es nicht ...

Jung starb er, so sagt man,

mitten im Gasthaus, vom Herzen,

sein Kopf sank nur herab

wie im Schlummer oder Schlaf,

und noch wissen alle, was er zuletzt sagte:

Umsonst die Rappen, die tollen auf der Weide,

umsonst die Uhr und die Höfe,

umsonst die fruchtbaren Weiden und die reichen Weinberge,

umsonst die Kutsche und die Schimmel,

wenn ich nicht mit der bin, die ich liebe ..."

Sein Text ist noch länger, fast episch, und der Song dauert fünf Minuten und 46 Sekunden. Fast jede seiner Balladen wird zum Hit, den ganz Jugoslawien kennt.

Bajaga hingegen, der urbane Mythologe, kreiert kleine Pop-Gemälde aus Noten und Text, die sich so anhören, wie Filmszenen sich anfühlen. Eine andere Metapher finde ich einfach nicht. Wer "Ruski voz" (Der russische Zug), "Francuska ljubavna revolucija" (Die französische Liebesrevolution) oder "Sa druge strane jastuka" (Auf der anderen Seite des Polsters) kennt, weiß, was ich meine.

Seine Band heißt "Bajaga und die Fluglehrer", und auch die Haupttitel seiner Alben tragen Namen, die wie ein Traum von Little Nemo klingen: "Prodavnica tajni" (Geschäft für Geheimnisse) oder "Jahači magle" (Nebelreiter). Seine Texte spiegeln oft den heiteren Aspekt des Jungseins in Titos Jugoslawien genauso wie eine verklärte, nebelige Sehnsucht nach romantischer Mystik:

"Ich küsse dich und decke dich zu

mit den Flügeln der Blauen Taube,

verschlafen lasse ich dich zurück

in den Korridoren der Erinnerung,

auf der anderen Seite,

der anderen Seite des Polsters.

Noch immer will ich dir schenken

Blätter der wilden Kastanie,

will dich noch einmal beschützen,

während Nebel dich verbirgt

auf der anderen Seite,

der anderen Seite des Polsters.

Ich sende dir geheime Botschaften

auf dem Atem der Nachtwinde,

ich weiß nicht, ob sie vorbeikommen

an den Paradiesgärten

auf der anderen Seite,

der anderen Seite des Polsters."

Zu mir dringen diese pathetischen Textzeilen immer noch durch, und ich schäme mich nicht für den 16-Jährigen Jugo in mir! Bei der Textzeile "auf dem Atem der Nachtwinde" denke ich trotzdem manchmal an Fürze in der Nacht.

Das Pantheon

Es gibt in Jugoslawien zu viele gute und wichtige Bands, um sie alle hier zu besprechen: Azra, Haustor, Prljavo kazalište, Električni orgazam, Mizar, Divlje jagode, Zabranjeno pušenje, Atomsko sklonište, Pekinška patka, Šarlo akrobata und Lajbah und so viele andere. Aber ich will noch zwei Songs zumindest nennen, weil sie damals den Sound unseres Jungseins in "Titos Staat" mit Ekstasen, Tränen, Lachen und der Sehnsucht nach dem Abenteuer erfüllen.

Es sind Bands, die rund um Jura Stublić, Branimir Johnny Štulić und Darko Rundek entstehen. Zwei Songs von Stublić und seiner Band Film treffen eine besondere Resonanz, die nur migrierte Jugos ins Herz trifft: "Srce na cesti" (Herz auf der Straße) und "Dom" (Heim). In "Srce" geht es um eine Liebe, die beim Autostoppen auf der Autobahn der "Brüderlichkeit und Einigkeit" zwischen Zagreb und Belgrad spontan beginnt. Nur um wenige Kilometer später in einem tödlichen Verkehrsunfall zu enden.

"Und im Radio war ein Liebeslied,

mein Arm um deine Schultern,

dort auf der Straße blieb mein Herz,

auf dem heißen Asphalt.

Eine Million Kilometer von nirgendwo,

auf der Autobahn der Brüderlichkeit und Einigkeit,

beim tausendundersten Loch,

roch ich den Geruch von Blut und Benzin."

Es ist dieselbe Autobahn, auf der Tausende von uns jeden Sommer in die alte Heimat fahren. Als ich einer von ihnen bin und mit meinem Auto Richtung Beograd rase, spielt es im Radio "Srce na cesti". Ich ignoriere alle Autostopperinnen und halte Ausschau nach Löchern im Asphalt.

Der andere Song ("Dom";) ist eine fünfminütige Ballade, die im Jahr 1987 sowohl die Migration als auch den Schatten des Krieges zum Thema hat.

"Mein Heim ist unten in der Vorstadt,

vom Zentrum Richtung Westen,

wo die Sonne scheint, wenn sie untergeht,

wo die Sonne nur scheint, wenn sie untergeht.

Auf meinem Haus drei Parolen:

Wir wollen ... es lebe ... und nieder ...!

Und auf der Fassade, gleich über der Tür,

drei Löcher von Kugeln aus dem vergangenen Krieg.

Heute Nacht quere ich die Grenze,

schlage auf ein neues Blatt,

und im Lokal beim Bahnhof

singe ich, dass die Stimmbänder reißen!"

Als nur knapp vier Jahre später der neue Krieg beginnt, denken viele so wie ich: "Zum Glück bin ich in Wien und nicht in Sarajevo, Vukovar oder Srebrenica!"

Kurz danach denke ich nur noch: "Fickt euch! Ihr und euer dümmster aller Kriege! Ihr habt unsere Jugend in Blut ertränkt! Schweine!" Und ich weiß, dass sehr viele genauso denken. Wahrscheinlich auch die die Kassiererin vom Supermarkt ...

* "Quitte aus dem Schrank": Auf dem Balkan (und wohl auch woanders) trocknet man Quitten traditionell in einem Schrank im trockensten Teil des Hauses, damit sie süß und genießbar werden.

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