Adventgeschichte: Das gewebte Bild (6): Die Stille verstehen

Maria saß wieder bei ihrem Frühstück. Vor den Fenstern lagen all die kleinen Elfen zu einem einzigen großen, durchgehenden Haufen versammelt und rührten sich nicht. Sie klopften nicht mehr an ihr Fenster, ihr zuzuwinken. Aber vielleicht war es auch einfach, dass Maria es schon nicht mehr sehen wollte. Und Elfen hören auf zu existieren, wenn niemand an sie glaubt. Ist eben so. Sie hätte es an diesem Morgen mit einem Achselzucken hingenommen. Ist eben so. Ihr hatte ja bisher auch nichts gefehlt. Es machte keinen Unterschied. Ab und an war die durchgehende Schneedecke schon durchbrochen und es zeichneten sich die Wege ab, die sie gingen. Zum Schuppen um Holz zu holen. Zum Stall die Tiere zu versorgen. Die Spuren der Tiere, die sich beeilten auf die Weide zu kommen. Sie hatten alles zerstört. Zertrampelt. Nichts bleibt heil.

Und während sie verzweifelt versuchte sich zu erinnern, ihrer Ziele und Träume, die ihr noch vor wenigen Tagen so absolut und alternativlos vor Augen gestanden hatten, sogar noch, als sie auf dem Weg hierher war, schienen diese wie hinter einer dubiosen Nebelwand verschwunden zu sein, so dass sie verzweifelt gegen das Gefühl des Verlorenseins ankämpfte. Wabernd und kalt war dieser Nebel. Bald schon, so fürchtete sie, würde er so dicht sein, dass sie nicht mehr hindurchfände. Aber dann zuckte sie die Achseln. Wenn schon. Sie musste am ersten Januar zurück sein um ihr Praktikum pünktlich anzutreten. Alles andere würde sich dann schon wieder finden, wenn sie erst zurück wäre in ihrer normalen, angestammten, vertrauten Umgebung. Dieser Ort hier brachte alles Durcheinander, was zuvor so wohl geordnet war. Wenn sie schon nicht wegkonnte, so half ihr ganz bestimmt die Verbindung zur Außenwelt, auch wenn sie nur virtuell stattfand. Ja natürlich, die ersten Tage waren schön gewesen. Mal was ganz anderes. Wie in einem Kurzurlaub, doch dazu genügen eben die paar Tage, die sich dann auch wieder in Routine verlieren, so wie alles andere. Natürlich war auch der Alltag Routine, aber eine die sie wollte, und die doch immer wieder unterbrochen wurde durch die Ankunft neuer Aufgaben und Herausforderungen. Und wenn das alles nichts nützte, so gab es in der Stadt hunderte Möglichkeiten sich abzulenken, selbst wenn diese darin bestand, dass sie mal wieder versuchte einen Termin mit ihrem Freund zu finden.

„Uwe, mein Gott“, dachte sie plötzlich, ohne eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Namen zu sehen, „Den habe ich ja ganz vergessen.“ Nun war dies nicht weiters beunruhigend, denn die Art der Beziehung, die sie führten konnte als lose bezeichnet werden. Dennoch hielt sie mit größter Freude daran fest, denn Uwe war ebenso zielstrebig und ehrgeizig wie sie selbst. Sein Spielwiese war die Juristerei. Er strebte einen Posten an einen der höchsten Gerichtshöfe an oder, alternativ einen in einer der erfolgreichsten Kanzleien. Da war er sich noch nicht ganz sicher, womit ihn Maria auch gerne aufzog. Unsicherheit durfte man einfach nicht zulassen. Dennoch war es eine Beziehung ganz nach ihren Vorstellungen, denn dadurch, dass sie sich beide mit Feuereifer in ihre Arbeit stürzten, hatten sie nicht viel Zeit füreinander. Dennoch konnten sie sagen, sie wären in einer Beziehung, was ihnen etwaige andere lästige Bewerber vom Hals hielt. Ihre seltenen Zusammenkünfte gestalteten sich entsprechend harmonisch und erfreulich. Niemals würde es Maria passieren, dass sie sich von irgendeinem Idioten an die Kantare nehmen ließe und mit zwei Bälgern am Hals an ihn ketten würde. Dazu war sie viel zu wachsam. Uwe war ideal für ihre Zwecke, wobei sie überzeugt war, dass dies für ihn genauso galt, auch wenn sie noch nie darüber gesprochen hatten, wie ihr gerade bewusst wurde.

„Seltsam wie selten Menschen ihre eigentlichen Motive ansprechen und wie oft sie dennoch mit aller Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass der andere dasselbe denkt“, schoss es ihr unvermittelt durch den Kopf, „Hatte er denn wirklich dieselben Ambitionen?“

Bei ihrem letzten Zusammentreffen, da hatte er etwas von gemeinsamer Zukunft gesprochen, ganz zaghaft zwar, aber doch war es in Richtung gemeinsamer Wohnung oder so etwas Ähnliches gegangen. Sie hatte es geflissentlich übergangen, doch konnte es sein, dass sie eine Enttäuschung in seinem Blick ausmachen konnte, die sie nicht wahrgenommen hatte, damals, oder auch nicht wahrnehmen wollte? Alles Schnick-Schnack. Dieser Ort machte sie zu allem Überfluss auch noch sentimental. Unvermittelt überfiel sie das dringende Bedürfnis etwas einzuschalten, irgendetwas was Geräusche von sich gab und von den Gedanken, die sie überfielen, ablenkten. Sie wollte dem weiten Raum der klaren Gedanken entkommen. Wortlos stand sie auf, zog sich ihre Jacke über und stapfte hinaus in die Kälte, durch den Schnee, weg, einfach nur weg. Ihre Großtante sah ihr nach, zuerst bis zur Türe und dann durch das Fenster, bis sie hinter einer Wegbiegung verschwunden war. Dann erst stand Magdalena auf und machte sich daran das Geschirr abzuwaschen. Es gibt Momente der Tat und welche der Kontemplation, das wusste sie, und das war einer jener, in der es galt abzuwarten und zu sehen was passierte. Es war ihr natürlich von Anfang an klar gewesen, dass Maria ihr altes Leben mit dessen Prioritäten nicht einfach so mir nichts Dir nichts hinter sich lassen würde. Ja, sie hatte sogar schon ein klein wenig Misstrauen gehegt, als alles so glatt lief und sich Maria so wunderbar in das Leben auf dem Hof einfügte. Zu glatt. Zu wunderbar. Deshalb ließ sie ihre Nichte ziehen. Sie selbst musste den Weg finden, der für sie bestimmt war, aus eigener Kraft, bestätigt durch die eigene Überzeugung. Alles andere wäre Manipulation gewesen, die Maria vom Eigentlichen fortgeführt hätte, und während Magdalena das Geschirr ins warme Wasser tauchte, war Maria bereits einige hundert Meter vom Hof weg. Die Kälte hatte sie zunächst erstarren lassen, aber mit der ihr eigenen unerbittlichen Zielstrebigkeit, ging sie trotzdem weiter, durch den Schnee, in dem sich mittlerweile die Sonnenstrahlen glitzernd spiegelten. Doch sie hatte keinen Blick dafür.

„Nur weg“, dachte sie zunächst, bis der Ärger verflogen war und sie endlich daran dachte wohin sie eigentlich wollte. Da nahm sie auch schon den Hof aus, zu dem sie sich am ersten Abend gerettet hatte.

„Mein Auto“, schoss es ihr dabei unwillkürlich durch den Kopf, „Jetzt könnte ich es suchen. Doch wo könnte es sein?“

Sie hielt kurz inne um sich des besagten Vorkommnisses zu erinnern. Ihr Wagen steckte fest und sie stieg aus. In welche Richtung war das gewesen? Es fiel ihr ein wo sie ungefähr in Richtung des Hofes abgebogen war. Wenn sie nun den Weg genauso oder ungefähr so zurückginge, dann müsste sie doch über ihr Auto stolpern. Es klang logisch. Verführerisch logisch. Deshalb setzte sie es in die Tat um, doch ganz gleich wie weit sie ging, wie sehr sie sich auch bemühte, sie fand nichts. Es kam ihr so vor, als würde sie ständig im Kreis laufen, und während ihr Mut immer weiter sank, setzte ihr die Kälte zunehmend zu. War es nicht geradezu sinnbildlich für ihre Situation, in der sie steckte, diese Zwischenposition inmitten zweier Welten, von denen sie das Gefühl hatte, dass sie in beide nicht richtig gehörte?

Die erste, die ihr bisher selbstverständlich war, die sie jedoch zu hinterfragen begann, als sie mit der anderen konfrontiert wurde und deren Fassade schon ziemlich angekratzt war, wenn nicht gar schon einzelne Steine fehlten, die den Blick unverhohlen auf die dahinterliegende Leere freigaben.

„Alles nur Fassade“, schoss es ihr durch den Kopf, „Es war nie um etwas anderes gegangen, als um diese Fassade, sie zu pflegen und aufrecht zu erhalten.“ Aber die andere Welt, die in schonungsloser Offenheit alles preisgab was sie war, die keine Fassade um sich aufbaute um neugierige Blicke von sich abzuhalten, die hatte sie noch nicht erreicht.

„Hätte ich doch diesen verdammten Brief einfach ignoriert!“, schimpfte sie sich selber, „Dann hätte ich mein Leben einfach weiterführen können, so wie es war, so wie ich es geplant hätte.“

Aber im selben Moment wusste sie auch, dass es sinnlos war auch nur darüber nachzudenken, denn man kann nicht hinter eine gemachte Erfahrung zurück. Niemals gibt es ein Zurück. Die Erfahrung machte etwas mit ihr, das sie nie wieder loswerden würde. Resigniert zog sie den Kopf ein und ging zurück zum Hof ihrer Großtante, während der nun aufkommende Wind den Schnee aufwirbelte und in ihr Gesicht peitschte. Und die Stille hatte aufgehört. Stille, die sie sich jetzt zurückwünschte, einfach so.

Völlig durchfroren erreichte sie die Hütte und wenige Minuten später saß sie mit einer Tasse heißem Tee vor dem Kamin, in dem das Feuer unbeirrt und unbeeindruckt lustig vor sich hin züngelte. Maria war dankbar für diese kleinen Dinge, die sie äußerlich und innerlich wärmten. Vor allem jedoch dafür, dass Magdalena nichts sagte, so dass sie die Stille als ihren Freund begrüßte. Zur Ruhe kommen und klar sehen, das war in diesem Raum möglich, und während das kleine Schiffchen hurtig über die Fädenberge sprang, ließ sich erkennen, dass der erste Stolperstein aus dem Weg geräumt worden war und den Beginn der Brücke bilden könnte. Ganz eindeutig war es noch nicht, aber das Webbild des Lebens würde weiter gewoben, Reihe um Reihe, in aller Offenheit. und es war der sechste Tag des Advent.

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