„Poetik des Raumes“ war der Titel der Vorlesung, die ich bei ihm hörte, der an meiner Alma Mater eine Gastprofessor innehatte. Noch heute sehe ich den Lehrsaal vor mir, denn es war ein alter, in dem die Zuhörerbänke nach hinten hin anstiegen und der Vortragende in einem kleinen Kreis in der Mitte unten stand. Die Bänke waren hart und unbequem, die Tische davor, viel zu schmal um ein Blatt ordentlich ablegen zu können, und dennoch war es eine Vorlesung, die mir einen weiteren Einblick in die Literatur eröffnete, in einen Aspekt, den ich bisher eher übersehen hatte. Die Anordnung des Raumes stand im Mittelpunkt. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass Sicht Herrschaft bedeutet. Die Sicht des Herrschers über die Stadt, bedeutet den Radius seiner Herrschaft. So ist es keineswegs Zufall, dass es noch heute Städte gibt, die vom Herrschaftssitz aus in alle Richtungen überblickbar sind. Ebenso sind dem Raum psychologische Aspekte inhärent. Selbiges ist auch auf Gemälden oder wohl gerade auf Gemälden zu beobachen. Vieles ist mir selbst ein Vierteljahrhundert danach erinnerlich, wogegen ich vieles andere schon längst vergessen habe. Mit größtem Eifer besuchte ich diese Vorlesung. Letztlich geht auch die interessanteste Vorlesung einmal zu Ende, und an diesem Ende stand eine Prüfung. Ich entschied mich sie mündlich zu absolvieren, aus dem einfachen Grund, weil ich mündlich immer viel sicherer war. Ich bereitete mich gewissenhaft auf diesen Tag vor, denn ich wollte besonders brillieren. Die Prüfung fand am Nachmittag statt, aber ich verbrachte den ganzen Tag auf der Universität, da ich andere Lehrveranstaltungen besuchte. In der Früh traf ich eine Freundin, die eben jene Vorlesung ebenfalls gehört hatte und während wir einen Kaffee miteinander tranken, kamen wir auf die Prüfung zu sprechen.

„Ich mache die Prüfung nicht bei dem“, sagte sie entschieden, aber für mich völlig unerwartet.

„Warum nicht?“, fragte ich irritiert.

„Hast Du es denn nicht gehört?“, entgegnete sie bloß.

„Was bitte soll ich gehört haben?“, fragte ich etwas ungeduldig, „Erzähl endlich und spann mich nicht unnötig auf die Folter.“

„Es geht das Gerücht, nun ja, dass er während er Prüfungen besonders freundlich zu Studentinnen sein soll.“

„Und was heißt das?“, fragte ich nun nochmals, mit aller Naivität.

„Kannst Du Dir das nicht denken?“, damit verabschiedete sie sich und ließ mich mit einem Gerücht und halbausgegorenen Hinweisen sitzen.

Phantasievoll wie ich war und bin, kamen mir die schändlichsten Gedanken in den Kopf und den ganzen Vormittag über kam ich nicht zur Ruhe.

„Solche Vorwürfe fallen ja schließlich nicht vom Himmel“, dachte ich, „Irgendwas muss ja da dran sein.“ Ich war schon nahe daran mich zu entschuldigen, als ich mich endlich zur Ordnung rief, denn seit wann war ich bereit auf irgendein Geschwätz von irgendjemanden zu hören, einfach so. Ich ging also zur Prüfung, die in einem kleinen Büro stattfand, in dem er untergebracht war.

„Ich werde die Türe offenlassen, wenn es Ihnen recht ist, damit niemand glaubt wir hätten etwas zu verbergen“, begann er, was in mir den Eindruck erweckte, als wären ihm eben jene Gerüchte auch schon zu Ohren gekommen.

„Nun, wie hat Ihnen die Vorlesung gefallen?“, begann er das Gespräch, und ich gehöre nun mal zu den Menschen, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten, so dass ich ihm ausführlich erzählte. Er saß mir gegenüber, auf seiner Seite des Schreibtisches, entspannt zurückgelehnt und hörte mir zu. Nachdem ich alle Aspekte erwähnt hatte, die mir wichtig erschienen, er wohl auch hier und da nachgefragt hatte, wusste ich nicht mehr weiter und um den Moment des Schweigens zu überbrücken, merkte ich an, dass ich ja eigentlich gekommen wäre um geprüft zu werden, und nicht zum Plaudern.

„Ich wüsste nicht, was ich Sie noch fragen könnte“, erwiderte er, während er das Zeugnis ausfüllte und mir reichte, „Sie haben mir alles bereits erzählt.“

Freudestrahlend verließ ich sein Büro. Wie fatal hätte es enden können, hätte ich auf diese Gerüchte gehört. Wie ich einige Tage später erfuhr, spielte wohl eine Rolle, dass er eine Gastprofessur bekommen hatte, zumal er aus einem gänzlich anderem Bereich kam. Auch war er für einen Professor noch sehr jung, was in Wien allemal noch immer ein Auswahlkriterium darstellt. Seitdem weiß ich, dass es immer ratsam ist nicht blindlings irgendwelchen Halbwahrheiten zuzustimmen, denn die Folgen können fatal sein.

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Darpan

Darpan bewertete diesen Eintrag 06.01.2016 18:45:05

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