Atomkriegsszenarien 2030 unter Berücksichtigung des Ukrainekriegs und des Krimstreits

Bei der jüngsten zumindest rhetorischen Eskalation des Ukrainekrieges spielte die russische Seite, insbesondere Präsident Putin, die angebliche Bedrohung hoch, die ein hypothetisches NATO-Mitglied Ukraine bzw. Westukraine, bzw. dessen hypothetische atomare Bewaffnung für die russische Seite darstellen würde.

(Damit soll nicht gesagt sein, dass auf westlicher Seite keine rhetorischen Übertreibungen stattfinden)

Dabei wird auch oft erinnert an die Kuba-Krise des Jahres 1957, allerdings unter Vertuschung der Tatsache, dass es damals keine Langstreckenraketen (ICBMs - Intercontinental Ballistic Missiles) gab.

Generell ist das Denken von Völkern und Medien oft orientiert an vergangenen Krisen, die für die Gegenwart und für die Zukunft keine Bedeutung haben, und daher orientiert sich die Rhetorik der Politiker, auch bzw. ganz besonders dann, wenn sie es besser wissen, an vergangenen Bedrohungsszenarien, die für die Gegenwart bzw. Zukunft keine oder eine marginale Rolle spielen.

Und so ist das auch in der Frage des Ukrainekrieges, der NATO-Osterweiterung, etc.

Sowohl die westliche wie auch die russische Rhetorik tut weitgehend so, als würden wir noch in einer bipolaren Welt geben, in der Westblock NATO und Ostblock rund um Russland/ Sowjetunion die einzigen beiden militärisch fähigen Blöcke wären.

Allerdings hat sich die Welt seit der Kuba-Krise, seit den 1940er-, 1950er-Jahren stark geändert - anders als damals damals gibt es heute nicht 2 Atommächte, sondern geschätzte 15, anders als damals gibt es heute Satellitenüberwachung der verschiedensten Ländern, anders als damals gibt es heute U-Boot-Flotten, die die Stationierung von Atomraketen auf Land überflüssig oder sogar schädlich machen, anders als damals gibt es heute Langstreckenraketen, die Stationierung "direkt vor der Haustüre" überflüssig machen.

Spielen wir das theoretische Szenario einmal durch:

Angenommen, zumindest die Westukraine wäre im Jahr 2030 NATO-Mitglied und z.B. US-Atomraketen wären in der Westukraine stationiert und würden auf Russland bzw. Moskau abgeschossen.

Dann würden russische Radaranlagen und Satellitensysteme der verschiedensten Staaten die Abschüsse wahrscheinlich wahrnehmen, und der Aggressor (in diesem Fall NATO bzw. einzelne NATO-Mitglieder) wären eindeutig identifiziert.

Wenn z.B. chinesische und brasilianische Satellitenaufnahmen die Abschüsse von der (West-)Ukraine aus bestätigen würden, dann hätte Russland auch gute Chancen, eine UNO-Vollversammlungsresolution zu erreichen, die Russland ein Recht auf Reparationen, Kompensationen und/oder Gegenschläge in verhältnismäßiger Vernichtungskraft zuspricht, oder auf Aufhebung von Sanktionen.

Daher wird die NATO, falls sie absichtlich einen atomaren Schlag gegen Russland führen wollte, vermutlich nicht auf landgestützte Atomwaffen setzen, die leicht zu identifizieren sind, sondern eher auf U-Boote mit Atombewaffnung, die gute Chancen haben, einen Erstschlag zu führen und damit unerkannt davonzukommen.

In einer multipolaren Welt machen solche Erstschlagverschleierungstaktiken viel mehr Sinn, als sie in einer bipolaren Welt machen. Wenn nur zwei Staaten Atomwaffen besitzen, kann eine Atommacht einfach davon ausgehen, dass es die andere Atommacht war, die den Erstschlag führte, in einer Welt mit 15 Atomwaffenstaaten ist das viel komplizierter.

So könnte die NATO beispielsweise einen atomaren Erstschlag gegen Russland von U-Booten aus führen, die kaum zu entdecken, zu verfolgen und zu identifizieren sind, und dann hinterher sagen, dass es die Chinesen gewesen wären, oder sonstwer, oder dass es eine von den 13 anderen Atommächten gewesen sein könnte.

Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt: Russland könnte U-Boote mit Atomwaffen vor der Küste der USA oder der Küste Großbritanniens stationieren, und einen Abschussbefehl erteilen, und dann sagen, dass es die Chinesen gewesen wären, oder eine andere der 13 sonstigen Atommächte.

Und war bei Russland besonders ins Gewicht fällt, ist, dass Sewastopol auf der Krim der einzige russische Flottenhafen ist, der ganzjährig einfrei ist, während Murmansk (ganz im Norden) und Wladiwostok (Ganz im Osten bei Alaska) im Winter zufrieren.

Und genau das macht Sewastopol und die Krim so interessant und so wichtig für beide Seiten:

ein weitgehend symmetrisches Gleichgewicht des atomaren U-Boot-Schreckens würde erheblich verändert zu einer westlichen Dominanz, wenn Russland den Flottenhafen Sewastopol verlöre, zumindest solange die Erderwärmung nicht dafür sorgt, dass Murmansk und Wladiwostok ganzjährig eisfrei sind, und das kann noch dauern.

Das Kriterium des eisfreien Flottenstützpunkts spielte auch eine Rolle bei der Intevention Russlands im Syrienkrieg auf Seiten der Familie Assad: mit Latakia und Tartus in Syrien verfügt Russland über zwei Stützpunkte bzw. Flottenstützpunkte im Mittelmeer, die seine strategische Flexibilität stark erhöhen, und die unabhängig machen von der Frage, ob die Türkei als NATO-Mitglied russische Flottenverbände durch die türkische Bosporus-Dardanellen-Mehrenge passieren läßt, was die Türkei rein seerechtlich könnte. Das Handeln von Putin hat so gesehen durchaus das, was der frühere US-Aussenminister Henry Kissinger (Republ. Partei) mit dem Spruch "Mr. Putin is a serious strategist" )"Herr Putin ist ein ernstzunehmender Stratege" ausdrückte.

Unter dem Gleichgewicht des atomaren Schreckens versteht man, dass keine Atommacht einen Erstschlag mit Atomwaffen führt, wenn sie weiss, dass die andere Seite mit Atomwaffen zurückschiessen wird. Und genau deswegen sind landgestützte Atomwaffen wegen ihrer hohen Identifizierbarkeit eher Defensivwaffen, bzw. Zweitschlagwaffen, während atomar bewaffnete U-Boote sich wegen ihres weitgehend unsichtbaren Charakters eher als Erstschlagwaffe eignen, ebenso wie vielleicht atomar bewaffnete Langstreckenbomber mit Stealth-Fähigkeit, als Tarnkappenfähigkeit, die schwer bis gar nicht zu orten sind.

Welche Position man nun im Ukrainekrieg bezieht, hängt (wenn man jetzt von Fragen wie dem Führungsstil absieht - eher autoritär-zaristisches Russland oder eher demokratisch-gewaltenteiliger Westen) auch sehr wesentlich von der Frage ab, ob man eine Hegemonie (also eine westliche Dominanz in großen Teilen der Welt) für besser hält, oder eine Bipolarität, also die Möglichkeit für Regierungen, zwischen Westorientierung und Russland-Orientierung zu wählen. Für beides gibt es Argumente.

Das Erstaunliche am nun schon 8 Jahre währenden Ukrainekrieg ist für mich, dass keine der beiden Seiten, weder der Westen noch Russland, die Oberschlesien-Interpretation des Selbstbestimmungsrecht der Völker auch nur erwähnte:

im Jahr 1919 gab es in verschiedenen Regionen Europas Volksabstimmungen, darunter auch in Kärnten und in Oberschlesien: in beiden Fällen kam eine 60:40-Mehrheit im Abstimmungsgebiet heraus, aber die Anwendung des Prinzips in beiden Fällen war völlig unterschiedlich:

in Kärnten wurde das gesamte Abstimmungsgebiet Österreich zugeschlagen, in Oberschlesien wurde das Abstimmungsgebiet in etwa im Verhältnis 60:40 geteilt zwischen Deutschland und Polen.

Für die Unterschiedlichkeit der Verfahrensweisen gibt es unterschiedliche Erklärungen:

1.) Theorie der Geostrategie: die durchführenden Großmächte begünstigten bei der Gebietsvergabe immer die Kleinstaaten bzw. kleineren Staaten (im einen Fall Österreich, im anderen Falle Polen), und benachteiligten die größeren Staaten (im einen Fall Deutschland, im anderen Fall Jugoslawien), vielleicht damit keine übermächtigen Großstaaten entstehen können, die eine Bedrohung für ihre Nachbarn werden, ein Kalkül, das man auch bei Chruschtschows volksabstimmungloser Übertragung der Krim an die Ukraine in den 1950er Jahren vermuten kann: Schwächung des größeren Russland, Stärkung der kleineren Ukraine.

2.) Theorie der natürlichen Grenzen: die unterschiedliche Interpretation des Selbstbestimmungsrecht erfolgte wegen natürlicher Grenzen, den Karawanken im einen Fall, dem Flussverlauf im anderen Fall.

Was hätte nun die Oberschlesien-Interpretation des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie in der UNO-Charta verankert, für die Krim bedeutet, wenn die Krim-Abstimmung einigermaßen korrekt durchgeführt worden wäre, was sie nicht wurde ?

Es hätten sich bei korrekter Durchführung (mit korrekter nicht-manipulativer Fragestellung, ohne Druck, ohne zeitliche Überrumpelung, die es der Gegenseite unmöglich machte, ihre Position zu erklären und darzulegen) im Norden der Halbinsel Krim wahrscheinlich regionale ukrainisch-krimtatarische Mehrheiten ergeben, im Süden und im Osten russische regionale Mehrheiten und die Halbinsel Krim wäre gemäß der Oberschlesien-Interpretation wahrscheinlich geteilt worden in einen ukrainischen Norden bzw. Nordwesten und in einen russischen Süden bzw. Südosten.

Allerdings hatte sich der Westen (also EU und USA) durch die sehr fragwürdige Festlegung der Badinter-Kommission im Jugoslawienkrieg der 1990er Jahre (dass die alten innerjugoslawischen Republiksgrenzen die Grenzen für die neuen Staaten darstellen müssen und dass die Oberschlesien-Interpretation nicht zur Anwendung kommen dürfe), den Weg zu einer Teilung verbaut, ebenso wie im Fall der Abspaltung des Kosovo (als der Westen den ganzen Kosovo von Serbien abspaltete, und nicht oberschlesien-mäßig der mehrheitlich serbische Ostkosovo abgespaltet wurde, u.U. auch mit Anschlussrecht an Serbien).

Auch das Reziprozitätsprinzip, also eine Region mit A-lern und B-lern als Bevölkerung zwischen Staat A und Staat B so zu teilen, dass genausoviele A-ler in B-Land leben wie B-ler in A-Land, wurde durch verschiedene westliche Festlegungen verunmöglicht, obwohl diese wechselseitige Verflechtung eine sehr gute Garantie für die gegenseitige Gewährung von Minderheitenrechten sein kann: ein A-Staat, der bei Reziprozität seine B-ler schlecht behandelt, muss damit rechnen, dass der B-Staat seinerseits als Vergeltung die dort lebenden A-ler schlecht behandelt, und wird das daher nicht tun.

Diese Reziprozität hätte auch auf die mehrheitlich serbische Krajina und auf ähnliche Fälle angewendet werden können.

Allerdings hätte eine Orientierung an diesem Reziprozitätsprinzip wahrscheinlich in Erinnerung gerufen, dass Großbritannien bei der Teilung in Nordirland und Irland genau dieses Reziprozitätsprinzip verletzt hatte, weil durch die britische diktierte Teilung viele pro-irische Katholiken im britischen Nordirland landeten, hingegen praktisch keine pro-britischen Protestanten im katholischen Irland, was nebenbei auch eine Art Garantie für die Benachteiligung der pro-irischen Katholiken in Nordirland war und für das Entstehen des IRA-Terrors.

Für mich als jemanden, der aus einer katholisch-protestantischen Mischfamilie stammt, ist das ein besonders zwiespältiger Fall.

Aber zurück zu den Flotten und zum Ukrainekrieg: jüngst musste der deutsche Vizeadmiral Kai-Uwe Steinbach wegen oder anhand des Vorwands einer in der Tat unglücklichen Formulierung zurücktreten, bzw. zum Rücktritt zwingen lassen. Er hatte bei einer Konferenz in Indien gesagt, die Krim sei verloren, und nichts würde sie zurückbringen, und im Umgang mit Putin brauche es mehr Respekt.

Die Ablöse wurde vom früheren Bundeswehr-Generalinspektor Kujat ziemlich scharf kritisiert:

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/admiral-schoenbach-ruecktritt-105.html

(mit SiebenMinuten-Video aus der Tagesschau)

Man kann auch den Eindruck haben, diese erzwungene Ablöse von Schönbach sei nur eine symbolische Geste, die von der geringen militärischen Unterstützung Deutschlands für die Ukraine ablenken soll. Manchmal kann man den Eindruck haben, die Deutschen seien Meister darin, eine Art der kritischen Bündnis-Solidarität zu üben.

Ebenso wie das deutsche Militär manchmal wesentlich vernünftiger erscheint als die deutsche Politik, ebenso erscheint das russische Militär, bzw. das russische Verteidigungsministerium manchmal wesentlich vernünftiger als die russische Politik, bzw. die Putin-Politik: so schlug der russische Verteidigungsminister Schojgu vor, die russische Hauptstadt weiter nach Osten zu verlegen, was Bedrohungsängste in Westrussland, bzw. auch in der jetzigen Hauptstadt Moskau verhindern würde, und zu einem konstruktiveren Verhältnis Russlands zum Westen beitragen könnte.

Russland ist zwar militärisch eine Weltmacht, mit dem ex-aequo größten Atomwaffenarsenal der Welt, aber weder bevölkerungsmäßig noch wirtschaftlich ein ernstzunehmender Rivale mit dem Westen bzw. USA bzw. EU, während China das in Hinsicht auf Bevölkerung und Wirtschaft sehr wohl ist.

Eine Konfrontation zweier absteigender Großmächte (Westen und Russland) läuft daher Gefahr, unabsichtlich mit China als lachendem Dritten eine neue Dominanz zu schaffen.

Was weder im Interesse von USA noch von EU noch von Russland sein kann.

Apropos U-Boote und Atomwaffen: ein weiteres Szenario für einen atomaren Krieg (oder Schlag, was die kleinere Version ist), ist neben dem indisch-pakistanischen Konflikt rund um Kaschmir (beide besitzen Atomwaffen), der israelisch-iranische Konflikt:

beide Staaten haben Küstenlinien und sind daher verwundbar für atomare U-Bootkriegsführung, und beide sind entweder Atommächte oder potenzielle Atommächte: ein Abschuss hypothetischer iranischer Atomwaffen von einem U-Boot im Mittelmeer aus oder im Golf von Akaba bzw. Golf von Eilat aus hätte gewisse Chancen, unerkannt durchzukommen, und ist daher die wahrscheinlichere Variante einer Atomschlagsführung, ebenso wie der Abschuss israelischer Atomwaffen auf Teheran von einem israelischen U-Boot vom persischen Golf aus oder vom Pazifik aus die wahrscheinlichere Variante ist. In beiden Fällen eben wegen der wahrscheinlicheren Unidentifizierbarkeit.

In dem Zusammenhang mit wahrscheinlich unidentifizierbarer atomarer U-Boot-Kriegsführung besonders brisant sind deutsche U-Boot-Lieferungen (Thyssen-Krupp) an Israel:

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/u-boot-deal-israel-101.html

Gemäß dem Reziprozitätsprinzip könnte diese Lieferungen auch dazu führen, dass der Iran seine U-Boot-Flotte ausbaut, womit sich der Sager von Ex-Kanzlerin Merkel von der "Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson" in sein Gegenteil verkehren würde.

(dazu ein anderes mal, weil auch das ein größerer Blog wird).

Auf jeden Fall halte ich vom Säbelrasseln mit Übungen zum Beispiel der israelischen Luftwaffe, iranisches Atomprogramm zu bombardieren, im engeren Sinne bzw. in folgender Hinsicht nicht viel: seit der Bombardierung des irakischen Atomreaktorbauprojekts Osirak in den 1980er Jahren muss jedem, auch dem Iran klar sein, dass die Israelis sowas machen (mit Rücksichtnahme auf Jordanien damals), weshalb man annehmen kann, dass ein iranisches Atomprogramm, falls es existiert, weit eingegraben tief unter der Erde stattfindet, womit es für die isrelische Luftwaffe unerreichbar ist.

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Kreisel

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