Ja, sie war möglicherweise zu lange an der Macht, und entsprach daher nicht der Sehnsucht nach einem Tapetenwechsel nach 10 Jahren Kanzlerschaft, zum Beispiel.
Aber so zu tun, als wäre Merkel verantwortlich für alles, ist Unsinn. Merkel hat sich mit den Vorteilen und Nachteilen der Globalisierung abgefunden und keine anderen Wege gesucht wie z.B. Orban das zu tun scheint.

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Aber jeder andere Politiker und jede andere Politikerin hätte wohl in der deutschen Situation ähnlich gehandelt.
Merkel hat die Dinge mehr oder weniger laufen lassen, was in Anbetracht der deutschen Wirtschaft und ihrer Exportstärke unter Umständen gar nicht so falsch war.
Allerdings äußert sich darin auch die Kehrseite des Merkel-Stils: dass es eine Art Führung von Hinten ist, eine Art der Fehlervermeidung durch defensives Weiterlaufenlassen.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler bezeichnete Merkel einmal als "Defensivkünstlerin". Ob er dabei daran dachte, dass Defensivkunst in der Fussballsprache Techniken wie Schweizer Riegel (übrigens erfunden vom österreichischen Trainer Karl Rappan) und Catenaccio bedeutet, die es ermöglichen, auch mit dem schlechteren Team zu gewinnen, sei einmal dahingestellt. Defensivkunst im Fussball bedeutet auch Torlosigkeit und Langeweile, und vielleicht wegen der Langweiligkeit von Merkels Regierungsstil ohne Genieeinlagen, aber auch meistens ohne gravierende Fehler wurde sie am Ende ihrer Amtszeit so unbeliebt.
Der Handlungsspielraum nationalstaatlicher Politik ist in Zeiten der Globalisierung begrenzt, auch im Falle Deutschlands begrenzt.
Was man ihr vorwerfen kann oder muss, ist mangelnde Streitlust, bzw. mangelnde Streitkulturlust. Sie hatte eine Art geradzu österreichischer Konsenssucht, die frei nach Erhard Busek darin besteht, den Konsens zu suchen, bevor man überhaupt weiss, was der Konflikt ist.
Und sie umschiffte heikle Themen sehr oft durch mehr oder weniger nichtssagende Phrasen, die zwar ermöglichten, dass sie kurzfristig an der Macht blieb. In diesem Schweigekanzlerin-Stil ähnelte Merkel sehr Helmut Kohl, bei dem man dasselbe Herrschaftsgehaben "Aussitzen" nannte.
Auch den Vorwurf, sie sei eine "schwäbische Hausfrau", kann ich keineswegs unterstützen. Erstens deswegen, weil sie keine Schwäbin ist, sondern aus Ostdeutschland kommt, und zweitens, weil sie studierte Physikerin ist, und keine Hausfrau.
Wenn die Alternative zur "schwäbischen Hausfrau", die nie mehr ausgibt, als sie hat, der Hallodri (Taugenichts, Spitzbub, Narr) sein soll, der Schuldenmachen und Kridabetrug betreibt, bis ihn Polizei oder Finanzamt einsperren, dann ist mir die schwäbische Hausfrau noch allemal lieber.
Wenn der "schwäbische Hausfrau"-Vorwurf an Merkel sein soll, sie hätte mehr Schuldenmachen und die daraus folgende nächste Finanzkrise zulassen sollen, dann muss man froh sein, dass sich die schwäbische Hausfrau durchgesetzt hat und nicht ihre Kritiker. Und dieser Vorwurf an Merkel, eine schwäbische Hausfrau zu sein, hat auch etwas sexistisches: so nach dem Motto "Typisch Frau, nur fürs Staubsaugen zu gebrauchen, aber nicht für Politik".
Der Pastorentochter-Vorwurf an Merkel wäre eigentlich nicht so schlimm, wenn nicht Merkel aus ihrer Sicht des Christentums eine absolut unkritische Sicht des Islam abgeleitet hätte, unkritische Haltung zu großer islamischer Zuwanderung inklusive. Hier war ihre religiöse Verankerung und der Aberglaube, der Islam sei praktisch dasselbe wie das Christentum, das falscheste, was passieren konnte.
Aber diesen Fehler, die Gefahren des Islam unterschätzt zu haben, kann man genauso der SPD, den Grünen, der Linkspartei oder den Piraten machen, so gesehen sind Vorwürfe, die sich exklusiv an Merkel richten, falsch, weil sie mit Ausnahme der AfD und einiger, weniger unabhängiger Publizisten wie Hamed Abdel-Samad und Henryk Broder auf fast die gesamte politisch-mediale Klasse Deutschlands zutreffen.
Und ja, ich wiederhole, was ich schon früher sagte: den Spruch aus der Kleinkinder-Serie "Bob, der Baumeister", "Yo, wir schaffen das!" zu kopieren, war ein großer Fehler, weil der alle deutschen Wählerinnen und Wähler gleichsam zu Kleinkindern degradierte, die die politische Obrigkeit in Form von "Mutti" Merkel bevormunden und manipulieren dürfe.
Kleinkinderserie Bob, der Baumeister mit dem Song "Yo, wir schaffen das !"
Gleichsam symptomatisch für Merkels Führungsstil.

Fraglich, Wahrscheinlich Commos CC BY SA 3.0, Herkunft Adenauer-Stiftung https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Kohl#/media/File:Helmut_Kohl_1989.jpg
Helmut Kohl, deutscher Bundeskanzler von 1982 bis 1998, mit seiner Technik des "Aussitzens" praktisch der Lehrmeister von Merkels Regierungsstil. Merkel wurde auch als "Kohls Mädchen" bezeichnet.
Dass Merkel "nur" den Parteivorsitz aufgibt, aber nicht die Kanzlerschaft, dürfte nicht ein genialer Trick sein, um der AfD die Merkel-ist-Weg-Feiern zu vermiesen, wie die extreme Linke vermutet, sondern eher ein Versuch, den Rekordwert in Sachen Dauerkanzlerschaft zu erreichen: noch ein paar Jahre mehr und Merkel würde in Amtszeitlänge Kohl und Adenauer übertreffen. Oder auch vielleicht ein absichtliches Verlängern der AfD-Wahlerfolge durch Merkel, die länger Kanzlerin bleibt.
Allerdings ist diese Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz möglicherweise auch eine Führungsschwäche, die einer europäischen Führungsmacht nicht anstünde.
Helmut Schmidt, deutscher Kanzler von 1974 bis 1982, bezeichnete es einmal als den größten Fehler seines Lebens, der Trennung in Kanzleramt und Parteivorsitz zugestimmt zu haben. Dadurch spaltete sich die SPD in der NATO-Nachrüstungsfrage und verlor die Macht für lange Zeit, nämlich 16 Jahre.

lead & conduct / Ziegler Film / ZDF
Helmut Schmidt, deutscher Kanzler 1974 bis 1982, der das Merkel-Modell, Kanzleramt und Parteivorsitz zu trennen, in seinem Fall (ca. 1979) für den größten Fehler seines Lebens hielt.
Der halbe Rücktritt von Merkel ist auch deswegen problematisch, weil sie nun Gefahr läuft, in Verhandlungen als "lame duck" ("lahme Ente" ) zu gelten, als jemand, mit dem man besser keine Abkommen schliesst, weil ihre Amtszeit sowieso begrenzt ist und der/die Nachfolgende alles oder vieles wieder umwerfen kann.
Und der halbe Rücktritt von Merkel könnte auch dazu dienen, die Chancen ihrer Favoritin und Kronprinzessin für die Nachfolge, Kramp-Karrenbauer zu erhöhen und im Umkehrschluss die Chancen der rivalisierenden Männer (Spahn, Merz, ...) zu senken.
Auch folgende Optik könnte schlecht sein: das Ultimatum von Nahles und der darauffolgende halbe Rücktritt von Merkel sehen irgendwie regierungsintern abgesprochen aus. Ein wirkliches Ultimatum beruht darauf, dass man nicht weiss, wie der Andere bzw. die Andere darauf reagieren wird.
Aber wenn die Reaktion auf Nahles´ Ultimatum regierungsintern vorher abgesprochen war, was man vermuten kann, und was zum Stil der Beiden irgendwie passen würde, dann sähe das von der Optik her aus wie eine Wählerverarsche: ein Scheinultimatum, das nur dazu da ist, Nahles im Amt zu halten, indem CDU/Merkel ihr Durchsetzungskraft zugesteht.
In Österreich führten diese Verdachtsmomente der regierungsinternen "Mauscheleien" und "Packeleien" zu starker Politikverdrossenheit und zum Aufstieg radikaler Parteien.