EU-Krise nach Brexit: Mächtebalance zerstört ?

Der Brexit, falls er denn tatsächlich stattfindet, könnte eine EU-Krise auslösen: denn die EU beruhte jahrzehntelang auf fein austarierten Gleichgewichten, zum Beispiel zwischen katholisch-dominierten bzw. kulturell post-katholischen Ländern (mit F, I, Sp, Pl als den größten) und protestantisch-dominierten bzw. beeinflußten bzw. kulturell post-protestantischen Ländern (mit D und GB als den größten), zum Beispiel zwischen romanischen Ländern und angelsächsisch-germanischen Ländern.

Der Brexit verschiebt diese Gleichgewicht total: Deutschland ist zwar, was die Bevölkerungsgröße betrifft, knapp am größten, aber durch den Brexit verlieren die norddeutschen Protestanten ihren bedeutendsten innereuropäischen Bündnispartner, in allen Fragen, in denen die Religion oder die religiös-kulturelle Prägung eine Rolle spielt.

Das Verschwinden der protestantischen Sperrminderheit durch den Brexit könnte zu einem Dominoeffekt führen: wenn die jahrzehntelange protestantische Sperrminderheit durch den Brexit fällt, könnte bei allen protestantischen Ländern der Eindruck entstehen, die gesamte Geschäftsgrundlage der EU habe sich dermaßen radikal gewandelt, dass eine EU-Mitgliedschaft keinen Sinn mehr macht: dem Brexit könnte der PREXIT (der Exit ALLER protestantischen Länder) folgen, der Nexit (Niederlande), Swexit (Schweden), Däxit (Dänemark), Fixit (Finnland), etc. Deutschland und Belgien sind ca. 50:50-Mischstaaten zwischen Protestantismus und Katholizismus.

Auch der traditionelle "deutsch-französische Motor", was man auch immer von ihm halten mochte, beruhte auch auf der Prämisse, dass vor dem Brexit beide Staaten in vielen Fragen ein symmetrisches Drohpotenzial hatten: deutsche Regierung konnten im Fall der Ablehnung durch Paris in vielen Fällen sagen "Na gut, dann fragen wir London, ob es unseren Vorschlag unterstützt", ebenso wie französische Regierungen im Falle der Ablehnung durch Berlin in vielen Fällen sagen konnten: "Na gut, dann fragen wir z.B. Rom, ob es unseren Vorschlag unterstützt".

Und nun ? Was die Optionen betrifft, so hat sich die Lage für Deutschland (und damit alle Protestantischen Länder) verschlechtert; im Vergleich zum romanisch-katholischen Block des "Club Mediterrane" (insbesondere F-Sp-I mit ca. 160 Millionen) Bürgern ist Deutschland mit ca. 80 Millionen ein

Zwerg. Die fünfte "Halbgroßmacht" (ca. 40 Millionen Bürger, halbsoviel wie D) Polen ist einerseits katholisch, aber andererseits nicht romanisch, nicht mediterran, und aus Gründen der Nachbarschaft zu D nicht so eindeutig zuordenbar.

Ironischerweise hat der Brexit und die damit für Deutschland und Merkel verschlechterte Position türkische Medien absolut nicht davon abgehalten, Merkel als Hitler und damit als Diktatorin Europas zu porträtieren, so nach dem Motto "Wen interessieren Fakten, wenn man aus längst vergangener Geschichte immer noch eine zugkräftige Schlagzeile machen kann ?"

Das Treffen der "großen Drei" (D,F,I; Merkel-Hollande-Renzi), logischerweise in Italien, das zusätzlich mit Draghi den EZB-Chef stellt, bedeutet unter Umständen einen Epochenbruch.

"Pecunia - Nervus Rerum": das Geld ist der Nerv aller Dinge, sagten schon die antiken Römer. Verschiedene Analytiker haben darauf hingewiesen, dass die Schuldenfrage auch eine Glaubensfrage ist: die Schuldenquote bei den protestantischen Ländern ist tendenziell niedriger als bei den katholischen.

http://de.statista.com/statistik/daten/studie/163692/umfrage/staatsverschuldung-in-der-eu-in-prozent-des-bruttoinlandsprodukts/

Italien: 135,4%

Spanien: 100,5%

Frankreich: 97.5%

GB: 87,7%

Deutschland 71,1%

(Österreich liegt mit 86.9% einigermassen im Mittelmaß, aber für ein mehrheitlich katholisches bzw. post-katholisches Land recht gut, vielleicht deswegen, weil Österreich wegen der gemeinsamen Sprache stark vom Lutherismus bzw. vom Schweizer Calvinismus beeinflußt ist, auch der Katholizismus).

Auf der anderen Seite: wird der Brexit überhaupt stattfinden ? Britische Volksabstimmungen sind nicht verbindlich. Motivforschung könnte den Blick auf die Brexit-Votums-Relevanz verändern.

Angenommen, für vier Prozent der Brexit-Befürworter war die deutsche Willkommenskultur des Vorjahres oder der Türkeideal der ausschlaggebende Abstimmungsgrund, dann könnten Änderungen dabei die Lage grundlegend ändern. Oftmals haben Referenden in Sachfragen Aspekte von Protestvoten gegen die momentane Regierung und haben mit der Sache, um die es eigentlich geht, nicht viel zu tun. Der chaotische Eindruck mit dem Streit zwischen britischem Premier und Finanzminister rund um etwaige Steuererhöhungen waren unter Umständen der ausschlaggebende Grund für das Brexit-Votum, und gar nicht die Brexit-Frage, um die es eigentlich hätte gehen sollen.

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