Verteidigungsminister Kunasek schloss sich kürzlich einem ORF-Bericht zufolge einer Forderung des österreichischen Generalstabs an, das österreichische Verteidigungsbudget zu erhöhen, weil ansonsten das österreichische Bundesheer seinen verfassungsmäßigen Auftrag nicht mehr erfüllen könne.

Zu den Aufgaben des österreichischen Bundesheeres gehört laut Verfassung:

1.) die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren

2.) insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität

3.) verfassungsmäßige Einrichtungen und ihre Handlungsfähigkeit sowie die demokratischen Freiheiten der Einwohner vor gewaltsamen Angriffen von außen zu schützen und zu verteidigen

Diese Verfassungsbestimmung stammt aus dem Jahr 1955, als die Zweiblöckekonfrontation vorherrschte (mit NATO und Warschauer Pakt standen zwei rivalisierende Systeme einander gegenüber, und Österreich lag genau in der Mitte). Damals war Österreich kein Mitglied von EU, EG, EWG, Montanunion oder was auch immer.

Die Umstände seither (also in den letzten 64 Jahren) haben sich beträchtlich geändert: der Warschauer Pakt ist zusammengebrochen ebenso wie die Sowjetunion. Die heutige EU erweiterte sich beträchtlich; die NATO, an die früher Österreich nur westlich grenzte, ist durch die Aufnahme von Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien um Österreich herumgewachsen. Auch zahlreiche Nachbarsnachbarsländer und weitere osteuropäische Staaten wurden NATO-Mitglieder.

Also wer sollte die Unabhängigkeit Österreichs und das Staatsgebiet gefährden ? Wenn man davon ausgeht, dass die NATO militärisch nicht zu durchdringen ist (auch wegen der nuklearen Abschreckung), dann kann Österreich auf dem Landweg oder Luftweg nur von der NATO selbst (in diesem rein theoretischen Fall dürfte Verteidigung sinnlos sein) oder der Schweiz oder Liechtenstein angegriffen werden.

Zu 2.) Aufrechterhaltung der Neutralität: erstens einmal stellt sich die Frage, ob der EU-Beitritt als späteres Ereignis (1995) als der Neutralitätsbeschluss diesen nicht derogiert (also aufhebt).

Zweitens stellt sich die Frage, ob der Neutralitätsbeschluss nicht Resultat einer Erpressung ist ("Wenn Ihr Euch nicht für neutral erklärt, dann bleibt unsere rote Armee ewig" ) und somit rechtlich äußerst bedenklich. Artikel 51 und 52 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (aus dem Jahr 1969, Text) besagen, dass Zustimmung durch Zwang einen rechtsungültigen Vertrag zur Folge hat. Allerdings war der Beschluss des angeblich "aus freien Stücken" beschlossenen Neutralitätsgesetzes vor 1969.

Drittens ist laut Neutralitätsgesetz die Neutralität eine zielgebundene: "zum Zwecke der Aufrechterhaltung ... erklärt Österreich seine immerwährende Neutralität."

D.h. wenn die Neutralität nicht mehr dazu dient oder sogar daran hindert, die Unabhängigkeit etc. aufrechtzuerhalten, dann gilt sie auch nicht mehr, könnte man argumentieren.

Mit anderen Worten: die Umstände haben sich in den letzten 64 jahren so stark geändert, dass man die österreichischen Verfassungsbestimmungen in Bezug auf Landesverteidigung und Neutralität eigentlich als obsolet, als clausula-rebus-sic-stantibus-ungültig betrachten kann.

Die völkerrechtlichen Grundlagen einer Anwendung dieser Klausel sind:

a) die Änderungen müssen beträchtlich sein

b) die Vertragsparteien dürfen die Änderungen nicht vorhergesehen haben

Gerade die Neutralität und den damit praktisch zusammenhängenden Staatsvertrag kann man als völkerrechtlichen Vertrag betrachten.

Die österreichische Neutralität geht auch auf das Moskauer Memorandum von 1945 zurück, in dem Österreich sich verpflichtete, eine Neutralität nach Schweizer Muster zu praktizieren.

Allerdings hat Österreich sehr oft etwas ganz anderes praktiziert als die Schweiz, zum Beispiel trat Österreich der UNO zu einer zeit bei, als die UNO-Mitgliedschaft in der Schweiz noch als neutralitätswidrig eingestuft wurde, z.B. trat Österreich der EG/EU bei, was die Schweiz auch aus Neutralitätsgründen ablehnte.

Der Unterschied zwischen immerwährender Neutralität und normaler Neutralität ist übrigens, dass ein immerwährend-neutraler Staat sich vertraglich und langfristig zur Neutralität verpflichtet, und nicht nur sich in einem einzigen Konflikt für neutral erklärt. Aber "immerwährend" heisst nicht "ewig", sondern in allen Konflikten der Zeit. Einem immerwährend-Neutralen ist es unmöglich, sich in einem Konflikt zwischen A und B für neutral zu erklären, in einem Konflikt zwischen C und D aber nicht.

CC / z.g. Julian Oster https://de.wikipedia.org/wiki/Kalter_Krieg#/media/File:NATO_vs._Warsaw_(1949-1990).svg

Blöckekonfrontation 1949-1990 im Kalten Krieg, Österreich zwischen beiden

CC / z.g. addicted04 https://de.wikipedia.org/wiki/NATO#/media/File:North_Atlantic_Treaty_Organization_(orthographic_projection).svg

NATO heute

Heute ist die NATO ein Österreich umgebender Schutzschild, der österreichische Landesverteidigung eigentlich unnötig macht, hingegen vor 1990 waren Möglichkeiten, dass einer der beiden Blöcke durch Österreich hindurch den anderen angreifen könnte (speziell durch das Donautal) realistisch. Eine beträchtliche Änderung, die so von sehr vielen nicht vorausgesehen wurde.

Die verschiedenen Großmächte (USA und Sowjetunion) dürften bei der Neutralität verschiedene Hintergedanken gehabt haben:

Die Sowjetunion den, einen neutralen schweizerisch-österreichischen Sperrriegel zwischen Deutschland und Italien zu schaffen, der die NATO schwächt und leichter angreifbar macht, weil NATO-Truppentransporte über den Brennerpass dann rein rechtlich unmöglich sind (ob viele Österreicher ihr Leben geopfert hätten, nur um zu verhindern, dass Truppenverschiebungen zwischen Deutschland und Italien stattfinden, ist sehr fraglich).

Und die USA den Hintergedanken, dass der Abzug der Roten Armee aus einem Land (Österreich) Forderungen nach Ähnlichem auch in anderen Ländern zur Folge haben könnte, was mit dem Volksaufstand in Ungarn 1956 dann auch tatsächlich passierte.

Beide Hintergedanken sind eigentlich neutralitätswidrig, und das ist ein weiteres Paradoxon der Neutralität.

Der Volksaufstand in Ungarn forderte auf ungarischer Seite 2500 Tote, auf russischer/sowjetischer bzw. ihrer Verbündeter 720.

Aufgrund der Grausamkeit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands unterblieben ähnliche Phänomene in anderen Ländern des Ostblocks, aber die moralische Legitimität der Sowjetunion war stark angeschlagen.

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