Sarrazin - die Denkverbote des "Tugendterrors" (political correctness)

Thilo Sarrazin (Ex-SPD Senator) rechnet in seinem jüngsten Buch "Wunschdenken" mit Merkel ab, weil sie in der Flüchtlingsfrage mit ihrer "Willkommenskultur" nicht im Interesse der Deutschen handelt. Deutschland könne hunderttausende Flüchtlinge zwar versorgen, aber nicht integrieren. Ein weiteres provokantes Buch von ihm war "Deutschland schafft sich ab". Gelesen habe ich

Sarrazin's "Tugendterror" wider einengender Denkverbote und Tabus, jedoch überschreitet er unsensibel auch immer wieder Grenzen..., 23. Juni 2014 AMAZON/rezensiert von E. Bauer: Der neue Tugendterror: Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland http://www.amazon.de/review/R1COLR1T23JEP3?ref_=pe_780061_41837241

Sarrazin befindet, dass vom Mainstream Menschen mit abweichenden Positionen trotz im Grundgesetz bzw. MRK garantierter Meinungsfreiheit in einer moralisch intoleranter gewordenen Gesellschaft zunehmend ins Out gedrängt und sozial isoliert werden. Gesellschaftliche Verhaltenscodes verengen die Grenzen unseres Denkens und führen zu einem neuen Spießertum.

Tugendwahn der "Political Correctness":

"Gesellschaften, die ein Übermaß an Denkverboten praktizieren, behindern ihre eigene Entwicklung. Der Aufstieg des westlichen Abendlandes wurde ermöglicht durch die Freiheit des Denkens, das seit der frühen Renaissance um sich griff. Wenn der implizierte gesellschaftliche Konsens die Grenzen der Meinungsfreiheit verengt, dann verengt er gleichzeitig die Grenzen des Denkens und hemmt damit die gesellschaftliche Entwicklung".

Wer sich das Lesen der rd. 400 Seiten nicht antun will, sollte sich zumindest auf die Einleitung und das Kapitel über seine 14 dialektisch dargestellten Axiome des Tugendterrors (= Postulat/These) und dazu seine als Wirklichkeit dargestellte Sichtweise (=Antithese) einlassen, macht dann nur ein Drittel der Gesamtumfanges aus.

Zu den "Missetätern" gehören u.a. die Leitmedien. Sie bestimmen das Agenda-Setting in einem oft unerträglichen Gleichklang - der bessere Journalist ist, wer es versteht, unauffälliger vom anderen abzuschreiben - und halten sich in ihrer Überheblichkeit oft aufgeklärter, als das Volk. Nicht verwunderlich, dass Sarrazin in vielen Medien nicht wohlwollend behandelt wurde. "Political Correctness" (PC) und pharisäerhaftes "Gutmenschentum" beinhalten viele Beispiele des Tugendterrors unserer Popstmoderne. Nicht zufällig hat die P.C. ihren Ursprung in der hypokratischen US-Gesellschaft verbunden mit einem Canon an Denk- und Sprechverboten, was als sagbar und was als unsagbar gilt. Auch der oft hypertrophe Gendermainstream hat einiges dazu beigetragen . Martin Walser kritisierte bei seiner Friedenspreisrede (Dtsch. Buchhandel) , dass man bei jeder Kritik an Israel sofort mit der Holocaust-Keule mundtot gemacht werde und wurde dafür gescholten, auch eine Art von Tugendterror und Instrumentalisierung des Holocaust. Nicht umsonst wirft auch ExBk. Helmut Schmidt den monotheistischen Religionen (zB.Nahostkonflikt), nicht ihre Verantwortung für den Weltfrieden wahrzunehmen.

Meinungsabweichler werden in einer Tugendterrorgesellschaft trotz Meinungsfreiheit rasch zum sozialen Außenseiter gestempelt oder Volksverhetzer und die Gesetze der vormodernen Stammesgesellschaft werden plötzlich wieder wirksam. Bei Sokrates war es der Schierlingsbecher, im christlichen Mittelalter die Inquisition, Folter und Hexenverbrennung. Spinoza erlebte im 17.Jh. den jüdischen Bannfluch, weil er das Judentum nicht als auserwähltes Volk und Bibelgeschichten nicht für wahr, sondern Allegorien hielt und einen personalen Gott ablehnte. Auch in Russland oder China werden und wurden missliebige Kritiker rasch in Arbeitslager gesteckt oder überhaupt liquidiert und wer heute den Islam für nicht kompatibel mit einer offenen Gesellschaft hält, wird als islamophob oder fremdenfeindlich diffamiert und einem Muslim trifft dabei rasch die Fatwa.

Pros/Cons

Positiv:

hervorzuheben sind sein scharfer, analytischer Verstand, sein überaus scharfsinniger Geist, der nichts unhinterfragt ließ ganz im Sinne Descartes, der meinte, dass man alles im Leben mindestens einmal hinterfragen muss. Viele Journalisten können ihn um sein verdichtetes Fachwissen, seine Belesenheit und Bildung beneiden. Jedenfalls hat er sich damit eine 4-Sternebewertung verdient und als kritischer Rationalist könnte man in ihm einen Popperianer vermuten, der auch historische Gesetzmäßigkeiten und damit auch Ideologien ablehnte. Sein Standpunkt, wenn eine göttliche Macht über uns steht, dann auf einer Ebene, die uns weder erkennbar noch begreiflich ist, klingt auch recht vernünftig. Dass sich in der gesellschaftlichen Debatte nicht die Wahrheit, sondern das bessere Narrativ, die bessere Welterzählung durchsetzt, die die Welt weniger rätselhaft und verständlicher macht, das Herz,die Emotion ansprechend, Sinn vermittelnd und Trost spendend (als Beispiel nennt er das jüdisch-christliche Narrativ). Dass nicht jeder seines Glückes Schmied ist, hat er auf S. 257 eindrucksvoll an Hande der Piech/Porsche-Story demonstriert

Negativ in meinen Augen ist anzumerken,

dass er sich beim Thema unterschiedliche Ethnien, Rassenmerkmale, Eugenik, Biogenetik/Zuchtstierbeispiel, etc...und Provokationen, wie "Produktion von Kopftuchmädchen" und "Deutschland schaffe sich durch die muslimische, bildungsferne Zuwanderung ab durch eine dadurch fortwährend negative Auslese werde Deutschland dümmer" zu weit hinausgewagt und damit rassistische Geister der Vergangenheit und sozialdarwinistisches Gedankengut wieder salonfähig machen könnte. Bei diesem sensiblen Thema ist meines Erachtens deshalb höchste Zurückhaltung angebracht. Dass er u.a.in Graz bei einer rechtspopulistischen Partei einen Vortrag hielt, lässt auch auf mangelnde Sensibilität für notwendige Abgrenzungen schließen.

Überdies beurteilt er die 68er-Generation einseitig negativ und diffamiert alles Linke, obwohl die 68er ganz wesentlich zu einer Demokratisierung der damals reaktionären Adenauer-Gesellschaft beigetragen hat. Adenauer'sche Züge könnte daher auch beim Autor vermutet werden.

Elitenfördernde auf die Unterschicht herabblickend Attitüden lassen ihn nicht gleich als SPD-Mitglied vermuten, umsomehr er auch den "Gleichheitswahn" stark verurteilt. In der Erbschaft erblickt er andererseits wiederum nicht unbegründet die ungerechteste Quelle des Reichtums, sie mache nur die Erben schlaff . Nach seiner Auffassung sei die Ungleichheit der Motor der Evolution und Innovation.

Ein spannendes, intellektuelles und zum Denken anregendes Buch eines überaus gebildeten Authors, jedoch mit unsensiblen Grenzüberschreitungen. Als Österreicher interessierten mich die innenpolitischen Querelen um den Vorstand der Dtsch. Bundesbank nicht näher, sollen jedoch beinahe zum Ausschluss aus seiner eigenen Partei, der SPD geführt haben.

Antwort zur Rezension:

Sebastian meint:

"...auf die Unterschicht herabblickend - lassen ihn nicht als Mitglied der SPD vermuten..."

Hier besteht meiner Meinung nach das größte Missverständnis, das sich durch die ganze Diskussion um Sarrazin zieht. Sarrazin blickt nicht auf die Unterschicht herab, weil sie Unterschicht ist, sondern weil sich große Teile dieser Unterschicht beharrlich weigern, die Rolle des Transferempfängers zu verlassen. Viele wären intellektuell sicher in der Lage einen Schul- und Berufsabschluss zu erwerben und einer geregelten Arbeit nachzugehen, zumal offensichtlich der Bedarf an Arbeitskräften durchaus vorhanden ist. Allein, es mangelt an Selbstdisziplin und Selbstorganisation. Es ist natürlich bequemer sich mit Hartz IV einzurichten als jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen und sich um die Kinder zu kümmern. Und was die SPD betrifft, setzte sie früher genau dort an. In Bildungs-, Lese-, Turn- oder Gesangsvereinen wurde Sozialverhalten erlernt und Wissensvermittlung betrieben, in dem Wissen, dass nur dadurch die Menschen befähigt werden, ihre eigene Lage zu verbessern. Insofern sind die Einlassungen Sarrazin geradezu "ursozialdemokratisch". Heute ist es leider so, dass die SPD die Lage der Unterschicht durch Umverteilung des Reichtums bequemer gestalten will. Nicht Sarrazin verrät die Grundsätze der SPD sondern insbesondere der linke Parteiflügel der SPD wirft die eigenen Parteigrundsätze über Bord. Ob das eine zukunftsfähige Politik ist, wage ich zu bezweifeln.

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Eine gute Rezension. Das Wort "salonfähig" ist aber, finde ich, eines kritischen Rationalisten unwürdig. Es ist Teil des Phänomens, das hier beklagt wird. Debatten sollten durch Argumente entschieden werden und niemals dadurch, dass den vermeintlich Irrenden der Salon verboten wird.

ad a) "Deutschland schafft sich ab" (Sarrazin):

Das Buch verdient 5 Sterne.

Ich habe die Gewohnheit, wichtige Stellen in Sachbüchern anzustreichen. Bei diesem Werk hätte ich irgendwann damit aufhören sollen. Es gibt nämlich kaum einen Satz darin, der nicht anstreichenswert wäre. Drei davon - eines allerdings selbst ein Zitat - will ich herausgreifen:

"Manche Dinge lassen sich eben nur beurteilen, indem man sich über konkrete Fakten und Zusammenhänge beugt; allgemeines Gerede führt da nicht weiter" (S. 372).

"Da politische Macht in einer Demokratie durch Wahlen errungen wird, für deren Erfolg sich das Versprechen einer sorglosen Zukunft als geeignetes Mittel erwiesen hat, ist die Verdrängung der demografischen Probleme zu einer heimlichen überparteilichen Staatsräson unseres demokratischen Wohlfahrtsstaates geworden" (Zitat nach Birg, S. 373),

"Hebel und Ansatzpunkte dafür [für Veränderungen] gibt es, man muss sie allerdings auch bedienen wollen. Dafür sehe ich in Deutschland gegenwärtig leider weder gesellschaftliche noch politische Mehrheiten" (S. 373).

Und in der Tat, zumindest die Mehrheit der politischen Klasse und der meinungsbildenden Presse in Deutschland beugt sich weder über konkrete Fakten und Zusammenhänge und wahrscheinlich auch nicht über Sarrazins Buch. Ich bezweifle sehr stark, dass ein Herr Gabriel oder eine Frau Merkel es gelesen haben, geschweige denn alle 40 Mitglieder des SPD-Vorstandes, die für seinen Ausschluss aus der Partei gestimmt haben. Sie ergehen sich lieber in allgemeinem Gerede. Denn allgemeines Gerede ist es, was die politische Klasse in Deutschland auszeichnet. Die Lektüre eines anspruchsvollen Werkes wie dieses, die, wie gesagt, ca. 3 Tage in Anspruch nimmt, würde ja ihrem für solches Gerede verplanten Zeitbudget abgehen.

Sarrazins Werk ist sorgfältig begründet, es handelt die bestehenden Probleme differenziert ab, lässt Gegenmeinungen zu Wort kommen und ist von offenbarer Sorge um das Schicksal dieses Landes getragen, anders als das Geschrei der Leute, deren einzige Sorge den Werten der nächsten Sonntagsfrage gilt oder die nichts als ihre Vorurteile pflegen wollen, ohne die Fakten zu betrachten:

1. Sarrazin hatte als Bundesbankvorstand Zugang zu dem besten verfügbaren statistischen Material. Er wird sich kaum die Blöße geben, dass seine Zahlenangaben zu den Geburtenraten türkischer Migrantinnen bzw. deutscher Akademikerinnen falsch sind. Genau das wird ihm hier aber unterstellt. Wer das tut, sollte dann bitte mit den richtigen Zahlen und den dazugehörigen Quellen aufwarten. Ich habe in der bisherigen Diskussion keine erwähnenswerte Stimme gehört, die das getan hat.

2. Nicht jeder, der für Autobahnen ist, ist ein Hitlerfan. Und nicht jeder, der auf Missstände hinweist, die Rechtsradikale für ihre Propaganda benutzen, ein Neonazi. Sonst wäre auch Heiner Geißler ein Neonazi, denn den von ihm unterstützten Antiglobalisierungskampagnen der Attac stimmt auch die NPD zu. Die NPD ist eine undemokratische Partei; Sarrazin wendet sich aber gerade dagegen, dass mit Migranten aus türkischen und arabischen Ländern demokratie- und menschenrechtsfeindliche Strömungen nach Deutschland eindringen. Gegen einen türkischen Migranten, der die deutschen Gesetze achtet, die deutsche Sprache lernt und sich und seine Familie selbst ernährt, hat Sarrazin rein gar nichts, aber durchaus etwas gegen einen deutschen Nichtsnutz, Tagedieb oder rechtsradikalen Schläger. Wer ihm eine Nähe zu Neonazis vorwirft, macht sich lächerlich. Das gleiche gilt für Leute, die ihm unterstellen, er wolle Sterilisierung oder Zwangsarbeit einführen - alles schon in diesem Forum gelesen.

3. Im Gegensatz zu dem, was immer wieder behauptet wird, beschuldigt Sarrazin weder Hartz-IV-Empfänger noch Migranten pauschal, noch greift er sie an. Im Gegenteil, er stellt fest, dass sie sich, wie jeder Unternehmer oder Arbeitnehmer, überhaupt jeder wirtschaftende Mensch, nach den Grundsätzen der Ökonomie verhalten, indem sie das Verhältnis zwischen Input und Output optimieren. Wer etwas umsonst kriegen kann, wäre dumm, etwas dafür zu bezahlen, und wer in Deutschland ohne Arbeit mehr verdient als in seinem Heimatland mit harter Arbeit, wäre schlecht beraten, nicht hierher zu kommen, wenn er es könnte. Sarrazin skizziert lediglich die Entwicklungen, die sich aus den in Deutschland vorhandenen Leistungs- bzw. Nichtleistungsanreizen ergeben und stellt die Frage, ob wir diese wollen, und ob wir sie bezahlen können. Die Frage, ob Sarrazin die Entwicklungslinien zutreffend beschreibt, kann man völlig unemotional diskutieren - seine Ausgangswerte und Schlussfolgerungen sind entweder falsch oder richtig. Die Frage, ob wir das wollen, was am Ende solcher Entwicklungen steht, muss jeder für sich als Bürger entscheiden und dann in politische Entscheidungen umsetzen, und sei es nur in der Wahlkabine. Der eine ist eben dieser Meinung, der andere jener. Die moralische Keule, die Sarrazins Gegner schwingen, ist somit völlig fehl am Platze.

4. Ein Rassist ist nicht, wer feststellt, dass Japaner anders aussehen als Äthiopier und Eskimos anders als Niederbayern, und dass die Unterschiede auf Vererbung beruhen. Rassist wäre auch nicht einmal, wer feststellen würde, dass, beispielsweise, die Eskimos im Durchschnitt intelligenter wären als die Niederbayern. Denn diese Feststellung beinhaltet keinerlei Feststellung über die Intelligenz eines einzelnen Niederbayern oder Eskimos. Rassismus beginnt dort, wo nicht mehr auf das Individuum und sein Tun und Können geschaut wird, sondern wo jemand gerade wegen seiner Gruppenzugehörigkeit bevorzugt oder benachteiligt wird.

5. Dass wirtschaftlich und sozial erfolgreiche Menschen im großen und ganzen intellektuell leistungsfähiger sind als lebenslange Transferempfänger, wird niemand ernsthaft leugnen können. Ebenfalls nicht, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit jedenfalls zum Teil erblich ist - ob zu 30 oder, wie Sarrazin vermutet, zu 50 bis 80 %, sei einmal dahingestellt. Egal, wie hoch der Prozentsatz ist - wenn er größer als 0 ist, bleibt die Tatsache unbestreitbar, dass ein Volk im Durchschnitt weniger intelligent wird, wenn die Intelligenteren weniger Kinder kriegen als die weniger Intelligenten.

6. Wenn das wiederum so ist, bleibt die Frage erlaubt, ob wir das wollen, und wenn wir es nicht wollen, wie wir es ändern können. Wenn wir es nicht wollen, ist es - und nichts anderes sagt Sarrazin - nicht sinnvoll, ein Anreizsystem zu haben, in welchem eine Transferempfängerin ohne Schulabschluss und ohne Beruf davon finanziell profitiert, Kinder in die Welt zu setzen, während eine Frau mit Berufsabschluss und Arbeitsplatz erhebliche finanzielle und sonstige Nachteile in Kauf nehmen muss.

7. Man wird, mit Sarrazin, die Frage aufwerfen dürfen, wieso andere Migrantengruppen sich im Vergleich zu türkisch-arabischen weitaus besser integrieren, ihre Kinder besser ausbilden und nicht überdurchschnittlich von Sozialtransfers leben. Und die weitere Frage, wieso diese Gruppe - wohlgemerkt, im Durchschnitt, keineswegs alle Individuen - sich in Amerika ohne weiteres integriert, in Deutschland und Europa aber einerseits die Vorzüge des Sozialstaates genießt, andererseits zu diesem nichts beiträgt. Wer auf diese Fragen eine plausible Antwort hat, dem höre ich gerne zu. Wer hier nur mit Schimpfworten und Worthülsen um sich wirft, trägt nicht zur Diskussion bei und hilft vor allem auch nicht denen, die er glaubt, vor Sarrazin in Schutz nehmen zu müssen.

Sarrazin ist selbstkritisch genug, um am Schluss seines Buches zu sagen: "Ich habe versucht, Zuspruch und Widerspruch produktiv umzusetzen [...]. Es schadet nicht, die eigene gefestigte Meinung immer wieder in Frage zu stellen, denn in der Weite der sozialen Wirklichkeit gibt es nur wenige endgültige und abschließende Antworten". Diese Einstellung würde man den Schreihälsen wünschen, die, statt sich mit Sarrazins Argumenten auseinanderzusetzen, lediglich darüber nachdenken, wie man ihn am besten loswird: durch Rausschmiss aus seiner beruflichen Stellung, aus seiner Partei oder am besten gleich aus dem Land - wie einst die DDR-Oberen bei Rudolf Bahro, nachdem er angemahnt hatte, man solle doch einmal Ventile an die Heizkörper machen, das würde gegenüber dem Lüften der überheizten Räume Energiekosten sparen.

Dieses Buch ist eines der anspruchsvollsten, bedenkenswertesten und zugleich erschütterndsten, die ich seit langer Zeit gelesen habe. Jeder, der bereit ist, "die eigene gefestigte Meinung in Frage zu stellen", wird es mit Gewinn lesen, und zwar selbst dann, wenn er nicht alle Wertungen und Schlüsse des Autors teilt. Darüberhinaus ist es diesem Buch gelungen, was selten gelingt: mit einem Buch eine Diskussion über ein wichtiges Thema anzustoßen, das von der Politik sträflich vernachlässigt worden ist.

Damit hat sich Sarrazin mit seinem Buch nicht nur um Deutschland, sondern auch um das Buch überhaupt verdient gemacht. Es ist eine Streitschrift, aber wer mit Büchern streitet, tut es friedlich. Mit Fakten und Argumenten. Nicht mit Maulkörben, Berufsverboten, Parteiausschlussverfahren. Nicht mit Fäusten, Messern und Pflastersteinen, mit Kalaschnikows oder Selbstmordattentaten.

Das ist aber wohl noch unwahrscheinlicher, als dass sich die Politiker ernsthaft des Themas annehmen...

ad b) "Der neue Tugendterror" (Sarrazin):

Das erste Kapitel startet mit einer grundsätzlichen Betrachtung der Bestimmungsgründe und Grenzen von Meinungsfreiheit.

Im zweiten Kapitel wendet Sarrazin diese Erkenntnisse als Fallstudie bei sich selbst an. Er beschreibt also, welchen Furor sein Buch von 2010 "Deutschland schafft sich ab" bei den Medien, der Politik und der Gesellschaft insgesamt auslösten.

Im dritten Kapitel beschreibt er, in welchem sozialen Umfeld Meinungen entstehen und was das für die Meinungsfreiheit bedeutet. Es werden hier z.B. solche Begriffe wie Tabu oder Schweigespirale behandelt.

Im vierten Kapitel wird beschrieben, welche Bedeutung die Sprache bei der Meinungsbildung, und speziell bezogen auf das Buch, für den sogenannten Tugendterror spielt. Hier kommen dann auch solche Themen wie Geschlechterbeziehung (Mann/Frau sowie gleichgeschlechtlich) zur Sprache, aber auch sogenannte "Unwörter" wie "Wirtschaftsflüchtling".

Im fünften Kapitel geht es um die Geschichte des sogenannten Tugendterrors. Dieses Kapitel ist aus meiner Sicht schon recht wissenschaftlich, weil Sarrazin tief in die Historie greift und dabei solche Ereignisse wie Christianisierung, Inquisition oder französische Revolution streift.

Nun zum sechsten, längsten und wohl brisantesten Kapitel mit dem Titel "Vierzehn Axiome des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart".

Es werden also 14 Themen darin zur Diskussion gebracht, die derzeit in Deutschland besonders heftig debattiert werden. Das Besondere im Buch ist, dass der Autor jeweils eine These (im Buch Postulat genannt) und eine Gegenthese (im Buch Wirklichkeit genannt) anbietet. In der These (Postulat) greift er praktisch die Argumente der Gegenseite (also sozusagen der "Tugendwächter";) auf und versucht die Sache aus deren Sicht zu sehen. In der Gegenthese (Wirklichkeit) bringt er dann seine eigenen Argumente und versucht, die der Gegenseite zu entkräften.

Dieses fiktive Streitgespräch ist sehr spannend zu lesen, wie ich finde - egal zu welcher Seite man persönlich neigt. An meinen Beispielen wird man das hoffentlich sehen. Natürlich mag es erstmal anmaßend klingen, wenn Thilo Sarrazin seine Argumente als die Wirklichkeit tituliert. Aber erstens wirken sie aus meiner Sicht immerhin valide und nachvollziehbar, zweitens reklamiert Sarrazin keineswegs einen "Alleinvertretungsanspruch" auf die Wahrheit. Zitat: "Urteilen soll der Leser und für sich entscheiden, welche Position ihn jeweils mehr überzeugt". Wie bereits oben erwähnt, möchte auch ich als Rezensent dieser Maxime folgen, mich meinungsmäßig zurücknehmen und die anderen Leser entscheiden lassen, was für sie am glaubwürdigsten erscheint. DESHALB SIND DIE NACHFOLGENDEN ABSÄTZE AUSSCHLIESSLICH ZITATE AUS DEM BUCH. Auch die großgeschriebenen Überschriften stammen nicht von mir, oder geben gar meine Meinung wieder, sondern wurden original von Herrn Sarrazin gewählt. Mein eigener Beitrag besteht lediglich darin, dass ich natürlich eine subjektive Auswahl treffen musste, welche Axiome (ich habe 2 ausgewählt) und welche Aussagen hinsichtlich These und Gegenthese ich besonders interessant fand.

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Schaut man sich dieser Tage in den Medien um, wird schnell deutlich: Man überstürzt sich förmlich in der Empörung über diesen „Kassenwart der Apokalypse“ (ZEIT), diesen „Ungleichheitsapostel“ (FAZ). Wer etwas auf sich hält distanziert sich, echauffiert sich, verreißt und verdammt in Bausch und Bogen. Was hat er nur wieder angestellt?

Sarrazin präsentiert in seinem neuen Buch eine Liste von

„Vierzehn Axiomen des Tugendwahns im Deutschland der Gegenwart“:

Postulat der Tugendwahnwächter:

1.Ungleichheit ist schlecht. Gleichheit ist gut.

2. Sekundärtugenden sind nicht wichtig, Leistungswettbewerb ist fragwürdig.

3. Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen.

4.Unterschiede in den persönlichen Lebensverhältnissen liegen meist an den Umständen, kaum an den Menschen.

5. Die menschlichen Fähigkeiten hängen fast ausschließlich von Bildung und Erziehung ab.

6. Völker und Ethnien haben keine Unterschiede, die über die rein physische Erscheinung hinausgehen.

7. Alle Kulturen sind gleichwertig, insbesondere gebührt den Werten und Lebensformen des christlichen Abendlandes und der westlichen Industriestaaten keine besondere Präferenz.

8. Der Islam ist eine Kultur des Friedens. Er bereichert Deutschland und Europa.

9. Für Armut und Rückständigkeit in anderen Teilen der Welt tragen westliche Industriestaaten die Hauptverantwortung.

10. Männer und Frauen haben bis auf ihre physischen Geschlechtsmerkmale keine angeborenen Unterschiede.

11. Das klassische Familienbild hat sich überlebt. Kinder brauchen nicht Vater und Mutter.

12. Der Nationalstaat hat sich überlebt. Die Zukunft gehört der Weltgesellschaft.

13. Alle Menschen auf der Welt haben nicht nur gleiche Rechte, sondern sie sind auch gleich, und sie sollten eigentlich alle einen Anspruch auf die Grundsicherung des deutschen Sozialstaats haben.

14. Kinder sind Privatsache, Einwanderung löst alle wesentlichen demographischen Probleme.

Sarrazin beschreibt als Antwort auf dies Postulate die/seine Wirklichkeit

ALLE MENSCHEN AUF DER WELT HABEN NICHT NUR GLEICHE RECHTE, SONDERN SIE SIND AUCH GLEICH UND SIE SOLLTEN EIGENTLICH ALLE EINEN ANSPRUCH AUF DIE GRUNDSICHERUNG DES DEUTSCHEN SOZIALSTAATES HABEN

DAS POSTULAT

Zu Unrecht haben die kapitalistischen Industriestaaten einen Großteil der Reichtümer der Welt an sich gerafft. Auf die staatliche Grundsicherung in Deutschland sollten grundsätzlich alle Bedürftigen in der Welt einen Anspruch haben, das ist ein moralisches Gebot. Wer immer es nach Deutschland schafft, aus welchen Gründen und auf welchem Wege auch immer, sollte in den vollen Genuss der Leistungen des deutschen Sozialstaates kommen. So können wir wenigstens einen Teil des Unrechts wieder gutmachen, das unser ausbeuterisches, verschwenderisches Wirtschaftssystem an der Welt begangen hat. Und wir in Deutschland werden im besonderen Maße davon profitieren, weil der sowieso nötige kulturelle und demografische Wandel damit beschleunigt wird.

DIE WIKLICHKEIT

Jedes Land hat grundsätzlich das Recht, Einwanderung nach seinen eigenen Bedürfnissen zu steuern. Wenn es wie Japan oder China Einwanderung ablehnt, ist es auch in Ordnung. Politisches Asyl ist grundsätzlich human und erfreulich. Aber Armut allein kann kein Asylgrund sein. Menschen, die die Grenzen Deutschlands und der EU erreicht haben und Aufnahme begehren, sollten grundsätzlich nicht anders behandelt werden, als die Milliarden in der Welt, die diese Grenzen nicht erreicht haben oder gleich in ihrer Heimat geblieben sind. Die Aufnahme von Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland und Europa wollen, sollte sich auch nach wirtschaftlichen Kriterien richten. Es ist nämlich für Deutschland und Europa ohnehin nicht möglich, durch die Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen die Not in den Auswanderungsländern fühlbar zu lindern. Allein in Afrika werden jedes Jahr fünfmal so viele Kinder geboren wie in ganz Europa und die Geburtenrate ist dreimal so hoch. Nähme Europa davon nur jeden Fünften auf, so wäre es in wenigen Jahrzehnten afrikanisch - ohne dass sich damit die Verhältnisse in Afrika maßgeblich verbessert hätten.

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KINDER SIND PRIVATSACHE, EINWANDERUNG LÖST ALLE WESENTLICHEN DEMOGRAFISCHEN PROBLEME

DAS POSTULAT

Jährlich werden in der Welt 140 Millionen Kinder geboren, davon allein 40 Millionen in Afrika und im westlichen Asien. Moralisch gesehen - im Sinne der Gleichheit vor der Natur und vor Gott - hat jeder von ihnen dasselbe Anrecht auf unseren Wohlstand, wie die 670 000 Neugeborenen, die zufällig jährlich in Deutschland zur Welt kommen. Wenn man nur eine ausreichend liberale Einwanderungspolitik betreibt, ist es möglich, unser jährliches demografisches Defizit von 300 000 bis 500 000 durch Zuwanderung auszugleichen. Der Vielfalt in Deutschland kann das nur guttun, und Vielfalt ist doch ein Eigenwert. Das so entstehende künftige Deutschland wird viel interessanter und bunter sein und sich viel besser in die Zukunft einfügen, als wenn bei uns nur Bio-Deutsche leben.

DIE WIRKLICHKEIT

In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird es immer weniger gelingen, die quantitative und qualitative Lücke zwischen Angebot und Bedarf auf dem Arbeitsmarkt zu füllen. Nicht nur gehen künftig jedes Jahr etwa ein Drittel mehr Menschen in den Ruhestand, als neu in Erwerbsleben eintreten. Unter den neu Eintretenden sinken das durchschnittliche Qualifikationsniveau und die absolute Zahl an Hochqualifizierten, während gleichzeitig der Anteil jener zunimmt, die auch Grundfertigkeiten kaum beherrschen. Das Bemühen, durch Senkung der Bildungsstandards gegenzusteuern, zieht auch die Leistungsstarken mit nach unten. Nur kurzfristig schafft die Euro-Krise eine Atempause, weil gegenwärtig viele Arbeitnehmer aus den Krisenstaaten kommen. Diese Länder haben aber alle ein ähnliches demografisches Problem wie wir, und die Wanderungsströme werden sich wieder umkehren, wenn es diesen Ländern wieder besser geht. Dann verbleibt nur die Einwanderung aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mittelost, die aber aufgrund der kulturellen Disparitäten das Qualifikationsproblem vergrößert, statt es zu reduzieren. Im wachsenden Umfang werden künftig die Menschen fehlen, die auf qualifizierte Arbeitsplätze nachrücken können. Deshalb ist jetzt schon der Zeitpunkt absehbar, und ist maximal noch 25 Jahre entfernt, an dem Deutschland trotz steigender Abgabenlast weder sein Sozialleistungsniveau aufrechterhalten, noch sein Rentenniveau sichern kann.

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GESAMTFAZIT ZUM BUCH

Aus meiner Sicht geht es nicht vorrangig darum, wer wieviel Recht hat. Wie in dem Buch und hoffentlich auch in meiner Rezension deutlich wird, gibt es immer Argumente für oder gegen etwas, die Wahrheit ist meist etwas sperrig.

Und Herr Sarrazin hat natürlich auch keine Patentlösungen für alle Fragen anzubieten - das ist schon klar. Entscheidend aber ist, dass man über wichtige Themen (etwa die von mir erwähnten, wie Einwanderung oder Demografie) überhaupt redet und die dringend notwendige Diskussion darüber nicht mit Denkverboten und Tabus von vornherein erstickt. Und dass hierzu wirklich eine offene, sachliche Debatte notwendig ist, wird wohl keiner bestreiten wollen. Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch zumindest einen wertvollen Beitrag dafür gebracht. Lassen wir ihn deshalb selbst das Schlusswort halten, dem ich mich als Rezensent anschließen kann und möchte: "Gesellschaften, die ein Übermaß an Denkverboten praktizieren, behindern ihre eigene Entwicklung. Der Aufstieg des westlichen Abendlandes wurde ermöglicht durch die Freiheit des Denkens, das seit der frühen Renaissance um sich griff. Wenn der implizierte gesellschaftliche Konsens die Grenzen der Meinungsfreiheit verengt, dann verengt er gleichzeitig die Grenzen des Denkens und hemmt damit die gesellschaftliche Entwicklung".

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Spinnchen

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fischundfleisch

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