Überzeugende Reden – "yes we can" bis "I had a dream" (Rhetoriklehre)

Ein einziger Satz kann genügen, um eine große Rede im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Wie ein Anker müssen wir ihn nur hören, dann läuft in unserem Kopf ein ganzer Film dazu ab:

Obama: "Yes we can"

Obama ist einer der besten Redner, die es aktuell gibt. Er versteht es, alle Register zu ziehen - charismatisch, charmant, schelmisch, pathetisch.

Er baut seine Reden wie nach einem Lehrbuch auf:

"Captatio benevolentiae" am Anfang, das soviel wie das "Greifen nach dem Wohlwollen des Auditoriums" bedeutet ("Ich muss gestehen, das deutsche Volk hat in meinem Herzen einen ganz besonderen Platz"/ Hannover 2016).......und am Ende eine klassische "Conclusio" (Schlussfolgerung): "Denn ein vereintes Europa, früher der Traum einiger weniger, ist jetzt die Hoffnung der vielen und eine Notwendigkeit für uns alle" (rhetorische Klimax = Steigerung). Er sucht Blickkontakt und setzt effektvolle Pausen. Er setzt seine Langen Arme, den ganzten Körper ein und kann nochalant und danach sofort wieder staatsmännisch wirken.

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/obama-rede-london-naechste-station-hannover-messe-gegen-brexit-fuer-ttip-19498

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/the-obama-doctrine-ex-atlantic-magazine-17728

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/que-bola-cuba-wie-gehts-kuba-obamabesuch-17958

Steve Jobs (Apple): "Stay hungry, stay foolish" (bleibt hungrig und verrückt und folgt eurem Herzen)... Er konnte seinem Krebstod nicht entrinnen, aber er hat das großartigste Spielzeug, das ich je in meinem Leben besaß, das "iPhone 4S", geschaffen und dessen Erfolg selbst nicht mehr erlebt. Der Tod sei die beste Erfindung des Lebens, weil er Altes wegräumt und für Neues Platz macht.

Luther King: "I had a dream" (1963, Washington - 250.000 Menschen), um ein Ende der Rassentrennung und Diskriminierung durchzusetzen. Die Rede war gut vorbereitet, zündete jedoch zunächst nicht, er las den Text ab, das Publikum langweilte sich und es war heiß. Die in seiner Nähe gestandene Gospellegende Mahalia Jackson erkannte dies und rief ihm leise zu: "Martin, tell'em about the dream". Luther verstand das zwar, löste sich jedoch erst nach 10 Minuten vom Redemanuskript... plötzlich sprang der zündende Funke mit "I had a dream" und der Prediger in ihm kam wieder hervor... .. once more rief das Volk und insgesamt fiel dann noch 9 mal der Satz vom großen Traum....."Let freedom ring" (lasst die Glocken der Freiheit, die von allen Bergen und Hügeln her leuten werden, läuten....)....und in den letzten 5 Minuten entfaltete er ein rhetorisches Meisterstück, er nahm die Emotionen auf und gab sie wieder zurück.

“I have a dream that one day this nation will rise up, and live out the true meaning of its creed: ‘We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal.’ .......I have a dream that one day on the red hills of Georgia the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at a table of brotherhood.....I have a dream that one day even the state of Mississippi, a state sweltering with the heat of injustice and sweltering with the heat of oppression, will be transformed into an oasis of freedom and justice......I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin, but by the content of their character. I have a dream today!”

übersetzt:

„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen.......Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven mit den Söhnen früherer Sklavenhalter miteinander an einem am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.......Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.......Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe heute einen Traum!“

Die 3 Säulen einer guten Rede (Aristoteles!) kamen zusammen:

1)Ethos (Glaubwürdigkeit des Redners)

2)Logos (Tragkraft seiner Argumente)

3)Pathos (Emotionen beim Publikum wecken)

Für Aristoteles war die Kunst der Überzeugung und nicht Überredung entscheidend als rhetorisches Mittel.

Louis Armstrong & Mahalia Jackson - Just A Closer Walk With Thee - 7/10/1970..... s wird ein schwarzer Trauerzug besungen, ich habe Bluesklassiker einmal in New Orleans in der "Preservation Hall" gehört - einzigartig!

Der große römische Redner Cicero:.....Pathos (=Emotionen wecken) ist das Wichtigste bei einer Rede, er schrieb: "Nichts ist in der Beredsamkeit wichtiger, als dass der Zuhörer dem Redner geneigt sei und selbst so erschüttert werde, dass er sich mehr durch einen Drang des Gemütes und durch Leidenschaft als durch Urteil und Überlegung leiten lasse". Die antike Rhetoriklehre wirkt bis heute fort. Die Natur des Menschen hat sich offenbar in Jahrtausenden kaum geändert. "Civis Romanus sum" - Ich bin ein römischer Bürger... beschwört den Bürgerstolz und eint ihn mit seinem Publikum.

Für Anwälte und Politiker in der Antike war Rhetoriklehre und Ausbildung ein Karriere-Fundament ("ars bene dicendi": die Kunst gut zu reden)

o inventio (gedankliche Themendurchdringung)

o dispositio (Gliederung der Argumente)

o elocutio (Formulierung der Sätze)

o memoria (das Einüben der Rede)

o pronuntiatio (eigentliche Vortrag)

Der klassische Redeaufbau beginnt mit:

1)Einstieg (exordium)

2)Erzählung (narratio)

3)Beweisführung (argumentatio)

4)Schluss (Conclusio)

Den Deutschen und Österreichern fehlt die über 200 jährige Tradition einer Demokratie (USA, GB) und freien Rede. Sie waren und sind es heute noch "obrigkeitshörige Untertanen", sie brauchen einen Führer, einen Leithammel. Die Freie Rede ist Motor einer Demokratie. Die Nazis hatten die Rhetorik zu Propagandazwecken für das Böse missbraucht, jedoch ansonsten war in Monarchie und danach in der NS-Zeit das Ansehen der Rhetorik (freien Rede) schwer beschädigt. Noch heute wird Rhetorik in Deutschland und bei uns als Synonym für Manipulation, Überredung, Entfesselung und Verführung der Massen angesehen, obwohl sie auch für das Positive weingesetzt werden kann.

Platon warnte vor der Schmeichelei der Rhetorik und warnte vor der Gefahr der Demagogie. Bismarck hielt Rhetorik als für beleidigend für einen Staatsmann, Kant hielt Rhetorik für eine "hinterlistige Kunst". Auch Goethe meinte: "Es trägt Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst (=Rethorik) sich selber vor".

Churchill: "Blood, tear and sweat" - Rede

"Ich habe Euch nichts anderes anzubieten, als Blut, Tränen und Schweiß" (1940 - gegen die deutsche Hitler-Aggression)

Kennedy: "Ich bin ein Berliner" (Vorbild Cicero = "civis romanus sum";)

diesen Satz sprach Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus 1963 in Berlin aus zu Zeit der Berliner Luftbrücke und des Kalten Krieges, man konnte Berlin nicht mit dem Auto erreichen.Dieser Satz hat die Dächer zum Wackeln gebracht, so gebrüllt hat das Publikum.

An seiner Antrittsrede formulierte Kennedy 2 Monate lang herum und bewunderte brillante Reden (1961):

"Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann; fragt, was ihr für euer Land tun könnt". Bis heute hallt dieser Satz noch in den Ohren der Welt. Unter Wissenschaftlern gelten die US-Präsidenten Reden als Teil der "civil religion", eine Art Zivilreligion mit einem starken Predigerelement, Patriotismus und Nationalstolz.

Caesar: "Veni, vido, vici" (kam, sah und siegte)

"Auch du, mein Sohn Brutus" (aus J.Caesar/Shakespeare)

Helmut Schmidt: "Politik ist quasi wie ein Kampfsport"...zu Meischberger: "Sie haben meine Fehler verschwiegen, ich habe das gerne gehört"........Wir erleben eine Krise der EU und ihrere Institutionen - dagegen gibt es kein Patentrezept... ..wir haben jedoch die Pflicht zur Solidarität und die friedliche Nachbarschaft mit unseren Nachbarsstaaten ist der wichtigste Teil unserer Pflichten".

Übrigens auch Willy Brands Kniefall als emotionale Geste im Warschauer Ghetto war nicht spontan, sondern geprobt.

Richard von Weizsäcker, deutscher Bundespräsident, ein auch inhaltlich hervorragender Redner:

"Es war auch für die Deutschen ein Tag der Befreiung" anlässlich des 40. Jahrestages des Endes des II. Weltkrieges, seine wichtigste Rede!

o Wer gerne englische Reden hört, dem seinen auch die Vorträge auf Ted.com (Technology,Entertainment and Design) an das Herz gelegt. Forscher, Politiker, Wissenschaftler, Unternehmer, einfache Leute, etc..präsentieren dort ihre Ideen (maximal erlaubte Redezeit 18 Minuten).

Talk like TED heißt:

"Sprich mit deinem Publikum, sprich viele seiner Sinne an, bring ihm etwas Neues bei und sorg dafür, dass ihm mindestens einmal die Kinnlade herunterfällt"

Knowledge Design = wird heute immer wichtiger, die Bilder, Videos und Grafiken zum Einsatz bei Reden - TED.com ist ein gutes Beispiel dafür (Mediendiversität, Multimedia, Kontextualisierung).

o Power Points (Bullet Points) ist das Gegenteil von guter Rhetorik. Wer damit arbeitet, soll lieber sein Notebook einpacken und zu Hause bleiben. PPP-Präsentationen sind eine Beleidigung für das Publikum und man schaltet in wenigen Minuten ab. Die größte Unart, wenn einem ein PPP-Handout dann als Lernskriptum zugemutet wird.

Gute Reden zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets „zur Sache“ sind. Weitschweifigkeit ist schlechter Redestil und führt dazu, dass das Publikum ungeduldig reagiert. Eine gute Rede ist prägnant und so kurz wie möglich.

ZEIT

Seit der Antike genießt der Redner, Rhetor bei den Griechen, Orator bei den Römern, hohes Ansehen. Die Rede entwickelte sich in der politischen und Gerichtspraxis beider Völker zur Kunst. Beredsamkeit galt als erlernbar und wurde in besonderen Rednerschulen gelehrt. Das praktische Wissen über effektive Redegestaltung wurde gesammelt und theoretisch durchdrungen. Daraus entstand ein umfangreiches Wissensgebiet, die Rhetorik.

ZEIT

Die Liste rhetorischer Stilmittel ist lange, nachstehend nur ein paar Beispiele:

https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_rhetorischer_Stilmittel

Beispiele:

o "Feld, Wald und Wiesen“; „Sonne, Mond und Sterne“ (= Akkumulation)

o „Eher geht die Welt unter, als dass …“ (=Vergleich mit dem Unmöglichen)

o Friedrich Schiller: "„Seine Augen suchten einen Menschen – und ein Grauen erweckendes Scheusal kroch aus einem Winkel ihm entgegen, der mehr dem Lager eines wilden Tieres als dem Wohnort eines menschlichen Geschöpfes glich. Ein blasses totenähnliches Gerippe, alle Farben des Lebens aus einem Angesicht verschwunden, in welches Gram und Verzweiflung tiefe Furchen gerissen hatten, Bart und Nägel durch eine so lange Vernachlässigung bis zum Scheußlichen gewachsen, vom langen Gebrauche die Kleidung halb vermodert und aus gänzlichem Mangel der Reinigung die Luft um ihn verpestet – so fand er diesen […]“ (= konkretisierende Häufungen)

o "Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss" (= banale Floskel, Phrasendrescherei)

o Goethe/Faust I : "Der Mann ist tot und lässt dich grüßen" (= Anachronismus)

o „Gott sei mein Zeuge!“ (= Anrufung einer höheren Macht)

o „Sie arbeiten zehn, zwölf, ja vierzehn Stunden täglich am Erfolg.“ (= Klimax, Steigerung)

o „Entbehren sollst du, sollst entbehren.“ (Goethe; Wiederholungen - beliebt bei Politikern)

o Aus einem "Euro" wurde ein "Teuro" (= Montagen)

o Cicero: „heißkalt“; „bittersüß“; „Flüssiggas“; „hübschhässlich“; „Hassliebe“; „großer Zwerg“; „beredtes Schweigen“ (= innerer Widerspruch - contradictio in adjecto)

o „weißer Schimmel“; "nasses Wasser"; "finstere Nacht; „runde Kugel“; „alter Greis“ (= Pleonasmus)

o statt "ich" den Pluralis Majestatis "wir" sind der Meinung

o Wilhelm Busch: „Wenn einer, der mit Mühe kaum / Gekrochen ist auf einen Baum, / Schon meint, dass er ein Vogel wär, / So irrt sich der.“ (= Pointe, unerwartete Zuspitzung)

o „Natürlich könnte man hier einwenden, dass …“ (= Vorwegnahme eines Einwandes)

o „Seh’ ich so blöd aus?“ (= rhetorische Fragen)

o „stark wie ein Löwe“; „größer als ein Elefant“ (= Gleichnisse, Vergleiche)

o „Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient“ (= Zynismus)

Ergänzungen:

https://www.fischundfleisch.com/ebgraz/professionelles-schreiben-deutsch-fuer-junge-profis-journalistenpapst-wolf-schneider-sz-und-uni-16085

https://www.fischundfleisch.com/willenskraft/10-meilensteine-der-kommunikation-8827

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