Warum gibt es eine so große Zahl von Mitgliedern der CDU und CSU, die ihr Parteibuch hartnäckig beibehalten, obwohl sich ihre politischen Überzeugungen sehr deutlich von der gegenwärtigen Ausrichtung der Unionsparteien abheben? Ich habe solche Wirrköpfe in meiner engeren und weiteren Verwandtschaft, in meinem Freundes- und Bekanntenkreis und ich finde sie vor allem auch in den alternativen Medien und sozialen Netzwerken. Hierzu gehören auch Leute, die zum Teil einen beträchtlichen öffentlichen Bekanntheitsgrad erreicht haben, wie etwa die Bloggerin Vera Lengsfeld, die Buchautorin Birgit Kelle aber auch das politische Urgestein Willi Wimmer. Alle hadern in sehr ähnlicher Weise mit dem Linksruck der Partei, unterstützen aber das Verhalten, das sie so entschieden ablehnen, weiterhin finanziell mit ihrem Mitgliedsbeitrag.

Zwar gibt es dieses Phänomen auch in anderen Parteien - in erster Linie fallen einem da die SPD-Mitglieder Thilo Sarazin und Heinz Buschkowski ein aber auch der Freidemokrat Frank Schäffler, der sich immer noch an sein FDP-Parteibuch klammert, weil er meint, er könne dazu beitragen, diese Pseudoliberalen zu einer Einstellung zurückführen, die er als “klassisch liberal” definiert - aber die Anzahl solcher Dissidenten ist bei den Schwarzen größer als bei den Roten und Gelben. Das liegt offenbar daran, daß sich keine der anderen politischen Gruppierungen so sehr von ihren ursprünglichen Inhalten entfernt hat wie die CDU und in etwas geringerem Maße die CSU.

Wie erträgt man auf die Dauer eine so ausgeprägte kognitive Dissonanz? Auf der Suche nach einer Erklärung fallen einem verschiedene Beweggründe ein, wobei einer davon ganz deutlich überwiegt: Die Vorstellung des “Durchhaltens”, getragen von der Hoffnung, daß die Partei über kurz oder lang wieder zu ihren ursprünglichen ideologischen Inhalten zurückfinden wird. Das schließe ich keineswegs aus, aber wenn es tatsächlich so kommt, dann nur nach einer erheblichen und nachhaltigen weiteren Erosion der Mitgliederzahl und Wählerschaft. Ich selbst habe ein halbes Jahrhundert lang mit der CDU sympathisiert, aber das ist jetzt endgültig vorbei. Wäre ich Mitglied gewesen, ich wäre spätestens im September 2015 ausgetreten.

Von Partei-Funktionären der Union und SPD hört man gelegentlich die Beteuerung, man müsse und werde die zur AfD und FDP “Abgefallenen” wieder zurückgewinnen. Das hört sich nicht besser an als das sprichwörtliche Pfeifen im Walde. Wer pfeift, will zeigen, daß er keine Angst hat und hofft, daß die Gefahr, der er sich ausgesetzt fühlt, von selbst wieder verschwindet. Der neu ernannte CDU-Vorsitzende in Sachsen verstieg sich kürzlich sogar zu der Äußerung, er sehe seine vordergründigste Aufgabe darin, die AfD überflüssig zu machen. Wenn man sich vor Augen hält, daß die “Rechtspopulisten” nach weniger als fünf Jahren ihres Bestehens die lang-gediente CDU in Sachsen bei der letzten Bundestags-Wahl vom bis dahin unbestrittenen ersten auf den zweiten Platz verwiesen haben, dann kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß hier wieder mal der Schwanz versucht mit dem Hund zu wedeln.

Ich selbst mag nicht für die deutsche Wählerschaft repräsentativ sein, aber mich wird die CDU nicht als Sympathisanten und Wähler zurückgewinnen, es sei denn es ergeben sich dramatische politische Veränderungen, die meine Haltung in Frage stellen, die aber zur Zeit nicht vorausgesehen werden können (weswegen man nie “nie” sagen sollte). Zu tiefgründig wurzelt in mir die Enttäuschung über diese Partei und die Verärgerung über den Schaden, den sie dem deutschen Michel über die Jahre zugefügt hat. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge könnte ich eine Rückkehr zur Union weder ethisch noch pragmatisch vor mir selbst rechtfertigen.

In einer Email, die ich vor etwas mehr als einem Jahr erhielt, wurde die Überzeugung geäußert, Angela Merkel werde die Bundestags-Wahl 2017 wieder gewinnen. Da ich wußte, daß hier der Wunsch der Vater des Gedankens war, maß ich dieser Prophezeiung zunächst keine allzu große Bedeutung bei. Schließlich kommt es darauf an, was man als einen “Wahlsieg” betrachtet, und in dieser Art von Beurteilung erweisen sich Politiker immer schon als außerordentlich kreativ. Die Union hat bei der jüngsten Wahl zum Bundestag tatsächlich wieder mehr Stimmen als jede andere Partei erhalten, mußte aber im Vergleich zur BT-Wahl von 2013 ausgiebig Federn lassen. Und in den sogenannten “Sonntagsfragen” ist sie von 43% im Oktober 2013 vorübergehend bis auf 29,5% abgestürzt und rangiert jetzt nicht weit von diesem Tiefstpunkt entfernt zwischen 30% und 33% (alle Umfragen von INSA).

Der Schreiber der erwähnten Email mag aber dann richtig prophezeit haben, wenn er mit “gewinnen” meinte, daß Merkel wieder das Kanzleramt besetzen würde. Denn wenn sie nicht freiwillig ihren Rückzug erklärt, dann wird sie jetzt höchstwahrscheinlich auf die eine oder andere Weise wieder im Amt “installiert” werden - eine Katastrophe für Land und Volk, aber längerfristig auch ein Desaster für die beiden Unionsparteien.

Drei Jahrzehnte lang schafften es nur drei Parteien, die Fünfprozentklausel für den Bundestag zu überwinden (ich zähle CDU und CSU hier als nur eine Partei). Inzwischen hat sich diese Zahl verdoppelt. Auch scheint für die Zukunft eine weitere Aufsplitterung des politischen Spektrums möglich, wodurch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, daß künftighin nur noch Koalitionen aus mehr als zwei Parteien eine Regierung bilden können.

Zwar scheint uns jetzt noch einmal eine Zweier-Koalition aus Union und SPD ins Haus zu stehen, die von der vordergründige Absicht angetrieben wird, eine Neuwahl zu verhindern. Scheitert dieses Vorhaben, dann werden die Karten völlig neu gemischt, wobei sich in der Austeilung ein Joker versteckt, der allen Amtsinhabern den Angstschweiß auf die Stirn treib: Die AfD. Trotzdem könnte Merkel wieder mal das Szepter in der Hand behalten, denn sie hat offenbar keine Bedenken, sich mit allen und jedem zu verbünden, wenn es zu ihrem Machterhalt erforderlich ist.

Zwar schloß sie bis jetzt eine Koalition mit der AfD kategorisch aus. Das war aber keine Ausnahme von ihrer Prinzipienlosigkeit sondern reine Augenwischerei, denn sie glaubte mit einer solchen Beteuerung keinerlei Risiko einzugehen. Erstens wäre bis dato ein derartiges Zweier-Bündnis rein rechnerisch nicht möglich gewesen, denn es hätte keine regierungsfähige Mehrheit erbracht, und mit einer Dreier-Koalition unter Einschluß der AfD konnte sie wegen der feindseligen Haltung der anderen Parteien und einem Großteil ihrer Parteigenossen gegenüber den “Rechtspopulisten” ohnehin nicht rechnen. Und schließlich gab es ja (linke) Kombinationen, die eine Mehrheit und damit die Kanzlerschaft versprachen. Und wie inzwischen praktisch alle, die politisch interessiert sind, erkennen, zählt für diese Frau am Ende des Tages nur der Erhalt der Kanzlerschaft und sonst gar nichts.

Die Dreier-Koalitionen in den Landtagen sind ja hauptsächlich deshalb möglich geworden, weil sämtliche Altparteien ein gemeinsames Feindbild besitzen: Den Emporkömmling, der sich Alternative für Deutschland nennt und der eine zusätzliche, bisher nicht dagewesene Gefahr des Mandatsverlust darstellt. Bekanntlich ist ja der Feind meines Feindes mein Freund und zwar so lange als die Bedrohung durch diesen gemeinsamen Widersacher anhält. Um die “Rechtspopulisten” abzuwehren, ist daher zur Zeit fast jede Dreier-, vielleicht auch Vierer-, oder in einem Extremfall – wenn es gar nicht anders gelingt, die “Rechten” im Zaum zu halten – vielleicht sogar eine Fünfer-Koalition vorstellbar – je nachdem, wie ausgeprägt die Notwendigkeit eines “Kampfes gegen Rechts” in näherer Zukunft noch empfunden wird.

Sollte sich aber irgendwann einmal eine schwarz-blaue Koalition als einzige regierungsfähige Kombination erweisen – das heißt, als die einzige Kombination, die der derzeitigen Regierungschefin den Erhalt ihres Amtes ermöglicht - dann wird man sehen, wie schnell Madame Hundertachtziggrad ein solches Bündnis für “alternativlos” erklärt. Im Merkel-Sprech wird sich das dann etwa wie folgt anhören: “Diese Kombination war nicht mein vordergründigster Wunsch, aber der Wähler hat zum Ausdruck gebracht, daß er eine solche Koalition für richtig hält, und dem Willen des Wählers muß in einer parlamentarischen Demokratie Rechnung getragen werden” - oder so ähnlich aber in der Bedeutung identisch.

Sollte die jetzt in Wien zustande gekommene schwarz-blaue Regierung nachhaltigen Bestand haben und im Vergleich mit der Bundesrepublik auch noch einige relative Erfolge nachweisen können, dann wird die Vollblut-Taktiererin diese Entwicklung in der Alpenrepublik als zusätzliche Rechtfertigung einer Annäherung an die AfD vorbringen können. Das würde ihr vor allem mit ihren konservativen Parteigenossen helfen, von denen viele – vor allem die kognitiv Dissonanten – aufmerksam und manche auch neidisch den weiteren politischen Fortgang beim südlichen Nachbarn beobachten. Merkel weiß offenbar genau, daß ihr die CDU-Abgeordneten nur so lange die Stange halten, als sie Grund haben, darauf zu vertrauen, daß Angela an der Macht bleibt, so daß ihre Loyalität zu dieser Frau mit dem Erhalt oder Gewinn eines Mandats oder Postens belohnt wird. Ist das einmal nicht mehr der Fall, dann ist es auch mit der Loyalität zu Ende: Sie lassen die Dame fallen wie eine heiße Kartoffel.

Überhaupt ist eine Psychoanalyse der verbliebenen Mitglieder, Wähler und Sympathisanten der Union sehr aufschlußreich, um die erwähnte kognitive Dissonanz, das zum Teil irrationale Verhalten eines Großteils der verbliebenen Parteimitglieder und auch der überwiegenden deutschen Öffentlichkeit zu begreifen. Wenn man jahrzehntelang mit ein und derselben politischen Partei sympathisiert hat, dann fällt es einem auch dann sehr schwer, sich von ihr abzuwenden, wenn man klar erkennt, daß sie von ihren traditionellen weltanschaulichen Standpunkten stark abgerückt ist.

Sich zu einer politischen Neuorientierung durchzuringen gelingt nicht, wenn man seine Informationen jahrein und jahraus von ein- und derselben abonnierten Tageszeitung und dem freiwillig gleichgeschalteten staatlichen Propagandafernsehen bezieht. Sie ergibt sich nur als Resultat zweier wesentlicher Verhaltensweisen: Erstens der Bereitschaft unterschiedliche Informationsquellen aufzusuchen, zu studieren, und objektiv gegen die eigene bisherige Überzeugung abzuwägen. Und zweitens der Fähigkeit zu selbständigem Denken, einer Charaktereigenschaft, die nur eine sehr begrenzte Anzahl von Individuen der Spezies homo sapiens ihr eigen nennen kann.

Das erinnert mich an meinen handwerklich begabten Schwiegervater, der sich in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts einen Volksempfänger bastelte und sich über Mittelwellen-Rundfunk täglich das anhörte, was auf dem Schweizer Radiosender Beromünster über den Fortgang des Krieges und über Deutschland berichtet und kommentiert wurde. Dadurch konnte er sich eine von der NSDAP-Propaganda unabhängige Meinung bilden und war schon zu Beginn des Rußlandfeldzuges davon überzeugt, daß Deutschland den Zweiten Weltkrieg verlieren würde. Die Möglichkeit einer solchen von der staatlichen Propaganda unabhängigen Informations-Quelle ist heute in viel größerem Maße gegeben als zu der damaligen Zeit. Durch das Internet eröffnet sich zum ersten Mal in der Geschichte eine Quelle, mit deren Hilfe man sich fast unbegrenzt pluralistisch informieren kann.

Nimmt man diese Möglichkeit wahr und verfügt man auch über ein ausreichendes Maß an selbstständigem Denken, dann kristallisiert sich immer deutlicher heraus, daß in den deutschen Unionsparteien von der ursprünglichen christlich-demokratischen und christlich-sozialen Grundhaltung nur noch wenig übriggeblieben ist. Einige der ursprünglichen Inhalte wurde fallen gelassen, sind aber zum Teil von einer neuen politischen Gruppierung, der AfD, aufgegriffen worden. Ein anderer Teil wurde in einer Weise umgedeutet, von der die Partei-Eliten offensichtlich annahmen, daß eine solche Entstellung nötig war, um ihnen den Erhalt ihrer gut dotierten Ämter zu sichern. Der deutlichste Ausdruck dieser Einstellung ergab sich in den Landtagen, in denen die CDU mit den Grünen koaliert.

Allein schon das Zustandekommen schwarz-grüner Koalitionen ist für viele Konservative ein Schock und für manche, die sich selbstständiges Denken bewahren konnten, bereits ein Grund, sich von der Union abzuwenden. Was aber dem Faß komplett den Boden ausschlägt, ist die Tatsache, daß die CDU fast ohne jede Debatte die grüne Forderung einer Frühsexualisierung der Schulkinder übernommen hat, und daß in Hessen der CDU-Kultusminister in dieser Angelegenheit auch noch den Vorreiter spielte.

So etwas wäre in der traditionellen Union nicht vorstellbar gewesen. Franz-Josef Strauß hatte seinen oft zitierten Ausspruch “rechts von der CSU darf es kein Vakuum geben” nicht richtig formuliert. Er hätte sagen müssen “rechts von dem, was die Union heute ist…..” Aber die Union ist nicht mehr das, was sie zu Zeiten von Franz-Josef war, sie ist sehr weit nach links abgeglitten. Insofern und etwas überspitzt ausgedrückt stellt das “C” in den Akronymen CDU und CSU heute nichts anderes mehr dar als einen Etiketten-Schwindel.

Warum aber diese kognitive Dissonanz; warum erkennen so viele Mitglieder, Sympathisanten und traditionelle Wähler den ideologischen Verfall, schaffen es aber aus emotionalen Gründen nicht, sich von der Partei zu verabschieden? Psychologen haben hierfür eine standardmäßige Erklärung: In jahrzehntelanger Zugehörigkeit oder Zuneigung zu ein und derselben politischen Gruppierung wird diese bei vielen Leuten zu einem Bestandteil ihrer persönlichen Identität. Die Partei wird zu einem Teil dessen, was sie sind, so daß eine Abkehr von ihr einer partiellen Selbstaufgabe gleichkäme.

Das Ego wehrt sich im Unterbewußtsein gegen eine solche partielle Marginalisierung des Selbstverständnisses, wobei die Intensität dieses Phänomens bei den meisten Leuten mit zunehmendem Lebensalter positiv korreliert. In etwas scherzhafter Anlehnung an eine Terminologie, die sich im Fußball eingebürgert hat, sprechen meine Frau und ich von der Ü60-, Ü70- und Ü80-Mannschaft, wobei das “Ü” für “über” steht, und die Zahl das Lebensalter angibt. Je höher diese Ziffer ist desto stärker ist die untergründige Resistenz gegen eine Abkehr von der lange favorisierten politischen Partei.

Aber auch die jahrzehntelang gehegten weltanschaulichen Überzeugungen sind Teil der Identität, so daß das Auseinanderklaffen von den neuen Inhalten der Partei und den traditionellen persönlichen Bekenntnissen bei manchen oder vielen die erwähnte kognitive Dissonanz hervorruft und dadurch eine nicht unerhebliche Identitätskrise auslösen kann. Weil die Hoffnung bekanntlich das letzte ist was stirbt, ballt sich bei vielen die Faust in der Hosentasche immer stärker zusammen, aber sie wählen zähneknirschend weiterhin die begriffliche Hülle und behalten die Parteimitgliedschaft in der Hoffnung, daß sich die traditionellen Inhalte wieder einstellen werden.

Das wird vermutlich auch so kommen, aber sehr wahrscheinlich erst nach einer weiteren erheblichen Erosion der Mitglieder- und Wählerbasis. Die störrische Bunker-Mentalität der Partei-Chefin verschleppt diese Korrektur erheblich. Das wird noch viel Stimmenverlust verursachen, der nicht mehr aufgeholt werden kann. Denn, um bei Strauß zu bleiben, rechts von dem, was die Union heute ist, hat sich in der Tat ein Vakuum geöffnet, und darin hat sich eine konservative demokratische Partei etabliert, deren Trend schon seit fast fünf Jahren unaufhörlich nach oben zeigt.

In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen wurde die CDU bei den letzten dortigen Landtagswahlen bereits von der AfD überholt, und

die letzte Umfrage in Brandenburg zeigt diese neue Partei schon bei 20% und die CDU mit 22% nur noch knapp darüber. Zwar betrachtet sich die Union immer noch als Volkspartei, aber wie man sieht, hat sie ganz offenbar immer weniger Volk. Die Tatsache, daß die andere frühere Volkspartei, die SPD, im Gleichschritt mit der Union in Richtung zur Marginalität abrutscht, kann man als Unionsmitglied nur dann als Trost empfinden, wenn man den Tatsachen nicht in die Augen blicken will.

Deswegen gibt es nur ein Szenario, das den Stimmenverlust einigermaßen eindämmen könnte: Eine Rückkehr zu den ursprünglichen weltanschaulichen Standpunkten oder mindestens zu einem Teil davon. Das geht aber nicht ohne eine Palastrevolution im Innern der Union. Der stetige Verlust von Stimmen und Mandaten resultiert ja aus einem wachsenden Unmut innerhalb der Wählerschaft, der auf die Veränderung der Inhalte zurückgeführt und der Parteispitze angelastet wird. Auf die Dauer bleibt ja in der Politik kein Stein auf dem anderen, und in einer parlamentarischen Demokratie bleibt nicht ewig die überwältigende Mehrheit der Wählerschaft auf ein und derselben Seite von der Mittellinie des politischen Spektrums.

In den 1950er- und 1960er-Jahren sprach man in der SPD vom "Genossen Trend,” dem damals nachhaltigen Aufschwung der Sozialdemokratie, eine Entwicklung, die etwa 1957 begann und gegen Mitte der 1970er-Jahre ihr Ende fand. Danach folgte für die Sozis eine Periode relativer Stagnation, aber durch das Auftreten der Grünen und der Linkspartei blieb die linke Seite des parteipolitischen Spektrums bis in die frühen Jahre des neuen Jahrtausends relativ stabil. Seit Beginn des zweiten Jahrzehnts beobachtet man in der indigenen deutschen Bevölkerung eine langsame Rückentwicklung zu stärkerem Konservativismus, was auch in der Gründung der AfD im Jahre 2013 und ihrem danach erfolgten Aufstieg zur drittstärksten Partei klar zum Ausdruck kommt. Aber die Parteikader von CDU und CSU stemmten sich mit ihrem Linksruck in zunehmendem Maße dem Rechtsruck der Wählerschaft entgegen.

Allmählich beginnt sich in Teilen der Basis die Befürchtung durchzusetzen, daß man mit den neuen Inhalten der amtierenden Führungsriege weiter auf der Verluststrecke bleiben könnte. Die Hauptgefahr für Merkel kommt daher nicht von denen, die der CDU den Rücken kehren sondern von solchen, die in der Partei bleiben, aber beginnen sich deutlicher und lautstärker gegen den Führungsstil der Partei- und Regierungschefin zu äußern, also die kognitiv Dissonanten, deren Zahl zur Zeit noch gering ist aber mit weiterem Verlust von Wählerstimmen ein beschleunigtes Wachstum erfahren wird.

Palastrevolutionen verlaufen nach einem typischen Muster. Zunächst beginnen einzelne Elemente der Nomenklatura und Nutznießer des Machtgefüges aufgrund von Vorgängen in der Bevölkerung oder sonst irgendwo außerhalb der Partei zu befürchten, daß eine Wende herannaht und daß dieser bevorstehende Umbruch ihnen persönlichen Schaden zufügen könnte. Vornehmlich befürchten viele, die ein Mandat innehaben, daß sie dieses verlieren könnten, weil die “Sonntagsfragen” ein Abwandern von Wählern zu den “Rechtspopulisten” anzeigen. Sie führen diese Stimmenverluste auf bestimmte Machenschaften des Führungsgremiums zurück und fangen an, sich untereinander gegen den Führungsstil der “Oberen” zu äußern, zunächst in Einzelgesprächen – symbolisch ausgedrückt unter vorgehaltener Hand - dann aber zunehmend innerhalb größer werdender Gruppen, ein Geräuschpegel, der leise beginnt aber kontinuierlich an Lautstärke gewinnt.

Knapp vor dem Umbruch erreicht die Angst vor dem politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Niedergang auch Teile der Kamarilla, des engeren Zirkels von Vertrauten, mit denen sich der Machthaber oder die Machthaberin eingebunkert hat und die ihm oder ihr lange Zeit nach dem Mund geredet hatten. Ab hier überstürzt sich dann alles. Zwar halten einige Kamarilleros dem Chef oder der Chefin weiterhin die Stange, manche aus Überzeugung, viele aber deswegen, weil sie sich viel zu lange viel zu weit und lautstark aus dem Fenster gelehnt hatten, so daß sie nicht hoffen können, ihren Hals nach der Wende noch aus der Schlinge ziehen zu können. Sie werden dann zusammen mit dem Oberhaupt von den Ereignissen überrollt. Eine Palastrevolution hat die Tendenz sehr langsam zu beginnen, anzuschwellen, und schlußendlich hereinzubrechen wie die Flut nach dem Bruch eines Staudamms.

Das hat es in der Geschichte schon oft gegeben, wenn auch nicht so sehr in Deutschland. Gut bekannt ist der Fall von Richard Nixon in den USA (er wurde erst mit dem größten Erdrutsche in der Geschichte des Landes im Amt bestätigt aber dann anderthalb Jahre später aus dem Amt gedrängt), und besonders ausgeprägt war die Beseitigung von Robespierre in der französischen Nationalversammlung. In unseren Tagen wird es sich selbstverständlich nicht so dramatisch abspielen wie vor über zweihundert Jahren. Aber nur sehr wenige, die klar und selbständig denken können, ahnen voraus, was da kommen wird, weil es kommen muß. Die Masse wird von der Flut überrascht und die meisten werden dann auch selbst zu einem Teil der Flut. Denn wie üblich will ja hinterher keiner nichts gewesen sein.

Die Wahrscheinlichkeit einer Palastrevolution rückt mit jeder “Sonntagsfrage” näher. Inzwischen ist die Alternative für Deutschland nicht nur zur drittstärksten Partei aufgestiegen sondern auch in den Bundestag eingezogen. Für jeden CDU-MdB oder MdL bedeutet ein Stimmen-Zugewinn der AfD eine Risiko-Erhöhung, das heißt, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, bei der nächsten Wahl sein Mandat zu verlieren, was ja auch den Irrationalismus und die Gehässigkeiten erklärt, mit denen man dieser neuen Partei begegnet. Man kann überzeugt sein, daß viele diese Bedrohung nicht mehr allzu lange hinnehmen werden. Irgendwann sagt man sich: “Wenn ich eh schon aus dem Haus fliege, dann kann ich denen auch gleich mal gehörig meine Meinung sagen! Und vielleicht rette ich mein Mandat auf diese Weise eher, als wenn ich weiterhin den Kratzbuckel mache!"

Der weiter oben erwähnte Email-Korrespondent äußerte auch die Ansicht, Merkel müsse schon deswegen gewinnen, weil die AfD für die Mehrheit nicht wählbar sei. Er transferierte also den status quo vom September 2016 auf den September 2017. Wenn Leute voraussagen, was sein wird, dann prophezeien die meisten von ihnen nicht die Zukunft, sie prophezeien die Gegenwart, vielleicht unter Einschluß der unmittelbaren Vergangenheit. Nach meinen Beobachtungen gilt das für alle Bildungsklassen einschließlich der sogenannten Wissenschaftler. Bei den Ökonomen habe ich das besonders deutlich erkannt. Wie oft hören wir Voraussagen wie zum Beispiel “die wirtschaftlichen Aussichten für die Zukunft sind hervorragend, denn die Beschäftigung IST auf einem hohen Niveau, die Unternehmergewinne SIND auf einem Rekord, die Inflation IST niedrig, die Konsumneigung IST hoch”, und so weiter und so fort – IST, SIND, IST, alles Gegenwart. Wenn aber wirtschaftliche Daten auf einem hohen Niveau SIND, dann könnten sie durchaus einen vorläufigen Höhepunkt erreicht haben. Und wie nicht nur Bergsteiger wissen, gibt es nur eine Richtung, die von einem Gipfel wegführt: Der Weg nach unten.

Projiziert man einen status quo in die weitere Zukunft oder betreibt die geradlinige Fortschreibung eines laufenden Trends, dann steht man mit seinen Voraussagen eine gewisse Zeit lang ziemlich gut da. Man liegt dann im wesentlichen nur einmal falsch, nämlich dann wenn sich der Trend wendet. Dummerweise ist aber das Erkennen einer Trendumkehr die einzige Voraussage, die wirklich einen Wert besitzt. Solange eine Hochkonjunktur anhält, kann man sich einfach zurücklehnen und die Fahrt genießen. Und weil man unterbewußt annimmt, daß alles so schön bleiben wird wie es im Augenblick ist - weil es ja meistens wenn auch nicht immer so der Fall gewesen war - werden Politiker, Wirtschaftler, journalistische Schmierfinken, Wissenschaftler und auch der größte Teil der Bevölkerung von bedeutenden Richtungsänderungen immer wieder völlig überrascht und überrumpelt.

Mein Email-Korrespondent extrapoliert aber nicht etwa einen laufenden Trend, sondern er projiziert einen bestehenden Zustand ad infinitum; er friert die Gegenwart sozusagen ein, wobei er sogar einen bereits etablierten Trend ignoriert. Denn was die AfD betrifft, läge er mit einer geradlinigen Fortschreibung wahrscheinlich richtiger – bis zu einer möglichen Trendwende, deren Zeitpunkt keiner voraussagen kann. Zu sagen, die AfD sei für die meisten nicht wählbar, mag eine korrekte Darstellung des augenblicklichen Geisteszustands der Massen gewesen sein, aber anzunehmen, daß das ein Jahr danach immer noch gelten würde, ist eine Prophezeiung mit einem dicken Pferdefuß. Auch hier ist offenbar der Wunsch der Vater des Gedankens. Der geglättete Trend für die Wählbarkeit der AfD zeigt nämlich seit drei Jahren unaufhörlich nach oben, wenn auch mit erheblichen Schwankungen um die Gerade. Eine Extrapolation dieser Linie wäre viel eher angebracht gewesen als anzunehmen, daß alles so schön bleibt, wie es im September 2016 war. Alles fließt, lehrte der griechische Philosoph Demokrit von Ephesos schon vor 2500 Jahren.

Zurück zur Palastrevolution. Sie ist das einzige Ereignis, das den dramatischen Verfall der Union noch einigermaßen abbremsen kann. Je später sie kommt, um so mehr Schaden wird angerichtet – für die Union aber auch für Land und Volk. Sollte das Ablösen der Führungsriege zu lange hinausgezögert werden, dann droht der CDU/CSU wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal, wie das, das die italienische Democrazia Cristiana (DC) vor etwa zwei Jahrzehnten ereilt hat. Darauf ist auch in den Medien schon gelegentlich hingewiesen worden.

Die DC war jahrzehntelang das italienische Pendant der deutschen Unionsparteien. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1990er Jahre stellte diese politische Kraft wiederholt das italienische Regierungsoberhaupt, den Ministerpräsidenten. Wer aber heute die DC im italienischen Parteien-Spektrum sucht, der findet sie nicht mehr, denn sie fiel bereits 1994 auseinander. An ihrer Stelle findet sich jetzt eine Gruppe von vier bis fünf kleinerer Parteien – Bruchstücke der CD - die versuchen konservatives Gedankengut zu bewahren. Was war hier geschehen? Im Prinzip spielte sich in Italien genau das ab, was den deutschen Unionsparteien noch bevorstehen dürfte – nicht mit aller Sicherheit, aber mit einer fast täglich wachsenden Wahrscheinlichkeit. Dabei dürften die in einigen Landtagen ausgehandelten Koalitionen entscheidende Meilensteine darstellen.

Warum hat sich die DC aufgelöst? Ganz kurz gesagt zerbrach sie an der schleichenden Erosion ihres ursprünglichen konservativen Gedankenguts und einer unaufhörlichen Öffnung nach Links, die sich über etwas mehr als ein Jahrzehnt hinzog. Die Partei erreichte bei den Wahlen immer nur die relative Mehrheit und war daher auf Koalitionen angewiesen, zu denen sie auch linke Parteien einlud. Um solche Bündnisse zu ermöglichen, verschob sie ihre Inhalte immer mehr nach links, offiziell um eine “nationale Einheit” zu gewährleisten. In Wirklichkeit war das aber jedes Mal ein fauler und unnötiger Schachzug, der offensichtlich nur dem Zweck diente, zu vermeiden, daß man in die Opposition abgedrängt würde.

Schließlich bildeten die italienischen Christdemokraten sogar eine Koalition aus fünf Parteien, die in der Wählerschaft verächtlich als pentapartito (zu Deutsch “Fünferpartei”) abgewertet wurde. Im Lauf dieser Entwicklung verlor die Führungsriege immer mehr die Zustimmung ihrer Basis und traditionellen Wählerschaft. Erschwerend kam letztlich hinzu, daß einige Partei-Größen der DC als auch ihres hauptsächlichen Koalitionspartners, der PSI (italienische Sozialisten), in Korruptionsskandale verwickelt wurden. Bei der Wahl im Jahre 1994 erlitt die DC dann schließlich eine schwere Niederlage, der Parteivorsitzende trat zurück, es erfolgten gegenseitige innerparteiliche Schuld-Zuweisungen und als Folge davon spaltete sich die DC in die bereits erwähnten kleineren Gruppierungen auf.

“Die Geschichte wiederholt sich nicht aber sie reimt sich,” sagte einst Mark Twain. Deswegen ist es auszuschließen, daß es hierzulande genau so kommt wie in Italien. Aber eine Neuordnung des politischen Spektrums rechts von der Mittellinie hat ja längst begonnen. Das von Strauß verabscheute Vakuum rechts von der Union wurde durch den Linksruck der CDU/CSU nicht nur aufgerissen, es weitet sich auch zunehmend aus, wird aber gleichzeitig wieder in dem Maße gefüllt, in dem die AfD Stimmen zugewinnt. Die FDP, die viele bis vor einem Jahr schon völlig aufgegeben hatten, ist wieder im Bundestag. Und mit der Identitären Bewegung und PEGIDA sind zwei weitere Bürger-Bewegungen entstanden, die sich womöglich as Parteien organisieren und an der Füllung des Vakuums beteiligen könnten. Dreh dich im Grabe um, lieber Franz-Josef Strauß!

Es ist in der Tat frappierend, wie sehr das seinerzeitige Verhalten der DC der Entwicklung gleicht, die bereits seit einiger Zeit in den deutschen Unionsparteien sichtbar geworden ist. Mitglieder und Sympathisanten, die über diese Ähnlichkeit Bescheid wüßten - zum Glück oder leider gibt es kaum welche - müßten sie schlicht und einfach als erschreckend empfinden. Der Abbau traditioneller konservativer Werte ist in CDU und CSU bereits weit fortgeschritten, die laufende Anbiederung an alles das, was links ist, wird immer deutlicher, und der schleichende Verlust des Vertrauens der Basis zeigte sich klar bei den letzten Landtagswahlen und bestätigte sich weiter bei der Bundestags-Wahl. Na ja, könnte einer sagen, schön und gut, aber Italien ist nun mal Italien, und das hier ist Deutschland. Schließlich haben wir hierzulande nicht die Korruption wie sie da unten üblich ist, und die ist es ganz offenbar, was der DC letztendlich das Genick gebrochen hat.

Aber Achtung: Hier sollte man die Erkenntnisse einer brandneuen wenn auch noch wenig oder kaum beachteten Richtung der empirischen Sozialforschung in die Überlegungen mit einbeziehen, bei der das Phänomen der kollektiven Stimmung in der Bevölkerung eine zentrale Bedeutung einnimmt. Diese Erscheinung entsteht autogen innerhalb der Bevölkerung, wird also nicht durch Ereignisse hervorgerufen, bedingt aber ihrerseits und umgekehrt die Art, den Charakter und das zeitliche Auftreten der Ereignisse, die tatsächlich stattfinden. Die kollektive Stimmung ist bipolar und schwankt in Wellen unterschiedlicher Größenordnung zwischen positiv und negativ, das heißt zwischen überwiegendem Optimismus und überwiegendem Pessimismus.

Die Wellen bestimmen unter anderem auch die Wirtschaftszyklen, das heißt das Hin und Her zwischen Hochkonjunktur und Rezession. Wer die Auswirkungen der kollektiven Stimmung laufend beobachtet und analysiert, kann kaum einen Zweifel darüber empfinden, daß sich in allen westlichen Industrieländern eine jahrzehntelange Periode positiver Grundeinstellung im Abklingen befindet und langsam in eine ähnliche wenn auch vermutlich nicht ganz so lange Zeitspanne negativer Stimmung übergeht. Wir befinden uns in der Frühphase eines politisch-gesellschaftlichen Paradigmenwechsels, der sich über die nächsten Monate und Jahre intensivieren wird.

Aus dieser Sicht sind zwei gesellschaftliche Phänomene besonders zu beachten. Erstens ist es eine unbestreitbare aber sehr wenig beachtete Tatsache, daß der Verlauf der Wirtschaft in erster Linie den jeweils im Amt befindlichen Politikern und Parteien zugute gehalten oder angelastet wird, obwohl die Entscheidungen dieser Leute nicht für den Wirtschaftsverlauf ursächlich sind, weil die Konjunktur-Zyklen von der kollektiven Stimmung in der Gesamtbevölkerung abhängen. Politiker sind Teil des Kollektivs und unterliegen der gleichen kollektiven Stimmung, weshalb ihre Entscheidungen im wesentlichen mit dieser Stimmung konsistent sind.

Das sah man zum Beispiel ganz deutlich bei der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg, wo die Partei der Grünen ihr bisher bestes Ergebnis einfuhr und nun auch den Ministerpräsidenten stellt. Von allen 16 Bundesländern wies das Ländle damals noch das höchste Wirtschaftswachstum auf, nirgends verlief die Hochkonjunktur so geschmiert wie dort, die Leute waren zum größten Teil in guter Stimmung, und all das wurde bei der Wahl in leutseliger Einfältigkeit auf die „Fähigkeiten” Kretschmanns zurückgeführt, den man liebevoll einen “Landesvater” nannte. Aber ursächlich für die gute Wirtschaftslage war nicht irgend etwas, das Herr Kretschmann in Stuttgart aus einem Hut herauszauberte, sondern die damals noch optimistische Einstellung der Schwaben und Badener. Der Ministerpräsident ist halt auch ein Schwabe, teilt daher die gute Stimmung seiner Landsleute und trifft Entscheidungen, die nicht mit der vorherrschenden Stimmung im Ländle kollidieren.

Sinkt aber eine Wirtschaft in Rezession, und erleben viele Leute Wohlstands-Einbußen, das heißt, kippt die kollektive Stimmung von positiv nach negativ, von überwiegendem Optimismus zu überwiegendem Pessimismus, dann will der typische Wähler dieser seiner negativen Laune freien Lauf lassen. Viele Leute wandeln sich zu dem, was gelegentlich als “Wutbürger” bezeichnet wird. Die Schuld für die schlechte Wirtschaftslage wird dann hauptsächlich den im Amt befindlichen Politikern und in erster Linie dem Regierungs-Oberhaupt zugeschrieben. Na ja, man findet schon etwas, das die alle “verbrochen” haben. Die Mehrheit im Volk will ihre schlechte kollektive Laune irgendwie befriedigen, und man befriedigt sie am besten, indem man für die eingetretenen Unannehmlichkeiten Verursacher sucht, die als Schuldige herhalten könnten.

Der oberste Politiker – Kanzler, Präsident, Ministerpräsident, oder was immer auch sein Titel ist - steht dabei meistens in der ersten Reihe der Zielscheiben, aber auch andere Personen und Organisationen kommen nicht ungeschoren davon, wenn die Leute Wohlstandseinbußen erleiden. Banken und deren Direktoren, Hedge Fonds, sogenannte “Heuschrecken,” Industrie-Unternehmen und deren Kapitäne, internationale Organisationen und viele andere natürliche und juristische Personen werden als “Sündenböcke” entdeckt und manchmal auch auf irgendeine Art und Weise “zur Rechenschaft gezogen,” auch wenn es nur ein bleibender schlechter Ruf oder eine nachhaltig schlechte Beurteilung durch die Medien und die “Wissenschaftler” ist. Dabei müssen die so Identifizierten wie bereits gesagt gar nichts mit der schlechten Wirtschaftslage zu tun haben. Es geht nur darum, Schuldige für irgend etwas auszumachen, damit man seinen Unmut zufriedenstellen kann.

Dann werden auch Fakten aufgerollt, über die man in Zeiten guter Stimmung und guter Wirtschaftslage oft jahrelang hinweggeschaut hat. Ein typisches Phänomen ist der mediale Drang zum Nachforschen, das heißt “Untaten” und deren Verursacher zu suchen - ein Trieb der in Zeiten guter kollektiver Stimmung in viel geringerem Maße vorhanden ist. Als Beispiel dafür, wie die Wirtschaftslage einem im Amt befindlichen Politiker zu gute gehalten oder angelastet wird, sei hier François Hollande erwähnt. Erst wurde er in einer Welle verbesserter kollektiver Stimmung zum Präsidenten Frankreichs gewählt. Aber schon ziemlich kurz danach, als diese Stimmung abgesunken war und weiter nach unten tendierte, und die französische Wirtschaft weiter in die Rezession absank, fielen seine Umfrage-Werte schneller und tiefer als für irgendeinen anderen Präsidenten der Fünften Republik.

Und die damaligen Straßenschlachten in Paris waren ein weiteres Indiz einer sich rapide verschlechternden kollektiven Laune. Dann erreichte diese Welle schlechter pessimistischer Stimmung ihren Tiefstpunkt, eine entgegengerichtete Welle optimistischer Stimmung setzte ein und man wählte mit Macron einen neuen Hoffnungsträger, ins Amt. Von der Dauer der neuen Welle, deren Länge nicht gut vorausgesagt werden kann, wird es abhängen, ob und wann auch dieser neue Messias seine politische Kreuzigung erlebt.

Die zweite zu beachtende Tatsache besteht darin, daß in den Kellern der deutschen Politik zu jeder Zeit eine Anzahl unaufgeklärter “Fälle” schlummert. Manche sind weithin bekannt, andere nicht. Um nicht weitschweifig zu werden, sei hier nur ein einziger solcher “Fall” erwähnt: die sogenannte “CDU Spendenaffäre.” Im Jahre 2000 gab Wolfgang Schäuble zu, von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber 100.000 D-Mark in bar erhalten zu haben, eine Partei-Spende, die er in einem Briefumschlag an die Schatzmeisterin der hessischen CDU weitergereicht haben will, die aber nie in der Parteikasse und den Büchern auftauchte. Weder Schäuble noch der damalige Ministerpräsident Roland Koch, noch die hessische Schatzmeisterin, noch sonst jemand konnten für das Verschwinden des Geldes eine plausible Erklärung unterbreiten.

Zwar wurden alle Beteiligten “befragt” und widersprachen einander zum Teil, aber in jenen Zeiten guter kollektiver Stimmung und guter Wirtschaftslage war der Nachforschungsdrang der Medien und Parteien nicht allzu groß und die Affäre versickerte schließlich im sprichwörtlichen Sand an den Ufern des Mains. Dem damaligen Kanzler Helmut Kohl werden noch weitere sehr ähnliche korrupte Machenschaften nachgesagt, wobei Millionen-Summen von D-Mark in bar zwischen Deutschland und Lichtenstein hin- und hergeschoben wurden.

Zum Teil verschwanden diese Gelder auch in privaten Kanälen, darunter ziemlich wahrscheinlich auch in den Taschen von Helmut Kohl. Letzterer verweigerte für den Rest seines Lebens jede Aussage über die Herkunft und den Verbleib dieser Moneten, wobei er die fadenscheinige und juristisch völlig unakzeptable Begründung gebrauchte, er hätte bestimmten Leuten sein Ehrenwort gegeben, über diesen ganzen Sachverhalt zu schweigen. Daß diese Affären nicht weiterverfolgt werden, kann man nur mit der immer noch andauernden Welle optimistischer Stimmung erklären. Daß das nach einer Wende des gegenwärtigen wirtschaftlichen Auschwungs auch noch der Fall sein wird, ist zu bezweifeln.

So viel also für die Vorstellung, man könne den deutschen Unionsparteien nicht das gleiche Schicksal voraussagen wie der Democrazia Cristiana, denn in Deutschland gäbe es ja nun mal wesentlich weniger Korruption als in Italien – eine Einstellung, die man typischerweise in einer Phase optimistischer kollektiver Stimmung und wirtschaftlicher Hochkonjunktur erwarten darf. Da aber Hochkonjunktur und Rezession immer abwechseln, und die gute Wirtschaftslage schon überaus lange angedauert hat, steht uns offenbar in absehbarer Zeit ein wirtschaftlicher Niedergang ähnlicher Größenordnung bevor, mit steil absinkender kollektiver Stimmung und einem erhöhten Drang, Sündenböcke für irgend etwas zu finden und zu bestrafen.

Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit werden dann die CDU-Spenden-Affären wieder aufgerollt und dann irgendwie „aufgearbeitet” werden. Was dabei herauskommen wird, kann man nicht voraussehen. Es kann aber durchaus sein, daß diese “Fälle” – vielleicht im Zusammenhang mit noch weiteren zur Zeit unbekannten “Fällen” - ein Ausmaß erreichen, daß jener Affäre gleichkommt, die seinerzeit zur Auflösung der CD in Italien beigetragen hat.

Übrigens könnte man die vor kurzem aus dem Schilf geschossenen beiden Affären, die Panama-Affäre und die Steuerparadies-Affäre, als den Ausdruck eines beginnenden, vor allem medialen, Nachforschungsdrangs betrachten, was anzudeuten scheint, daß sich die Stimmung in der Bevölkerung einem Wendepunkt nähert. Noch scheint der Pessimismus nicht auszureichen, um beide Affären mit Nachdruck zu verfolgen, aber man kann wohl annehmen, daß das schon in Kürze der Fall sein wird. Die Gelder, deren Verbleib Schäuble nicht erklären kann und über die sich Kohl aus Gründen des “Ehrenwortes” zum Schweigen verpflichtet sah, sind möglicherweise selbst im Panama-Kanal versunken oder tauchen in irgendwelchen Steuer-Paradiesen wieder auf. Das ist im Augenblick reine Spekulation, aber warten wir mal ab. Fast alle politischen Ereignisse, die viel Staub aufwirbeln, platschen völlig unvorhergesehen in den politischen Alltag hinein.

Summa summarum kann man sagen, daß die Union mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit an einer Wegscheide angekommen ist. Entweder es gelingt eine Palastrevolution gegen Merkel und ihre gesamte Kamarilla – und das hoffentlich bald – oder man muß mit einer ähnlichen wenn auch nicht deckungsgleichen Entwicklung rechnen, wie sie seinerzeit in Italien stattgefunden hat. Dabei darf die innerparteiliche Revolution nicht von zahmen Papiertigern wie den Mitgliedern des sogenannten Berliner Kreises ausgehen, denn Leute wie Bosbach mosern zwar in allen Talkshows herum, fressen aber der Parteichefin jederzeit aus der Hand. Die k.o.-Runde muß von Leuten eingeleitet, durchgeführt und abgeschlossen werden, die selbst etwas Bedeutendes zu verlieren haben und daher zu radikalerem Vorgehen bereit sind. Das sind diejenigen, die Merkel zehn Minuten lang stehend applaudierten, solange sie meinten, damit ihr Mandat und ihr Einkommen erhalten zu können, die aber langsam erkennen, daß nur das gegenteilige Verhalten ihren Interessen dienen kann, weil die kollektive Stimmung im Begriff ist, zu kippen und sich erheblich zu verändern.

Das derzeitige politische Umfeld in Deutschland entspricht durchaus dem althergebrachten Spruch “große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.” Es ist ein sehr langer Schatten, denn die Zersetzung der Volksparteien hat ja bereits vor Jahren, wenn auch für die meisten unmerklich, begonnen. Zwar meinte kürzlich der frühere Bundes-Innenminister Friedrich mit Bravour, niemand könne die Union spalten – auch keine Frau Merkel, wie man zwischen seinen Zeilen herauslesen kann. Aber das meiste, was Politiker einmal als „unmöglich” bezeichneten, ist über kurz oder lang zur neuen Wirklichkeit geworden. Und was uns als „alternativlos” verkauft wird, hat typischerweise die Tendenz, irgendwann einer unerwarteten “Alternative” Platz zu machen. Als Politiker muß man daher eine besondere Fähigkeit gut beherrschen: die Rechtfertigung einer dramatischen Kehrtwende nach einer völlig falschen Beurteilung politischer Zusammenhänge. Die amtierende Europameisterin (Weltmeisterin??) in dieser Disziplin heißt Angela Merkel.

Was immer die Zukunft bringt, wir stehen auf alle Fälle vor einer weiteren Zersplitterung der parteipolitischen Landschaft in Deutschland. Italienische Verhältnisse sind nicht auszuschließen. Mit Sicherheit wird man die Hauptschuld für diese Entwicklung letztendlich und hauptsächlich der derzeitigen Regierungschefin anlasten. Aber vorher muß die kollektive Stimmung und damit die Beliebtheit der Kanzlerin bundesweit noch weiter absinken.

Wie sich immer deutlicher herauskristallisiert, war die CDU für Merkel nie etwas anderes als Mittel zum Zweck, genauer gesagt als Mittel zum politischen Machtgewinn und Machterhalt. Diese Frau hat offenbar nie einer eigenen Weltanschauung gehuldigt sondern besitzt die erstaunliche Fähigkeit, sich in jede vorherrschende Ideologie und jeden Zeitgeist so einzuordnen, daß für sie selbst das beste dabei herausspringt. Das war schon in der DDR der Fall, wo sie sich nie erkennbar gegen das Regime stellte und nur so sehr für das herrschende System engagierte, als es zur Erfüllung ihrer eigenen Zwecke erforderlich war. Ein bewundernswerter politischer Balance-Akt.

Nach der Wende erschien ihr die CDU offenbar als das bestgeeignete Sprungbrett in die westliche Politik. Sie wußte zum Beispiel genau, wie lange sie Helmut Kohl unterstützen durfte, und ab wann mit dieser ihrer Unterstützung Schluß sein mußte. Selbstsüchtige Pragmatiker ihrer Art gibt es in der Politik zwar zuhauf, aber nur wenige besitzen die diesbezügliche Begabung einer Angela Merkel. Als sie vor etwa einem Jahr die Spitze ihrer Popularität erreichte, glich sie in einer bestimmten Hinsicht der seinerzeitigen argentinischen Präsidenten-Gattin Evita Peron.

Zwar entspricht Angela nicht wie seinerzeit Evita dem Schönheitsideal ihrer Zeit, und sie wird sicherlich auch nicht von dem Narzißmus angetrieben, der für die Argentinierin so typisch war. Gemeinsam ist beiden jedoch, daß die eine wie die andere von ihren Landsleuten zumindest eine Zeit lang geradezu abgöttisch verehrt wurde, aber für dieses Volk nicht die geringste Gegenliebe empfand. Im Gegensatz zu der Argentinierin ist die Deutsche sogar dabei, dem von ihr regierten Land und Volk unermeßlichen Schaden zuzufügen. Es wäre sehr interessant in die Zukunft zu sehen und herauszufinden, was Historiker in einigen Jahrzehnten über diese Frau und die gegenwärtige Periode der deutschen Geschichte zu sagen haben.

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