An: Deniz Yücel

Gefängnis Silivri Ceza İnfaz Kurumları

Silivri, Türkei

Lieber Deniz Yücel,

Sie tun mir aufrichtig leid! Nicht bloß, weil Sie zur Zeit in einem türkischen Gefängnis einsitzen. Eine solche Art von Behausung ist zwar kein Vier-Sterne-Hotel, wie es zur Zeit in Nordrhein-Westfalen sogenannten Flüchtlingen zur Verfügung gestellt wird, stellt aber auch wahrscheinlich keinen nachhaltigen Leidensweg dar, denn es wird sich sehr vermutlich in Kürze ändern, spätestens dann, wenn die nächste deutsche Bundesregierung im Amt ist. Es besteht ja kein Zweifel daran, daß die kommende Obrigkeit in Berlin von Parteien gestellt werden wird, die keine Bedenken haben dürften, Sie aus den Klauen Erdogans herauszukaufen. Der typische deutsche Untertan wird das auch als richtig empfinden. Ähnlichen Menschenhandel hat man ja schon vor Jahrzehnten mit der DDR betrieben. Aber anders, als man das mit Erich Honecker gemacht hat, wird man dem Despoten am Bosporus wahrscheinlich kein Geld anbieten sondern eine andere Art von politischem Kuhhandel unterbreiten.

Der hauptsächliche Grund, warum ich Sie aufrichtig bedauere, ist die psychopathologische Verfassung, in der Sie Sich offenbar befinden. Sie äußerte sich in mehreren Ihrer journalistischen Veröffentlichungen, vor allem aber in einem „Beitrag,” den Sie vor einiger Zeit in taz.de veröffentlichten, und der inzwischen in Deutschland weithin bekannt geworden ist. Ich wiederhole hier als Zitat nur die beiden Sätze, die Ihre emotionale Befindlichkeit am deutlichsten offenbaren:

"Der baldige Abgang der Deutschen ist aber Völkersterben von seiner schönsten Seite. ...diese freudlose Nation also kann gerne dahinscheiden. Etwas Besseres als Deutschland findet sich allemal."

Der Geisteszustand, den eine solche Äußerung zum Ausdruck bringt, kann in keiner Weise als normal betrachtet werden, daher meine Vermutung, daß ihm eine Psychopathologie zugrunde liegt. Was bewegt jemanden, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, so niederträchtig über dieses Land zu denken – oder nein, unbedacht zu schreiben, denn ganz offenbar steckt da nicht viel Denken dahinter. Ich glaube, die Antwort ist ganz einfach: Sie, Deniz Yücel, leiden ziemlich eindeutig an einer schweren Ausprägung des Syndroms, das die Psychologen als Identitätskrise bezeichnen. Man könnte daher geneigt sein, Ihnen zu empfehlen, den Rat eines Psychiaters einzuholen. Aber Psychologie ist keine exakte Wissenschaft, und ihre angewandten Formen, Psychoanalyse und Psychotherapie, können in den mehr als einhundert Jahren ihres Bestehens nicht auf eine große Zahl nachhaltig überzeugender Diagnose- und Heilerfolge zurückblicken. Insofern erscheint es vermessen, Sie dazu überreden zu wollen, sich der Behandlung eines Couch-Doktors zu unterziehen - abgesehen natürlich davon, daß Sie einen solchen Ratschlag mit Sicherheit nicht nur entschieden von sich weisen sondern als dreiste Beleidigung empfinden würden.

Auch ist ziemlich klar, daß Sie Sich Ihrer psychischen Verfassung gar nicht bewußt sind, vor allem nicht in Ihrer gegenwärtigen Lage, da ihre Gedanken und Gefühle zur Zeit überwiegend mit der Frage beschäftigt sind, wie Sie Sich aus dem türkischen Strafvollzug herauswinden könnten. Wie bereits gesagt vermute ich sehr, daß ihnen die nächste deutsche Bundesregierung dabei sehr behilflich sein wird. Wenn Sie dann frei sind, wird Ihre Identitätskrise wieder in den Vordergrund treten. Dabei stellen Sie unter den in Deutschland lebenden Leuten mit türkischem Stammbaum eine Besonderheit, eine Ausnahme, dar, denn die weitaus meisten Mitglieder dieser Volksgruppe empfinden nicht den geringsten Identitätskonflikt. Einige ganz wenige haben sich voll nach Deutschland hin orientiert, fühlen sich als Deutsche, haben nur Positives über dieses Land zu sagen, und ich weiß zumindest von einem erfolgreichen türkischstämmigen Schriftsteller, der immer wieder seine Dankbarkeit gegenüber dem Land, das ihm seinen Erfolg ermöglicht hat, ausdrückt, und der sein Geburtsland und dessen Kultur ganz offen verachtet.

Der weitaus größte Teil der hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln hat aber deswegen nicht das gleiche Problem wie Sie, weil diese Leute identitätsmäßig Türken geblieben sind und weil sie diese türkische Identität in Parallelgesellschaften ausleben können. Das stellt für den gesamten deutschen Sprach- und Kulturraum eine bisher nicht gekannte Herausforderung dar. Deutschland und Österreich haben im Laufe ihrer Geschichte eine ganze Reihe von Massen-Einwanderern aufgenommen, die alle ziemlich reibungslos eine auf ihre neue Heimat bezogene Identität angenommen haben. Die jetzt hier lebenden Leute mit türkischem Stammbaum sind die ersten Einwanderer bei denen das mehrheitlich nicht mehr der Fall ist. Um einen Vergleich zu ziehen, braucht man nicht, wie das sehr häufig getan wird, bis zu den Hugenotten zurückzugehen, denn die jüngere deutsche Geschichte bietet eine Anzahl sehr guter Beispiele gelungener Eingliederung von Migranten nichtdeutscher Herkunft.

Besonders gut integrierten sich die polnischen „Gastarbeiter,” die vor mehr als 100 Jahren hauptsächlich ins Rheinland einzogen, und die tschechischen und slowakischen Muttersprachler („Böhmen,” wie man sie damals zusammenfassend nannte), die auf der Suche nach Beschäftigung in den deutschsprachigen Teil der Habsburg-Monarchie strömten. Beide Migrationen fielen in die Zeit, als die industrielle Revolution im deutschsprachigen Raum ihren ersten Höhepunkt erreichte. Dadurch entstand in Europa das, was die Demographen einen Push-and-Pull-Faktor nennen – „Push” (also „Schub” oder „Anstoß”) durch den damaligen Geburtenüberschuß in den Ostbereichen und „Pull” (am besten mit „Sog” übersetzt) wegen des Mangels an Arbeitskräften im Westen. Die Eingliederung gelang diesen Migranten deshalb so gut, weil die identitären Unterschiede zur angestammten Bevölkerung im Vergleich mit der großen Masse der heutigen Zuwanderer gering und darüber hinaus auch noch gut beherrschbar waren.

Das wesentlichste Identitäts-Merkmal war ja damals nicht die ethnische Zugehörigkeit sondern die Religion. Polen und „Böhmen” waren katholisch, und das waren auch die meisten Rheinländer und fast alle Österreicher. Als Folge davon kam es zu sehr vielen Eheschließungen von Einwanderern mit Einheimischen. So manche Eltern in Köln oder in Wien mögen zwar die Nase gerümpft haben, wenn die Tochter einen Polen oder Böhmen heiraten wollte, aber kategorischen Einspruch gab es kaum, denn immerhin war der Kerl ja katholisch und war daher leichter zu akzeptieren als ein Schwiegersohn, der zwar Deutschsprachler aber evangelisch war. Und weil die meisten der damaligen Migranten junge Männer waren, haben sich die polnischen, tschechischen und slowakischen Familiennamen gut erhalten. Namen wie Wischnewski, Grabowski, Nowitzki und dergleichen haben sich inzwischen vom Rheinland ausgehend über ganz Deutschland verbreitet, und kaum jemand denkt heute beim Hören eines solchen Namens daran, daß der Träger einen polnischen Vorfahren hatte. Jeder dritte Wiener heißt jetzt entweder Swoboda, Novotny, Nemetz oder sonst irgendwie böhmisch, und Novak ist sogar die häufigste Eintragung im Wiener Telefonbuch.

Das ist heute entschieden anders. Religion spielt für die meisten heute lebenden Westeuropäer keine besondere Rolle mehr und ist für diese Leute kaum noch eine Komponente ihrer Identität. Ganz anders verhält es sich in dieser Hinsicht mit den schon seit Jahrzehnten hier lebenden Menschen vorderasiatischer, vornehmlich türkischer, Herkunft und besonders mit den zur Zeit neu ins Land strömenden sogenannten „Flüchtlingen.” Religion ist für die meisten dieser Leute der Hauptbestandteil ihrer Identität, aber ihre konfessionellen Überzeugungen sind von denen der „schon lange hier Lebenden” so unterschiedlich, daß sie weder willens noch in der Lage sind, sich in die bestehende Gesellschaft von „Ungläubigen” einzugliedern.

In der Regel erzeugt eine solche Distanz von Einwanderern zu der bodenständigen Bevölkerung auf die Dauer einen nicht unerheblichen Konflikt der eigenen Identität mit der neuen gesellschaftlichen Umwelt, was unter normalen Umständen zu nicht unerheblichen psychologischen Problemen führen kann. Die stark religiös ausgerichteten und bildungsferneren Schichten – das ist der größte Teil dieser Neubürger - lösen das Problem dadurch, daß sie sich mit Gleichgesinnten zusammenscharren und Parallelgesellschaften bilden, in denen sie ihre Identität beibehalten können. Einige der besser gebildeten und daher weniger religiös ausgerichteten Einwanderer – eine kleine Minderheit – erleben dagegen eine größere psychische Herausforderung. Offenbar fallen Sie, Deniz Yücel, in diese letztere Kategorie.

Wir Menschen sind ja nun mal alle Singularitäten, das heißt, es gibt unter uns immer ein breites Spektrum verschiedener weltanschaulicher Ausrichtungen. Wenn auch der weitaus größte Teil der Einwanderer stark in den von ihren Familien überlieferten religiösen Vorstellungen verhaftet bleibt, sind da immer auch welche, für die Religion eine geringere bis gar keine Bedeutung besitzt. Nun kann man zwar aufhören an etwas zu glauben, und man kann aus einer Konfessionsgemeinschaft austreten, aber mit der ethnischen Herkunft ist das ganz anders; man kann sie weder aufgeben noch verleugnen, denn sie ist durch die Geburt und damit durch die Natur vorgegeben. Sehr oft verrät ja auch das Aussehen eines Menschen, in welchem Winkel des Planeten er oder sie geboren wurde.

Einige sogenannte Ex-Muslime haben sich von der islamischen Religion abgewandt, bekennen sich aber nach wie vor ziemlich uneingeschränkt zu ihrer Herkunft. Die ethnische Zugehörigkeit ist weiterhin ein Element ihrer persönlichen Identität. Je nachdem, wie stark sie diese Zugehörigkeit empfinden, haben manche dieser Leute ein größeres psychisches Problem als jene, die stärker in der Religion verwurzelt bleiben. Diese säkularen, agnostischen oder gar atheistischen Neubürger können sich nicht in Parallelgesellschaften flüchten, weil sie dort ebenfalls stark, vielleicht noch stärker, mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt kontrastieren. Als vom Glauben Abgefallene sind sie dort vielen verhaßt, stärker noch als solche, die als „Ungläubige” geboren wurden. In den meisten islamischen Ländern steht ja auch auf die sogenannte Apostasie, den Abfall vom islamischen Glauben, die Todesstrafe.

Besonders betroffen sind in dieser Hinsicht einige jener, die hierzulande geboren oder zumindest hier aufgewachsen sind und darüber hinaus auch noch eine sehr gute Bildung genossen haben. In der Regel korreliert ja die Intensität des religiösen Glaubensbekenntnisses umgekehrt mit der Höhe des Bildungsgrads, das heißt, die Bedeutung von Religion nimmt mit zunehmender Bildung ab. Manche der vom Islam abgefallenen höher Gebildeten haben aber nach wie vor einen starken Bezug zu ihrer ethnischen Herkunft. Man erkennt das unter anderem daran, daß einige islamkritische Persönlichkeiten, die in keiner Weise als religiös betrachtet werden können, sich weiterhin als „Muslime” bezeichnen, womit sie nicht ihre religiöse Einstellung sondern ihre Abstammung meinen und womit sie ihre gesellschaftliche Umwelt verwirren.

Sie, Deniz Yücel, sind in Deutschland geboren, hier aufgewachsen, haben einen akademischen Grad erworben und damit die höchste Stufe auf der Bildungsleiter erklommen, die in diesem Land möglich ist. Da Sie außerdem als ziemlich erfolgreicher Journalist schon jahrelang einen intellektuell anspruchsvollen Beruf ausüben, kann man Sie als Teil der geistigen Oberschicht Deutschlands betrachten. Warum also giftet so jemand wie Sie so haßerfüllt gegen das Land, das ihm diesen sozialen Aufstieg ermöglicht hat? Zwar stehen Sie mit ihrer mentalen Entgleisung nicht alleine da, denn schließlich hört und liest man auch von sogenannten „Biodeutschen” immer wieder Parolen wie „Deutschland verrecke,” „nie wieder Deutschland,” oder sogar „Deutschland, du mieses Stück Scheiße,” was zeigt, daß es in diesem Land ein nicht unbeträchtliches Bevölkerungs-Segment ethnisch Deutscher gibt, die auf das gleiche psychopathologische Niveau abgestürzt sind wie Sie.

Über diese Leute möchte ich mich hier nicht weiter äußern, denn das würde zu weit führen und dem eigentlichen Zweck dieses offenen Briefes nicht dienlich sein. Belassen wir es bei der Feststellung, daß der weitaus größte Teil dieser Schwachköpfe ebenfalls an einer Identitätskrise leidet, die aber nicht wie bei Ihnen aus einer ethnisch-emotionalen Dissonanz herrührt sondern psychisch ganz anders verwurzelt ist. Es handelt sich um Leute, die rein unterbewußt gerne etwas sein möchten, das sie aber glauben, nicht sein zu dürfen, weil historische und politische Faktoren der Verwirklichung dieses ihnen gar nicht bewußten Wunsches im Wege stehen. Über dieses – ebenfalls psychopathologische - Phänomen könnte man umfangreiche wissenschaftliche Abhandlungen verfassen und dicke Bücher schreiben, aber hier kann ich es nur als eine Randnotiz behandeln.

Nun könnte man allerdings auch unterstellen, Sie, Denis Yücel, seien durch Geburt und gesellschaftliche Einflüsse so deutsch indoktriniert worden, daß Sie in diese Kategorie von kulturellen Selbsthassern hervorragend hineinpassen. Die meisten dieser affektiven Irrlichter haben allerdings keinen Einwanderungs-Hintergrund, so daß man durchaus den Schluß ziehen kann, daß bei Ihnen, Deniz Yücel, noch zusätzliche Beweggründe bestehen, die auf Ihre unterschiedliche Herkunft zurückgeführt werden können. Dabei muß man fast alle in den Medien herumgereichten Erklärungsversuche verwerfen, da sie überwiegend ideologischen Beweggründen entspringen und daher zum Teil stark von der Realität abweichen. In letzter Instanz kann jedes menschliche Verhalten nur naturwissenschaftlich erklärt werden, also im engeren Sinne biologisch und im engsten Sinne neurologisch. Am nächsten kommt man den Ursachen jeglichen Verhaltens, wenn man die jüngsten Erkenntnisse der Hirnforschung in die Überlegungen mit einbezieht, denn schließlich beruht alles, was wir tun und lassen, auf neurozellulären Vorgängen in unserem Zentralnervensystem.

Gerade weil Sie, Deniz Yücel, einen hohen Bildungsgrad besitzen, sind Sie sich ganz offensichtlich auch bewußt, wie sehr die Kultur aus der Sie herstammen, der abendländischen Zivilisation, in die Sie hineingeboren wurden, in den meisten Belangen unterlegen ist. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, daß praktisch alle wesentlichen Erfindungen, wissenschaftlichen Erkenntnisse und philosophisch-geistigen Fortschritte wie die Aufklärung im europäischen und nordamerikanischen Bereich entstanden sind. Bis heute hat die Türkei keinen einzigen Nobelpreisträger hervorgebracht, während Deutschland allein bis dato 100 vorweisen kann - von dem gesamten westlichen („abendländischen”) Kulturkreis wollen wir erst gar nicht reden. Die bildungsfernen Einwanderer haben damit überhaupt kein Problem, weil sie erstens gar nicht über das hierfür nötige Wissen verfügen, und weil ihnen zweitens von ihren Imamen unaufhörlich gepredigt wird, sie seien die überlegene Kultur, weil sie ja der richtigen Religion angehören.

Die säkularen Neubürger, also in erster Linie bildungsnahe Einwanderer, fallen in dieser Hinsicht in zwei Kategorien. Da ist zunächst jener Teil, der sich voll und ganz zur Kultur des Einwanderungslandes bekennt. Das muß nicht heißen, daß sie ihre Herkunfts-Kultur verachten, auch wenn ich wie bereits gesagt einen Schriftsteller kenne, der das tut und es in seinen Veröffentlichungen offen zum Ausdruck bringt. Die meisten dieser Leute erkennen die Überlegenheit des westlichen Werte-Systems und viele von ihnen sind dankbar in diesem Kulturkreis leben zu dürfen. Diese Leute haben eine neue Identität erworben und empfinden daher auch keine Art von identitärem Konflikt.

Aber dann ist da auch noch eine andere Kategorie, und zu der gehören offenbar Sie, Deniz Yücel. Sie haben eine Bildung genossen, die ausreicht, um vernunftmäßig zu erkennen, daß die Kultur, in die Sie hineingeboren wurden, der Kultur ihrer Vorfahren haushoch überlegen ist. Aber gleichzeitig sind Sie, offenbar durch familiäre Indoktrination, noch zu tief in ihrer Herkunftskultur verwurzelt, um diese rationale Erkenntnis emotional zu verkraften. Diese Diskrepanz von Verstand und Gefühl ist die Ursache Ihres Identitätskonflikts, der auch noch durch eine erhebliche Portion von Stolz verstärkt wird. Daraus entsteht eine tiefenpsychologische Gefühlsregung, die man umgangssprachlich als (kulturellen) Minderwertigkeitskomplex bezeichnet.

Was tut man nun, um mit einem solchen Problem fertig zu werden? Eine sehr häufig angewandte aber auch sehr einfältige Methode besteht darin, die überlegende Kultur schlecht zu reden, sie so sehr wie möglich abzuwerten, verächtlich zu machen, oder umgangssprachlich ausgedrückt, sie durch den Dreck zu ziehen. Das führt dann zu solchen Sprüchen, wie jene, die Sie in dem oben erwähnten Artikel in taz.de von sich gegeben haben. Solch irrationaler Humbug mag einem zwar helfen, den empfundenen Minderwertigkeitskomplex zu verdrängen und kommt auch bei emotional ähnlich versponnenen Figuren gut an. Aber bei Menschen, die einigermaßen rational denken, stößt solches Verhalten überwiegend auf Verachtung, die zu einem gewissen Grad auch noch mit Mitleid gepaart sein kann. Das ist jedenfalls bei mir der Fall.

Als Sozialwissenschaftler und Neurologe mit einem halben Jahrhundert intensiver Beobachtung und Analyse politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen neige ich dazu, Ihnen zu raten, mit Äußerungen wie der, die Sie in taz.de veröffentlichten, künftighin vorsichtig zu sein. Deutschland und die gesamte abendländische Welt befinden sich zur Zeit in einer Phase hysterischer Übertreibungen, von denen einige ihr Maximum bereits erreicht haben dürften oder zumindest diesem Gipfel nahe gekommen sind. Eine dieser Hysterien besteht darin, das eigene Land und die eigene Kultur zu hassen und zu verunglimpfen. In geradezu massivem Ausmaß wird dieses Gefühl auch journalistisch zum Ausdruck gebracht. Insofern sind Sie, Deniz Yücel, eigentlich sehr deutsch geworden und passen perfekt in den Zeitgeist, der sich in diesem Land und Volk vorübergehend eingenistet und ausgebreitet hat. Für Ihre Verunglimpfung alles dessen, was deutsch ist, ernten Sie daher zur Zeit sogar flächendeckenden Applaus.

Aber solche kollektiven Absurditäten haben erfahrungsgemäß nicht allzu lange Bestand. Jedes Massen-Verhalten, das dem gesunden Menschenverstand widerspricht, erschöpft sich früher oder später, der Trend wendet sich dann und nimmt eine entgegengesetzte Richtung ein. Oft erreicht dann der neue Zeitgeist eine ähnliche Übertreibung wie der vorangegangene, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Dann wird fast unvermeidlich auf jene mit dem Finger gezeigt, die sich in dem vorangegangenen ideologischen System besonders exponiert hatten, und das bedeutet für diese Leute meistens nichts Gutes. Journalisten, die sich in der DDR besonders systemkonform verhalten hatten, konnten nach der sogenannten Wende davon ein Lied singen. Wie schnell sich politische Trends drehen, läßt sich zwar nicht genau voraussagen, aber Sie, Denis Yücel, sind jung genug, um eine derartige Wende mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit noch zu erleben. Falls das von Ihnen so sehr erhoffte deutsche Völkersterben ausbleibt – und das ist zumindest eine gute Möglichkeit – dann kann das für Sie früher oder später ziemlich nachteilige Folgen haben, vor allem (aber nicht nur) in beruflicher Hinsicht.

Das ist Ihnen in der Türkei bereits passiert. Weil sich in Ihrem Unterbewußtsein zwei Teil-Identitäten eingenistet haben, verunglimpfen Sie einerseits das Land, das dem anderen zivilisatorisch und kulturell überlegen ist, agitieren aber auch gegen dieses andere Land, weil dessen gegenwärtiges politisches System den Eindruck kultureller Unterlegenheit noch verstärkt. Aber in Ankara und ganz Anatolien hat sich ein neuer Zeitgeist ausgebreitet, und das dortige Regime toleriert kritische Äußerungen wesentlich weniger als die gegenwärtig herrschende politische Elite in Berlin und das deutsche Volk in seiner Gesamtheit. Als Folge davon haben Sie Sich in der Türkei bereits ziemlich tief in die Nesseln gesetzt und beobachten jetzt die Geschehnisse in der Welt nur noch hinter metallenen Gitterstäben. Wenn Sie wieder frei kommen und nach Deutschland zurückkehren, wäre Ihnen zu raten, auch hierzulande rechtzeitig nach gesellschaftlichen Umwälzungen Ausschau zu halten und sich gegebenenfalls darauf einzurichten.

Ihr Journalisten seid ja gut dafür bekannt, daß ihr in euren Versuchen, Entwicklungen vorauszusagen, mehrheitlich sehr stark dazu neigt, den jeweiligen status quo geradlinig ad infinitum zu extrapolieren. Ihr prophezeit also nicht wirklich die Zukunft sondern die Gegenwart unter Einschluß der jüngsten Vergangenheit. Obendrein beschreiben eure Einschätzungen häufig gar nicht einen wirklichen sondern einen vermeintlich Zustand, weil sie zumeist ideologischem Wunschdenken entspringen. Typisches Beispiel: Im Jahr 1989 reisten Journalisten der Wochenzeitschrift DIE ZEIT in die DDR und berichteten hinterher, daß dem Staatschef Honecker vom dortigen Volk so etwas wie „stille Verehrung” entgegengebracht wurde. Ein Jahr später war dieser Staatsratsvorsitzende entsorgt – auf den Müllhaufen der Geschichte. Und dann kommt da noch etwas hinzu, das völlig neu in der Historie der Menschheit ist: Heutzutage werden fast alle journalistischen Beiträge elektronisch gespeichert. Das Internet vergißt nicht, wird sehr oft hervorgehoben. Fast alle Äußerungen sind irgendwo in Text, Video oder Audio dokumentiert und können jederzeit wieder aufgerufen und jemandem vor die Nase gehalten werden.

Insofern kann man Ihnen nur raten, Ihren Identitätskonflikt so schnell wie möglich zu überwinden. Aber wie macht man das? Wie schon angedeutet, halte ich ein Gespräch mit einem Psychologen für nicht sehr erfolgversprechend. Ihr Verhalten ist ja ein Ausdruck tiefgründiger Irrationalität, ein Phänomen, dessen Ursache man neurologisch verstehen muß, bevor man die Chance hat es mit Hilfe der Psychologie zu überwinden. Die jüngsten Erkenntnisse der Hirnforschung können hier weiterhelfen. Unser Zentralnervensystem ist dreiteilig, wobei sich in der obersten und weitaus größten Region, dem in der Hirnrinde sitzenden Neokortex, die rationalen, von der reinen Vernunft und Logik geleiteten Prozesse abspielen. Darunter lagern die beiden von unseren tierischen Vorfahren unverändert ererbten Regionen, von denen eine zu den Säugetieren, die andere bis zu den Reptilien zurückreicht.

Unser menschliches Problem besteht nun darin, daß diese „tierischen” Regionen für fast alle emotionalen Vorgänge zuständig sind und häufig auch wesentlich schneller reagieren als unser eigens humanes Gehirn, der Neokortex. Sinneseindrücke kommen erst beim Reptilien-Gehirn an, werden dann an des Säuger-Gehirn weitergeleitet und dort emotional aufgeladen. Wenn es sich um Sinneseindrücke handelt, die irgendwie als Bedrohung interpretiert werden, dann erfolgt das Aufladen vordergründig mit dem Gefühl der Angst, und es wird sofort eine Handlung oder Verhaltensweise ausgelöst, bevor diese Eindrücke an den Neokortex weitergeleitet und dort verstandesmäßig beurteilt werden können. Unser rationales Denkvermögen kommt dann überhaupt nicht zum Zug, und unser Verhalten wird allein von den tierischen Gehirnen bestimmt.

Das Reptilien-Gehirn reagiert aber mit seiner Abwehr-Reaktion nicht nur auf wirkliche Bedrohungen sondern auch auf alle Sinneseindrücke, die es nicht versteht (eine von der Evolution eingerichtete Versicherung: Alles was ich nicht verstehe, könnte eine Bedrohung darstellen!). Nun gibt es aber in unserer modernen Umwelt Massen von Sinneseindrücken, deren Bedeutung das archaische Reptilien-Hirn nicht begreift, weil es diesen Eindrücken in seiner Evolution nicht ausgesetzt war (es ist ja auf der Stufe der Schlangen und Echsen stehen geblieben). Also neigen wir dazu in zu vielen Situationen wie ein Reptil zu reagieren, auch wenn wir das bewußt nicht erkennen, weil es sich um einen tief unterbewußten Vorgang in unserem Zentralnervensystem handelt.

Auch Ihre oben zitierte Äußerung in taz.de ist auf diese Art von neurologischem Prozeß zurückzuführen. Bei Ihnen ist es die Wahrnehmung eines Konflikts zweier Identitäten – eines Konflikts, dessen Bedeutung die Schlange in uns nicht begreift und daher als Bedrohung empfindet. Das Reptil kennt nur drei Arten von Reaktionen auf eine Gefahr: Flucht, Angriff und sich tot stellen. In Ihrem Fall, Deniz Yücel, hat sich Ihr archaisches Reptilien-Hirn für Angriff entschieden, aber die Attacke hat kein klar definiertes Ziel sondern gleicht eher einem für Reptilien typischen chaotischen Rundumschlag, der sich gegen beide Identitäten richtet. Den deutschen Teil haben Sie in taz.de verunglimpft. Und für Ihren Angriff auf den türkischen Teil sitzen Sie jetzt hinter schwedischen – nein türkischen – Gardinen.

Damit ist auch klar, was Sie tun müßten, um mit Ihrem Identitätskonflikt fertig zu werden: Sie müssen den aus Ihren tierischen Hirnen entspringenden Emotionen kräftig und nachhaltig entgegenwirken, damit Ihr rationales Hirn, der Neokortex, zum Zuge kommen und Ihr Verhalten kontrollieren kann. Die Aufforderung hierzu besteht in dem überaus kurzen vor mehr als 200 Jahren von Immanuel Kant formulierten zentralen Lehrsatz der europäischen Aufklärung. Er lautet schlicht und einfach: HABE DEN MUT, DEINEN EIGENEN VERSTAND ZU BENUTZEN!

Genau das haben Sie nicht getan, Deniz Yücel, als Sie jene Zeilen für taz.de verfaßten. Sie haben nicht die Energie aufgewendet, Ihre Emotionen zu unterdrücken, um Ihrem rationalen Hirn eine Chance zu geben. Ihre Gefühle flossen nicht in den Neokortex, wo sie der Beurteilung durch die Vernunft unterworfen und überrundet worden wären, sondern schossen von Ihrem tierischen Gehirn direkt in Ihre Finger, die dann diesen blödsinnigen Text in die Tastatur Ihres Rechners hineinhämmerten. Ihr rationales, vernunftgeleitetes Gehirn wurde außen vor gelassen – es erlebte einen Bypass, wie man es auf Neudeutsch ausdrücken könnte - und kam daher überhaupt nicht zum Zug. Oder, um es mit Kant sagen: Sie haben nicht den Mut besessen, Ihren eigenen Verstand zu verwenden. Sollten Sie es auch in Zukunft nicht schaffen, Ihrem Neokortex zur Dominanz über Ihre Emotionen zu verhelfen, dann bleiben Sie in vielen Situationen für den Rest Ihres Lebens ein Reptil.

Wenn Sie Sich dagegen dazu aufraffen können, das von dem großen Immanuel formulierte Gebot zu beachten, dann brauchen Sie die restlichen Texte dieses Aufklärers nicht zu lesen, und auch nicht die Schriften von Rousseau und Voltaire oder sonst irgendwelchen Aufklärern, denn dann ergeben sich alle weiteren Erkenntnisse der Aufklärung für Sie wie von selbst; Sie werden zu Ihrem eigenen Aufklärer. Wir Menschen haben fast alle den gleichen Verstand und unterscheiden uns nur darin, wie oft und wie sehr wir diesen auch tatsächlich benutzen. Und diese Benutzung besteht zu einem überwältigen Teil darin, daß wir unsere Emotionen der Beurteilung unserer Vernunft unterwerfen, bevor wir diesen Gefühlen erlauben, unser Verhalten zu lenken. Wenn Sie das tun, Deniz Yücel, das heißt, wenn Sie es schaffen, rational, logisch und selbständig zu denken, dann haben Sie einfach keine Wahl: Sie werden Sich zu Ihrem Geburtsland und dessen haushoch überlegener Kultur bekennen, und Sie werden dankbar dafür sein, in dieser Kultur aufgewachsen zu sein und zu ihr zu gehören.

Insofern, Deniz Yücel, gibt es nur eine einzige wirkliche Therapie für Ihren Identitätskonflikt, und diese kann von niemandem bewirkt werden außer von Ihnen selbst: Die therapeutische Vorschrift lautet: Deniz Yücel, habe den Mut, Deinen eigenen Verstand zu benutzen!

Ich wünsche Ihnen eine baldige Heilung und verbleibe mit freundlichen Grüßen.

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