Es ist eine Ironie der Geschichte: Karl Marx bezeichnete Religion als Opium für das Volk. Blickt man aber zurück auf die historischen Ereignisse der letzten 150 Jahre, also der gesamten Zeit nach der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests, dann erkennt man, daß auch die von Marx propagierte Ideologie des Sozialismus' die beiden wesentlichen Elemente jeder Religion beinhaltet: Glauben und Faktenresistenz. Man muß auf das Erreichen des verheißenen Ziels vertrauen und alle diesem erhofften Ergebnis widersprechenden empirischen und historischen Tatsachen verwerfen. Wie die Geschichte zeigt, gilt das für den Sozialismus sowohl in seiner totalitären als auch in seiner demokratischen Ausrichtung. So betrachtet ist diese Ideologie ihrem Wesen nach auch nichts anderes als eine Art von Religion und in einer Ironie zu der Aussage ihres bedeutendsten Protagonisten Opium für das Volk. Im Nachfolgenden will ich diese Schlußfolgerung etwas ausführlicher begründen.

Mit seinem Vergleich hat Marx in gewisser Weise recht gehabt, denn für viele Leute hat Religion eine ähnliche neurophysiologische Wirkung wie das zu seinen Zeiten als Rauschgift gehandelte Opium. Man inhalierte diesen Extrakt aus der Mohnkapsel, um sich in einen Zustand des Wohlbefindens zu versetzen und dadurch von Mühsal und Unsicherheit des irdischen Daseins und der Angst vor der Zukunft abzulenken. Der angestrebte Zweck ist also eine vorübergehende Flucht aus der rauhen Wirklichkeit in eine als angenehm empfundene Gefühlsregung oder Scheinwelt. Für viele Leute bezweckt Religion tatsächlich etwas Ähnliches. Die Hingabe an die virtuelle Droge des Glaubens ruft im menschlichen Hirn ähnliche Veränderungen hervor wie die bewußtseinsändernde Wirkung einer chemischen Substanz. Zwar ist die chemisch hervorgerufene Empfindung meist intensiver als die virtuell verursachte, aber in beiden Fällen begibt man sich aus der wirklichen in eine anders gefühlte oder vorgestellte Welt.

Nun ist das aber für viele Leute auch der Grund, warum sie sich an den Sozialismus klammern. Die letzten eineinhalb Jahrhunderte haben uns klar vor Augen geführt, was man von dieser Utopie zu halten hat. Bei den transzendental ausgerichteten Religionen erhofft man sich Belohnung in einem Jenseits, ewiges Leben und dergleichen, bei Sozialismus verspricht man sich visionäre Zustände wie die klassenlose Gesellschaft, oder man akzeptiert leere Floskeln, wie soziale Gerechtigkeit, deren begriffliches Vakuum jeder mit einem Inhalt eigenen Wunschdenkens befüllen kann. Zu Zeiten von Marx war das noch in gewissem Maße verständlich, denn die Idee war neu und ihre Realitätsferne war in dieser Frühphase noch kaum erkennbar.

Wenn man aber heute im Angesicht massiver widersprechender Tatsachen noch das Erreichen der Heils-Versprechungen des Sozialismus erwartet, dann kann das nur mit unerschütterlichem Glauben erklärt werden, und solcher Glaube ist ja nun mal das hauptsächliche Charakteristikum aller Religionen. Inzwischen sind die totalitären kommunistischen Systeme entweder zusammengebrochen, wie die Sowjetunion und ihre Satelliten; oder sie existieren noch wie China und Vietnam, führen sich aber nach den Gesetzen der Logik selbst ad absurdum, indem sie sich weiterhin zum Marxismus bekennen aber eindeutig nach den Methoden ihres diametralen Widersachers, des Kapitalismus, handeln; oder sie haben sich in die schlimmste Form einer feudalistischen, absolutistischen Erbmonarchie zurückentwickelt wie Nord-Korea. Von der klassenlosen Gesellschaft ist nach 150 Jahren weit und breit nichts zu sehen. Man kann sie nur noch erwarten, wenn man unerschütterlich an sie glaubt und alle diesem Glauben widersprechenden historischen Ereignisse und Entwicklungen glattweg ignoriert.

Parallel zu den totalitären Systemen hat sich eine demokratische Form des Sozialismus entwickelt, die sogenannte Sozialdemokratie. Ihr Ziel ist nicht die klassenlose Gesellschaft oder gar die Diktatur des Proletariats, sondern ein visionärer Zustand, der ganz allgemein mit dem nebelhaften Ausdruck „soziale Gerechtigkeit” beschrieben wird. Die Definition dieses Begriffs ist innerhalb einer gewissen Bandbreite dem persönlichen Gutdünken überlassen, wird aber zumeist sehr vage als eine Verringerung des Wohlstandsunterschieds, also als eine Einengung der Kluft zwischen Arm und Reich verstanden.

Das Haupt-Charakteristikum der Sozialdemokraten ist ihre Staatsgläubigkeit. Sie wollen das, was sie soziale Gerechtigkeit nennen, auf demokratisch-rechtsstaatlichem Weg verwirklichen, wobei sie sich zweier Kardinal-Methoden bedienen: Erstens wollen sie das Volkseinkommen und Vermögen mit Hilfe der Besteuerung und Subventionierung so umverteilen, wie es ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit entspricht. Und zweitens wollen sie die Beschäftigung auf hohem Niveau halten und damit das Wachstum des Volkseinkommens verstetigen. Wird dieses zweite Ziel nicht oder nicht ganz erreicht, dann muß die Geldmenge ausgeweitet werden.

Nun erweist sich aber auch die sozialdemokratische Vorstellung immer mehr als eine Utopie, und wenn man trotz massiver widersprechender Fakten unerschütterlich an sie glaubt, wird sie zu einer Art von Religion. Zwei Tatsachen sind unbestreitbar. Erstens wird schon seit Jahrzehnten immer mehr umverteilt, und die Geldmenge ist in der ganzen Welt in einem so horrenden Maße ausgeweitet worden, wie das nie zuvor in der Geschichte der Menschheit der Fall gewesen ist. Und zweitens hat sich trotz Ausweitung dieser horrenden Liquidität und massiver Umverteilungs-Maßnahmen die Kluft zwischen Arm und Reich in einem ganzen Jahrhundert nicht verändert. Gerade in diesen Tagen wurde eine Untersuchung einer französischen Forschergruppe unter der Leitung des weltbekannten Ökonomen Thomas Piketty veröffentlicht, die zu dem Schluß kommt, daß die Wohlstands-Schere in den westlichen Industrieländern heute genauso weit geöffnet ist, wie das im Jahre 1913 der Fall gewesen war.

Es ist also genau das ausgeblieben, was die Sozialdemokraten beabsichtigten und voraussagten. Wie konnte es zu dieser säkularen Stagnation des Wohlstandsunterschieds kommen, obwohl doch sozialdemokratische Parteien in all diesen Jahrzehnten kräftig in der Politik mitgemischt haben? Zusätzlich zu dieser Frage ist aber auch noch folgendes zu beachten: Man begeht einen schweren Fehler, wenn man als „Sozialdemokraten” nur die Anhänger jener Parteien betrachtet, die sich als sozialdemokratisch verstehen und so bezeichnen. Im Sinne meiner Analyse definiert sich diese Ideologie nicht nach dem Parteibuch oder dem Eintrag auf dem Wahlzettel. Es geht hier um Sozialdemokratie im Geiste.

In diesem Sinne ist jeder ein Sozialdemokrat, der die Umverteilung von Einkommen und Vermögen sowie die unbegrenzte Geldmengen-Ausweitung befürwortet. So gesehen muß man einen überwiegenden Teil der Mitglieder, Wähler und Sympathisanten jener Parteien, die sich als konservativ oder liberal verstehen, ebenfalls in den Begriff „Sozialdemokrat” mit einbeziehen. Viele Leute wählen nur deswegen „schwarz” oder haben gar ein schwarzes Parteibuch, weil sie Erzkatholiken oder streng-gläubige Lutheraner sind, und ihnen die linken Parteien suspekt erscheinen, weil diese traditionell eine beträchtliche Distanz zu Religion und Kirche eingehalten haben. Wenn man das berücksichtigt, dann reicht die sozialdemokratische Ideologie tief in die konservativen und liberalen Parteien hinein und ist viel weiterverbreitet als es oberflächlich den Anschein hat. Der Geist des Sozialismus hat also vom Ende des Ersten Weltkriegs bis heute ununterbrochen mit überwältigender Mehrheit an den Schalthebeln der Politik gesessen – und in seiner Zielsetzung versagt.

Die derzeitige bundesdeutsche Regierungs-Koalition wird ja von vielen - durchaus mit Fug und Recht - als eine Art sozialdemokratische Einheitspartei betrachtet, denn die wirtschaftspolitischen Methoden, derer sie sich bedient – Umverteilung und Ausweitung der Geldmenge - haben ein deutlich erkennbares sozialdemokratisches Übergewicht. Warum ist dann die Ungleichheit des Wohlstands über ein Jahrhundert gleichgeblieben, da es doch das Hauptanliegen der regierenden Sozialdemokraten ist, diese Kluft zu verengen? Zwar hat es im Zwanzigsten Jahrhundert vorübergehende Verminderungen des Wohlstands-Unterschieds gegeben, aber wie Thomas Piketty aufzeigt, hat sich diese Kluft inzwischen wieder auf ihr Niveau von vor dem Ersten Weltkrieg ausgeweitet. Nach mehr als einhundert Jahren ist das ziemlich fraglos eine sozialpolitische Zielverfehlung. Und was man in einem ganzen Jahrhundert nicht geschafft hat, das wird man auch in einem noch längeren Zeitraum nicht erreichen.

Natürlich finden die Sozialdemokraten genügend Ausflüchte aus dieser Erklärungs-Not, denn was nicht sein soll, das darf nun mal nicht sein. Und gerade in dieser Tatsachenverweigerung besteht die Gefahr des demokratischen Sozialismus, sich stufenweise von den demokratischen Prinzipien zu entfernen. Der schwierigste intellektuelle Kraftakt im Leben eines Menschen ist die ideologische Kehrtwende, das Eingeständnis, daß ab sofort nicht mehr gilt, was jahrzehntelang als unumstößlich richtig betrachtet worden war. Diese geistige Großtat wird deswegen von sehr wenigen vollbracht, weil man schon im Elternaus, also in der Frühzeit des menschlichen Gehirns, einer oft massiven ideologischen Indoktrination ausgesetzt ist.

Daher „erben” die meisten (wenn auch nicht alle) Menschen die politischen Ansichten ihrer Eltern und behalten sie für das ganze Leben bei. Was Vater und Mutter nicht schaffen, vollbringen oft die Schulen und „das System.” Auch im Angesicht überwältigender widersprechender Tatsachen wird Faktenresistenz geübt, so daß eine Kehrtwende nur in den seltensten Fällen vollzogen wird. Statt dessen macht man sich daran, Erklärungen dafür zu suchen und zu basteln, warum die eigene Ideologie nicht funktioniert hat. Das gilt keineswegs nur für den Sozialismus, sondern für alle eingefleischten ideologisch-utopischen und damit religiös ausgerichteten Standpunkte.

Eine zusätzliche Problematik des demokratischen Sozialismus manifestiert sich daher darin, wie seine Protagonisten die oben beschriebenen Zielverfehlungen am einfachsten zu erklären versuchen: Man habe die für das Erreichen der sozialen Gerechtigkeit erforderlichen Maßnahmen nicht in einem ausreichenden Umfang durchführen, oder vereinfacht ausgedrückt, nicht genügend Sozialismus verwirklichen können, weil die ideologischen Gegner diesen Maßnahmen auf die eine oder andere Weise im Wege standen. Das Versagen jedweder Ideologie ist ja immer die Schuld der Gegenseite. Daraus ergibt sich notwendigerweise die Schlußfolgerung, es müsse mehr Sozialismus realisiert werden.

Gelingt das, weil dieses Vorhaben nicht genügend Widerstand vorfindet, dann funktioniert das aus den bereits erwähnten Gründen wieder nicht so, wie es beabsichtigt ist, was heißt, daß man nochmal mehr Sozialismus benötigt. Gäbe es hierfür nicht genügend Gegengewicht dann könnte auf diese Weise ein kumulativer Prozeß entstehen, das heißt, es ginge wahrscheinlich so weiter und so weiter, mit mehr und mehr Ziel-Verfehlung und mehr und mehr Sozialismus, bis man beim Stalinismus anlangt oder bei einem System, das rein funktional nichts anderes darstellt als das Äquivalent einer absolutistischen Erbmonarchie, wie es sich zur Zeit in Nord-Korea manifestiert, wo bereits die dritte Generation der gleichen Familie mit geballter Macht das Zepter schwingt.

Das wäre nicht bloß die Verfehlung eines klar deklarierten Ziels sondern die Umkehrung dieses Ziels in sein diametrales Gegenteil. Eine absolutistische Erbmonarchie - auch wenn nicht formal sondern nur funktional - ist unumwundener Feudalismus, und Feudalismus ist das diametrale Gegenstück des Sozialismus. Von Einstein ist der Spruch überliefert, Schwachsinn bestünde darin, immer wieder das gleiche zu tun aber jedes Mal ein anderes Ergebnis zu erwarten. Zum Glück gab es in den westlichen Demokratien bisher ausreichend Widerstand gegen eine derartige Ausuferung sozialistischen Irrsinns , so daß uns ein solcher Prozeß bisher erspart geblieben ist. Wie es aber zurzeit aussieht, könnte sich in Venezuela zum ersten Mal eine derartige Spirale verwirklichen.

Das gemeinsame Element aller Religionen besteht ja im Glauben an etwas, das man nicht wissen oder nicht voraussehen kann. Bei den spirituellen Bekenntnissen handelt es sich um die Vorstellung von Gottheiten, Prophezeiungen, einer Transzendenz und dergleichen, im Sozialismus um den Glauben an die Verwirklichung einer klassenlosen Gesellschaft oder sozialen Gerechtigkeit durch den hierzu als allmächtig betrachteten Staat. Weder haben die Erkenntnisse der Wissenschaften die spirituellen Religionen ausgelöscht, noch hat das massenhafte Versagen des Sozialismus – sowohl des totalitären als auch des demokratischen – diesen aus der Welt schaffen können.

Denn alle Arten von Religionen sind ja nun mal Opium für das Volk. Wie die Hirnforschung aufgezeigt hat, ist das Streben nach Ablenkung von der unerfreulichen Alltags-Realität in unserem Zentralnervensystem und damit in der menschlichen Natur fest verankert, und solange wir Menschen unsere eigene Natur nicht verändern können, wird auch dieser Algorithmus in unseren Neuronen bestehenbleiben. So wie homo sapiens seinen tief verwurzelten Drang nach Flucht aus der Wirklichkeit auf absehbare Zeit nicht besiegen wird, so wird auch die illusionäre Vision, die man Sozialismus nennt, nicht aus der Welt verschwinden. Wir und die Generationen nach uns werden mit dieser bankrotten Utopie weiterhin auf unabsehbare Zeit leben müssen. Denn nichts kann den Glauben an das, was man glauben will, erschüttern.

wewahn/pixabay

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