Unnatürlich? Zurück zur Natur? – Nein Danke!

So weit „konservativ“ und „links“ (sofern diese Begriffe überhaupt noch Bedeutung haben) inhaltlich auch oft entfernt sein mögen, so oft ähneln sich die verwendeten Argumente: gesellschaftliche („Homoehe“) bzw wissenschaftliche („GMOs“) Neuerungen seien „unnatürlich“, ein „unzulässiger Eingriff in die Natur“ und würden den Menschen zusehends „von der Natur entfremden“. Seltsamerweise wird mit dem Wörtchen „unnatürlich“ immer nur eine Neuerung versehen, mit der der Kritisierende nicht einverstanden ist – und ironischerweise wird ignoriert, dass man das entsprechende Kommentar von einem modernen High-Tech Gerät aus einer klimatisierten Umgebung heraus abgibt, während man an einem mit einer Maschine zubereiteten Importkaffee schlürft.  Schnell ist dann auch die Forderung da, man müsse „zurück zur Natur“, im „Einklang mit der Natur“ leben, diverse Exzesse der modernen Welt hinter sich lassen und die „Zerstörung der Natur“ einstellen, ja sogar „von den Tieren lernen, weil dann gibt es keine Kriege mehr“. Am menschlichen Elend (Gier, Hass, Fremdenfeindlichkeit) sei ebenfalls unsere „unnatürliche“ Haltung schuld – wir hätten unsere natürliche Unschuld verloren.

„Natur“ wird somit als etwas Erstrebenswertes verstanden; etwas Gutes, etwas, das nicht verloren gehen darf. Und dem kann man auf den ersten Blick leicht zustimmen – sei es jetzt ein Spaziergang im Wald, die Aussicht von einem Berggipfel auf eine nahezu unberührte Berglandschaft oder Tauchen in einem Korallenriff – Natur ist schön anzuschauen. Sobald es dann aber regnet, zieht man sich eine Jacke an und geht zurück ins Haus. Sobald es kalt wird, heizt man die Wohnung. Wenn man krank wird, geht man zum Arzt und lässt sich Medikament verschreiben. Selbst wenn man mehrere Wochen „zurück zur Natur“ kehrt und beispielsweise eine lange Wanderung unternimmt – die modernen Schuhe, die moderne Kleidung, das Handy für den Notfall, ordentliche Verpflegung ist immer dabei.

Aber wie muss es unseren Vorfahren gegangen sein, die wirklich „im Einklang“ mit der Natur gelebt haben? Keine Technik, kein Schutz vor den Elementen. Raubtieren, der Witterung, Krankheit und Hunger schutzlos ausgeliefert werden sie kaum Gelegenheit gehabt haben, die „ungestörte Natur“ zu genießen – in jeder schutzbringenden Höhle konnte ein Bär lauern, der Winter bedeutete Tod für die Schwächsten und kleinste Verletzungen konnten einen schmerzhaften Tod bedeuten. „Natur“ hatte damals eine ganz andere Bedeutung. Entsprechend ist die menschliche Geschichte geprägt nicht von einem „zurück zur Natur“, sondern einem „Loslösen“ von der Natur – wir haben Hütten errichtet, um nicht mehr der Witterung ausgesetzt zu sein. Wir betreiben Landwirtschaft, um nicht mehr von dem abhängig zu sein, was zufällig wächst. Wir kleiden uns in künstlich hergestellte Materialien, weil sie besser und leichter sind als Felle von Tieren (und nicht zu vergessen „tierfreundlicher“). Wir leben unabhängig von den täglichen Gefahren der Natur – wir hungern nicht, wir frieren nicht, wir werden nicht von Raubtieren gejagt – jetzt erst, nachdem die Gefahren durch die Natur beseitigt wurden, können wir sie „genießen“.

Die Natur ist kein Ponyhof – hinter der vermeintlich harmonischen Fassade verbirgt sich ein beinharter Kampf ums Überleben. Raubtiere jagen ihre Beute und fangen diese auf teilweise grausamste Art und Weise; Parasiten befallen Wirte und selbst die Fortpflanzung weist so manches Horrorszenario auf (Schlupfwespen zB legen ihre Eier in Larven anderer Tiere, die lebendig aufgegessen werden - https://de.wikipedia.org/wiki/Schlupfwespen ). Löwenmännchen töten den Nachwuchs, der nicht von ihnen selbst gezeugt wurde – und über die Methoden des Kuckucks braucht nicht erst gesprochen zu werden. Auch das ist „Natur“.

„Unnatürlich“ beschreibt fast das gesamte menschliche Handeln – von Hausbau angefangen über moderne Medizin bis hin zu dem Computer, auf dem ich diesen Eintrag verfasse. „Unnatürlich“ gleichzusetzen mit „schlecht“ ist daher wohl die kurzsichtigste denkbare Argumentation. Im Gegenteil macht die „Unnatürlichkeit“ unserer Existenz erst deren Reiz aus – nachdem wir uns nicht mehr um unser Überleben sorgen müssen, haben wir Zeit für Kunst, Kultur, wissenschaftlichen Fortschritt und „Freizeit“. Die Ablehnung einer Neuerung, weil sie „unnatürlich“ wäre ist somit lächerlich – die einzige Begründung liegt darin, dass der Kritiker sein unbestimmtes Bauchgefühl in Worte zu kleiden versucht. Tatsächlich ist aber gerade auch der Tierschutz, vegetarische Ernährung und Verzicht zB auf Pelze „unnatürlich“ – keinem unserer Vorfahren wäre der Gedanke gekommen, auf ein Tier Rücksicht zu nehmen – ein Tier, mit dem er sich damals in einem unmittelbaren Wettbewerb ums Überleben befand. Erst unsere „unnatürliche“ Zivilisation erlaubt es uns überhaupt erst, uns Gedanken über Tierrechte, Artenschutz, Ethik und Moral zu machen.

Was ist aber mit der Behauptung, Gier, Hass, Krieg seien klassische „Zivilisationserscheinungen“ und würden unsere Entfremdung von der Natur nur bestätigen? Würde uns ein „Zurück zur Natur“ zumindest in diesen Punkten „Erleichterung“ bringen? Würde es keine Kriege geben, wenn wir „näher an der Natur“ leben würden? Wohl eher nicht – denn auch die Natur kennt Gräueltaten. So führen unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, organisiert Krieg mit dem Ziel, ihr Territorium auszudehnen (http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982210004598). Aber auch Sklaverei gibt es im Tierreich – so gibt es ganze Ameisenvölker, die sich auf die Versklavung ihrer Nachbarn spezialisiert haben (https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialparasitismus ). Vergewaltigung findet man ebenso in der Natur wie „Fremdenfeindlichkeit“. Aggression und Gier sind somit auch in der Natur verbreitet und vorhanden - die Problematik bei uns Menschen besteht „lediglich“ darin, dass die eigentlichen Anwendungsbereiche dieser Instinkte aufgrund unseres „Erfolges“ nicht mehr gegeben sind. Nachdem beispielsweise Gier nicht mehr das Überleben sicherstellen muss, sucht sich der Instinkt andere Wege. Die dem modernen Menschen so vertrauten „Laster“ Gier, Aggression, Hass, Fremdenfeindlichkeit sind somit Folgeerscheinungen von in uns natürlich verankerten Instinkten, die in einer modernen Gesellschaft eigentlich kaum noch erforderlich wären.

Letztlich sind sowohl die Argumentation, eine bestimmte Entwicklung sei „unnatürlich“, als auch die Behauptung, die Gier des Menschen sei „unnatürlich“, zwei Seiten der selben Medaille: Die Natur wird als „rein“, als „erstrebenswert“ dargestellt und alles Schlechte gehe vom Menschen aus. Dies vernachlässigt jedoch die Schattenseiten der Natur, und versperrt sogar den Weg zur Lösung eines Problems - wenn akzeptiert wird, dass gewisse Tendenzen im Menschen natürlich vorhanden sind (Gier, Aggression,..), kann versucht werden, eine entsprechende Lösung, ein work-around, um diese Instinkte herum zu finden.

„Unnatürlich“ ist kein sinnvolles Argument in einer Debatte – es ist weder gut noch schlecht.

PS: Ich möchte damit die Sinnhaftigkeit von Naturschutz keineswegs in Frage stellen - nur ein Idiot sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. Ich möchte nur die so weitverbreitete Denkweise, die Natur sei "gut", und ein zurück zur Natur sei "erstrebenswert", als die Illusion entlarven, die sie ist.

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