Meinungsfreiheit als Zeichen der Selbstbestimmtheit

Noch vor dreihundertfünfzig Jahren war es unvorstellbar, dass eine Frau sich scheiden lässt. Es wurde als gottgewollt hingenommen, dass die Frau dem Mann zu dienen hat. Nur wenige Ausnahmen sind den Geschichtsbüchern zu entnehmen wie etwa die von Katharina Elisabeth Freifrau von Galler, bekannt als die Schlossherrin der Riegersburg in der Oststeiermark, 1669 eingereichte Scheidung von ihrem dritten Ehemann, welche sie in langwieriger Auseinandersetzung mit dem Hof und der Kirche mit 37 Gründen zu begründen hatte.

Ein Jahrhundert später hat das Josephinische Ehepatent 1783 auf Grundlage eines Gutachtens von Hofrat Heinke erkannt, dass „das Recht der Natur die Trennung jeder vollzogenen Ehe aus der Wesenheit der Handlung erlaubet, weil jeder Vertrag entweder durch beiderseitige Einwilligung oder wegen Verletzung desselben von einem Theile aufgehoben werden kann.“

Heute ist es selbstverständlich auch Frauen möglich, die Scheidung zu begehren, und die Rechtsordnung gibt hier einen sicheren Rahmen für eine gerechte Absicherung ihrer Rechte.

Die Gesellschaft hat also in unserem Kulturkreis eine ziemliche Entwicklung genommen. Einst Unvorstellbares wurde zur heute selbstverständlichen Realität, die gar nicht mehr anders vorstellbar ist. Zum Preis von neuen ganz anderen Herausforderungen, die einst nicht gekannt wurden: Rosenkriege, Scheidungskinder, jahrzehntelange Fehden vor Gericht als Nachwehen einer Trennung ….

Das Eherecht ist hier nur eines von unzähligen Beispielen. Gemeinsamer Nenner bei all diesen Entwicklungen ist, dass sich die Gesellschaft losgesagt hat von der allwissenden Obrigkeit eines Herrschers oder einer Gottheit. Man hat begonnen, sich mit dem Selbstbewusstsein eines Individuums auszustatten, das Recht auf eine Verwirklichung einer eigenen Vorstellung von Glück einzufordern. Damit begann die Renaissance der Demokratie: die Macht über die einen Zusammenhalt gebenden Rahmenbedingungen sollte nicht mehr einem Monarchen gehören, sondern ebenfalls selbst gehalten werden. Demokratie als Selbstbestimmung der Gemeinschaft; einer Gemeinschaft von Individuen. Und damit die Gelegenheit, zu eigenen Bedürfnissen unbeachtlich der Vorstellungen der Obrigkeit oder religiöser Funktionsträger zu stehen und an deren Verwirklichung zu arbeiten. Einziger Schranke sollte fortan die Wertschätzung desselben Anspruches der Mitmenschen sein, ausgedrückt in mehr oder weniger detaillierten Spielregeln in Form von Gesetzen.

Es konnten die Grundrechte ausformuliert und verfeinert werden. Aus dem Kampf um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurde ein detailliertes gemeinsames Werteverständnis, bei welchem neben der Freiheit und Wertschätzung der Mitmenschen auch die Meinungsfreiheit sich als unverzichtbares Gut herauskristallisiert hat. Es wundert daher nicht, dass sie noch heute Bestandteil der Menschenrechtskonvention ist.

Natürlich waren solche Entwicklungen immer wieder jenen ein Dorn im Auge, welche einem Dominanzstreben verschrieben waren. Immer wieder gab es daher Zensur oder dieser im Ergebnis gleichzusetzende Manipulation, um die Menschen wieder in ein Abhängigkeitsverhältnisse zurückzuführen als Basis für mögliche Gewalt über ihr Leben. Besonders in schlechten Zeiten war die Gesellschaft da stets besonders anfällig: immer, wenn etwa wirtschaftliche Not und hohe Arbeitslosigkeit den Alltag prägten und damit den Menschen die Hoffnung nahm, aus eigener Kraft eine Verwirklichung des eigenen Lebensglücks zu schaffen, gab es die vermehrte Bereitschaft, sich doch wieder charismatischen Herrschertypen unterzuordnen. Freiheit und Individualität als Opfer für die sichere Erfüllung von Grundbedürfnissen. Eigene Meinung im Tausch für Versprechen von einer rosigen Zukunft.

Was ist den Menschen eigentlich heute die eigene Meinung wert? Fühlen sich die Menschen noch zu dem imstande, wofür die Menschen rund um den Globus schon gekämpft haben? Sind sie noch bereit, Freiheit zu lassen um sie selbst auch nutzen zu können für die eigene Vorstellung von Lebensglück? Sind sie noch bereit, einander Wertschätzung zu schenken, einander zuzuhören, wenn sie Meinungen ausdrücken? Miteinander zu entdecken, dass sich hinter anderslautenden Meinungen oftmals gemeinsame Bedürfnisse verstecken, die durch die verschiedenen Perspektiven sogar zu einem gemeinsamen Gewinn genutzt werden können? Oder hat sich die Gesellschaft durch Wirtschaftskrisen, steigende Arbeitslosigkeit und in zahlreichen Bildern herausbeschworene Bedrohungsszenarien bereits den Mut rauben lassen, im Miteinander verschiedener Meinungen Lösungen für die Gemeinschaft zu suchen und zu finden? Rauben sich die Menschen diesmal gar schon gegenseitig die Meinungsfreiheit, sodass es gar keines Zensors mehr bedarf um den Weg für eine neue Epoche der Bindung an Obrigkeit einzuläuten?

Der Blick in verschiedene Kanäle der social media kann einen da schon bedenklich stimmen – und traurig. Das Volk sind wir – wir bestimmen daher nicht nur bei Wahlen, sondern auch im täglichen Umgang miteinander, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Das bedeutet Verantwortung – das bedeutet Offenheit – das bedeutet Toleranz. Es bedeutet, Herz und Hirn gleichermaßen einzuschalten. Es bedeutet, die Vielfalt des Individuums auch in der Vielzahl von Meinungen und Zugängen zur Wirklichkeit zu leben und anzuerkennen. Je mehr anderslautende Meinungen zu Beginn gesammelt und in wechselseitiger Wertschätzung angehört werden, desto besser kann eine im Miteinander entwickelte Lösung sein. Die Welt in schwarz und weiß sehen zu wollen bedeutet, auf Farben zu verzichten – das mag einfach sein, aber der Verzicht wird spätestens beim Anblick eines Regenbogens spürbar. Dieser lebt von allen Farben – wie eine gute Lösung von der Berücksichtigung möglichst aller hinter Meinungen steckenden Bedürfnisse lebt.

Ich habe einen Wunsch: hören wir einander wieder zu, legen wir die Brille der Vorurteile ab. Es muss Schluss damit sein, dass das aus einem Zitat von Jean Paul Sartre abgewandelte Motto gelebt wird, wonach jeder dem anderen der Zensor ist. Ein Thema darf dem einen Angst machen und dem anderen ein unverrückbares Gebot der Menschlichkeit sein. Das sagt über die Menschen nichts aus. Es sagt aber etwas über die Menschen aus, wie sie damit umgehen, wie sie einander trotz des vermeintlichen Widerspruchs begegnen. Erst wenn auf Verliererinnen und Verlierer verzichtet werden kann ist eine Gesellschaft immun gegen Manipulation und Zensur durch Obrigkeiten. Und damit gegen Fremdbestimmung. Jede und jeder einzelne hat es in der Hand!

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