Von den Möglichkeiten, sich eine Wirklichkeit zu bauen

Eine der Herangehensweisen an das Verstehen von Konflikten und ihrer Dynamik, aber auch der Überwindung der negativen Folgen für das Leben der einzelnen Menschen ist jene des Konstruktivismus. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Menschen die Dinge und Ereignisse um sich herum beim Vorgang des Erkennens selbst konstruieren. Dabei wird zurückgegriffen auf Annahmen, welche entsprechend der individuellen Lebenserfahrung und der angelernten Normalität gebildet werden.

Wie das funktioniert und welche Fallen man sich dabei selbst stellt, das kann an einem Beispiel, welches auch leicht selbst ausprobiert werden kann, gut veranschaulicht werden. Nehmen wir an, eine Person hat es sich zur Angewohnheit gemacht, immer wieder direkt aus der Milchpackung einen Schluck zu nehmen. Das Öffnen des Kühlschrankes, das Herausnehmen des Tetrapacks, das Öffnen, das Ansetzen und Trinken passieren also in der Erwartung, dass nun kalte, frische Milch die Kehle durchlaufen wird. Dass das allerdings unter Umständen nur einer konstruierten Wahrheit entspricht, das zeigt sich rasch, wenn jemand anderer den Inhalt der Milchpackung ausgetauscht hat gegen Buttermilch. Selbst wenn die Person Buttermilch ebenso gerne trinkt wie Milch, so wird es sehr unwahrscheinlich zum Genuss kommen: es werden sofort Warnsignale an das Hirn gesendet, dass mit dem Getränk was nicht in Ordnung sein kann wegen der unerwarteten Konsistenz und des Geschmacks, welcher nicht der getroffenen Annahme entspricht. Schlimmstenfalls wird reflexartig die Antiperistaltik in Gang gesetzt, um den eigenen Körper vor der nun konstruierten Wirklichkeit der Gefahr zu schützen, welche von verdorbener Milch ausgehen könnte. Schlimm. Ein Getränk, das zu einem Wohlgefühl hätte führen können, wäre da nicht die falsche Annahme zugrunde gelegt worden, kann also zu einem Moment des Grauens führen.

Dieses Beispiel zeigt, also sehr schön, wie die eigene Konstruktion von Wahrheit zu vollkommen verquerten Ergebnissen führen kann. Es kann hier im Kleinen gut nachempfunden oder auch selbst ausprobiert werden, wie verheerend es sein kann, unreflektiert etwas als gegeben anzunehmen, nur weil man es sich im eigenen Kopf so zurechtgezimmert hat als unumstößliche Wahrheit.

Sehr ähnlich funktioniert das allerdings auch im Alltag: wenn der Chef einen zum Vieraugengespräch ruft, wenn der Expartner eine SMS sendet, wenn ein lauter Knall zu hören ist … Ununterbrochen neigt das menschliche Hirn dazu, zu einer Beobachtung eine Wahrheit zu konstruieren, auf welche sofort emotional reagiert wird.

Nun ist es eine Frage der eigenen Erfahrungen aber auch der gesellschaftlichen Strömung, in welche Richtung die jeweils angenommene Wirklichkeit eingefärbt ist: Pessimisten werden beispielsweise immer die schlimmstmöglichen Interpretationen als gegeben annehmen während Optimisten dazu neigen, von einer erfreulichen Bedeutung auszugehen. Ist die Gesellschaft verunsichert und wird ihr unentwegt sugeriert, in einem unentwegten Bedrohungsszenario zu leben, so wird aus dem Knall einer schwungvoll zugeschmissenen Tür rasch die Wahrheit einer Sprengstoffdetonation mit damit verbundener Angst um das eigene Leben.

Besondere Bedeutung kommt dabei den Medien zu: diesen wird oftmals die Macht geschenkt, Annahmen in eine Richtung zu verstärken und damit Ereignisse als Realität in eine gewisse Richtung zu konstruieren. Steht etwa in einer Zeitung, welcher man Glauben schenkt, dass ein großes Insektensterben entlang der Autobahnen eingesetzt hat, so wird man bei der nächsten Autofahrt daran denken, dass dem so ist: immerhin kann man sich aus Kindheitstagen daran erinnern, dass nach Autobahnfahrten die Windschutzscheibe stets zu reinigen war mit speziellen Schwämmen – was nun kaum noch der Fall ist. Die Realität des Insektensterbens entlang der Autobahnen ist also unter Ausblendung anderer Gegebenheiten wie anderer Neigung und anderem Material der Windschutzscheibe als mögliche Begründungen für die Beobachtung geschaffen.

Wird auf diese Weise eine kritische Menge an Menschen dazu bewegt, die Wirklichkeit auf die provozierte Art zu konstruieren, dann kann dies rasch zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden – da dann die objektiven Grundlagen geschaffen werden für eine Anpassung der Realität an das Konstrukt: behandle ich einen Menschen ununterbrochen schlecht, weil er es in meiner konstruierten Wirklichkeit ist, so wird er, wenn andere es mir gleichtun, irgendwann tatsächlich entsprechend zu qualifizierende Handlungen setzen.

Das bloße Verständnis für diese Abläufe kann bereits helfen, Konfliktsituationen leichter in die Grundlage für ein gedeihliches Miteinander umzuwandeln. Denn wer versteht, dass Wahrheit oft auf eigenen Konstrukten basiert, wird erkennen, dass er oder sie selbst auch einen großen Beitrag dazu leisten kann, die Dinge positiv zu sehen und damit das Geschehen in eine erfreuliche Richtung zu lenken. Alles, was es dazu braucht, ist die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen und aktiv zuzuhören, welche Beobachtungen andere Menschen zur Grundlage ihrer Annahmen gemacht haben. Eine Prise Achtsamkeit, ein wenig Empathie und schließlich die Bereitschaft, nicht nur die eigenen Bedürfnisse, sondern auch die der Mitmenschen zu berücksichtigen bei Lösungen – und schon lässt sich eine Wirklichkeit bauen, in welcher ein glückliches Leben möglich ist.

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