Claudia und Kurt sitzen beim Griechen. Eigentlich war nur ein gemeinsames Mittagessen vereinbart, doch irgendwie haben sie die Zeit vergessen. Bereits vor Stunden waren die Teller vom weiß gedeckten Tisch in der hinteren Ecke des Lokales abserviert worden. Auch der Kaffee war bereits getrunken, den sie eigentlich als gemeinsamen Schlusspunkt des mittäglichen Treffens angesehen hatten. Nun steht bereits die zweite Flasche Mineralwasser neben einer halb geleerten Flasche Wein am Tisch und sie sind in ein angeregtes Gespräch versunken. Immer wieder lachen die beiden auf, und das, obwohl Claudia eigentlich ihr Herz ausschüttet: es scheint ihr, als wäre sie in ihrer Partnerschaft an einen toten Punkt angekommen, im Beruf läuft es schon lange nicht mehr so, wie sie es sich eigentlich vorgestellt hätte und wenn sie mal fortgeht, dann könnte sie kotzen, wenn wie das Amen im Gebet jede Unterhaltung irgendwann auf die Themen Ausländer und die Bundespräsidentenwahl kommt.

Es ist Freundschaft, welche die beiden verbindet. Dieses Gefühl, einander alles sagen zu können. Diese Vertrautheit, obwohl man sich eigentlich gar nicht so häufig sieht. Claudia kann mit Kurt über Dinge sprechen, zu denen der bloße Gedanke daran, diese Offenheit ihrem Partner gegenüber an den Tag zu legen, ihr Bauchweh verursacht. Weil Kurt einfach zuhört. Er sie nicht missionieren will mit irgendwelchen Weisheiten über das, was sich gehört. Er ihr auch keine Vorhalte macht oder von ihr Entscheidungen verlangt. Er nicht beleidigt ist, wenn sie eine andere Meinung hat, andere Ziele für ihr Leben sieht. Er hört einfach nur zu und nimmt damit selbst den schwierigsten Herausforderungen, die sie gerade in ihrem Leben hat, scheinbar jede Last. Und seine Fragen, die er dann immer wieder stellt, geben ihr nicht nur das Gefühl, dass da jemand sitzt, der wirkliches Interesse daran hat, wie es ihr geht: sie selbst kann plötzlich wieder erkennen, dass manches doch gar nicht so schlimm ist, wie es ihr erschienen ist. Dass sie durch die immer wieder gesponnenen Gedanken sich eigentlich selbst im Weg steht – und es damit doch selbst in der Hand hat, Dinge anders zu sehen oder auch zu ändern.

Freundschaften wie diese können lange währen. Da sie frei sind von kurzfristiger Effekthascherei des Applauses zu Affekthandlungen, zugleich aber auch auf Kritik daran verzichten, manchmal keine Alternative zu emotionalen Kurzschlusshandlungen zu sehen. Claudia bekommt von Kurt weder die Bestätigung, dass es doch eine hervorragende Lösung wäre, ihren Partner zu verlassen, da die Partnerschaft an Feuer verloren hat und mühsam zu werden scheint, noch erntet sie Kritik für diesen Gedanken. Er hört nur zu. Stellt ihr Fragen, welche sie sich in der Deutlichkeit noch nie gestellt hat. Lässt sie damit ihre innere Überzeugung wiederfinden, das richtige zu tun: nicht das, was andere raten oder erwarten; was anderen gefällt und womit dann auch sie das Gefühl geschenkt bekommen könnte, anderen zu gefallen; einfach das, was für sie richtig ist. Das Aufeinandertreffen von Claudia und Kurt ist frei von Zwängen der gegenseitigen Bewertung und Erwartung, wie sie im Alltag viel zu oft als Last empfunden wird. Die beiden spüren bereits in Gedanken aneinander die Gewissheit, so sein zu dürfen, wie sie sind. Woraus sie Kraft schöpfen können, ohne einander Kraft zu kosten.

Otto von Bismarck wird zitiert mit seiner Erkenntnis, dass „ein bisschen Freundschaft ihm mehr wert sei als die Bewunderung der ganzen Welt.“. Claudia und Kurt sehen das wohl sehr ähnlich – denn Bewunderung kann rasch wieder vergehen – wahre Freundschaft jedoch kann wesentlich leichter Bestand haben.

5
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Süval

Süval bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 17:48:10

Paradeisa

Paradeisa bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 14:09:38

irmi

irmi bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 12:39:26

liberty

liberty bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 12:12:42

FraMoS

FraMoS bewertete diesen Eintrag 30.10.2016 12:00:13

4 Kommentare

Mehr von Hansjuergen Gaugl