Wie vor 35 Jahren ein grandioses Album die Karriere meines Lieblingskünstlers zerstörte

Vielleicht kennen Sie das: ein Musik-Album, das Sie fasziniert. So richtig. Das Sie jahrelang nicht loslässt. Das Sie von der ersten bis zur letzten Note so sehr lieben, dass Sie aus voller Überzeugung sagen können: „Ich habe nie ein besseres Album gehört.“ Ihre musikalische Erleuchtung.

Mein Erleuchtung heißt „Le Chat Bleu“, die blaue Katze (nach einem am Cover abgebildeten Tattoo), und beendete vor genau 35 Jahren die hoffnungsvolle Karriere von William Borsey jun. Klingt jetzt natürlich seltsam: Super-Album und Karriere-Ende. War aber so.

Gehen wir zurück ins Jahr 1979. Wir befinden uns im L'Aquarium, einem Musikstudio in Paris. Ein nicht mehr ganz junger Mann, bald 30, blickt auf ein kleines Streich-Orchester und hat Tränen in den Augen. Die Musiker spielen ihren Part des Songs „You Just Keep Holding On“ ein. „Ich wusste, ich bin am Ziel meiner Träume“, wird Willy DeVille, so der Künstlername von William Borsey, später in einem Interview sagen: „Wir hatten den perfekten Sound.“

Noch eine Rückblende: Mit seiner Band Mink DeVille war Willy in den Jahren 1975-77 zu einer der Hausbands im New Yorker Kultclub CBGB geworden. Der Club war mies, die Bezahlung ein Witz. Aber Blondie spielten dort, die Talking Heads. Und The Ramones. Wer im CBGB auf der Bühne stand, durfte sich Hoffnungen machen. Zumal Musikgrößen wie Doc Pomus im Publikum saßen. Der hatte einst „Viva Las Vegas“ für Elvis geschrieben und „Save the Last Dance For Me“ für Ben E. King und die Drifters. Pomus war von Noname DeVille angetan, bot ihm eine Zusammenarbeit an.

Ein Mann wie Pomus konnte, wenn auch im Winter seiner Karriere angelangt, immer noch Türen öffnen. Und so kam es, dass das Majorlabel Capitol Mink DeVille unter Vertrag nahm. Ein Missverständnis von Anfang an. Im CBGB wurde viel Punk gespielt, auch DeVille griff bisweilen härter in die Saiten. Aber hätten die Capitol-Scouts genauer hingehört, hätten sie bemerkt, dass DeVille kein Punkmusiker, sondern ein von Latin-Music beeinflusster Rock'n'Roller war.

Auf Basis dieses fundamentalen Missverständnisses gewährte man Willy DeVille 1979 einen exotisch anmutenden Wunsch: die Produktion von „Le Chat Bleu“. In Paris. „Weil ich mit Claude Petit arbeiten wollte“, sagte DeVille. Petit gehörte zum Musikuniversum rund um Edith Piaf. Diesen weichen Sound mit viel Streichermusik wollte DeVille haben. Mit dem Schlagzeuger und dem Bassisten von Elvis Presley, Texten von Doc Pomus, Top-Produzent Steve Douglas (Beach Boys, Bob Dylan und The Ramones) und einem Streichorchester nahm DeVille binnen weniger Wochen zehn Songs auf, die für das Musik-Magazin „Rolling Stone“ das fünfbeste Album des Jahres 1980 ergaben – knapp hinter „London Calling“ von The Clash und „The River“ von Bruce Springsteen. Der in den Achtzigerjahren einflussreiche australische Musikkritiker Glenn Baker wertete es damals als das zehntbeste Rockalbum aller Zeiten.

So eine Mischung aus Rock, Latino, Cajun und Doo Wop hatte die Welt noch nicht gehört. Akkordeon, Waschrumpel und Kastagnetten in Kombination mit harten Gitarrenriffs und herzzerreißenden Balladen; das Album, das nur 30 Minuten Musik zu bieten hat, war eine musikalische Explosion. Vom fetzigen Introsong "This Must be the Night" (fortan Auftakt aller DeVille-Konzerte) bis zum schmalzigen "Heaven Stood Still" am Ende – kein einziger Durchhänger. Wie viele Alben kennen Sie, für die das gilt?

Und nun stellen Sie sich vor, Sie kehren mit so einem Meisterwerk zu Ihrer Plattenfirma zurück, spielen diese Songs vor – und nichts geschieht. Capitol hatte ein einfaches Punkrock-Album erwartet und ein vielfältiges Meisterwerk erhalten. Die Firma reagierte, indem sie das Album in die Schublade warf und nicht veröffentlichte.

„Ich war am Boden zerstört“, sagte DeVille später in Interviews. Nur über einen Kunstgriff kam „Le Chat Bleu“ überhaupt auf den Markt. Der Europa-Ableger von Capitol war vom Album begeistert und veröffentlichte es. Die Verkaufszahlen waren so exzellent, dass Capitol USA mit einem Jahr Verspätung nachzog. Doch inzwischen hatte der schwer frustrierte DeVille bei Atlantic unterschrieben. Capitol zeigte kein Interesse, einen Star für die Konkurrenz aufzubauen. So kam es, dass das beste Album, das Willy DeVille je produzierte, seine Karriere beendete.

Denn einerseits langte der ohnehin mit Heroinproblemen behaftete Künstler nach dem Fiasko noch intensiver zu, andererseits begleitete ihn bei den Folgewerken die Angst, weitere Flops zu produzieren.

Bis zu seinem Tod 2009 veröffentlichte Willy DeVille noch etliche Alben. Richtig gute Alben. An die Exzellenz von „Le Chat Bleu“ reichte sein Werk aber nicht mehr heran. Cash verdiente der Mann nur noch in Europa, wo er mit regelmäßigen Touren seine Fans bei Laune hielt. Als er wenige Jahre vor seinem Tod eine Hüftoperation benötigte, musste er ein Jahre lang touren, um sich das Geld für den Eingriff zu verdienen. Eine traurige Geschichte.

Für mich gehört der zunehmend in Vergessenheit geratende Willy DeVille zu den Größten überhaupt. Das können Sie jetzt gerne als Schwärmerei abtun. Aber vielleicht glauben Sie ja Robert Zimmerman mehr. In einem 2015er-Interview antwortete er auf die Frage, wer es längst verdient hätte, in die „Rock'n'Roll Hall of Fame“ aufgenommen zu werden:

Yeah sure, Willy DeVille for one, he stood out, his voice and presentation ought to have gotten him in there by now.

Und in Anspielung auf Abba, The Mamas and The Papas und Steely Dan, über deren Aufnahme in die Hall of Fame sich Robert Zimmerman eher wundert:

But put on any one of those records and then put on “In The Heat of the Moment” by Willy or “Steady Driving Man” or even “Cadillac Walk." I’m not going to belittle Steely Dan, but there is a difference.

Robert Zimmerman werden sie vermutlich eher unter seinem Künstlernamen kennen: Bob Dylan. Anerkanntermaßen einer der Allergrößten. Ihm dürfen Sie glauben. (Und jetzt holen Sie sich gefälligst "Le Chat Bleu" im Online-Store Ihres Vertrauens).

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