Der Mann mit der Eisenplatte im Kopf

1979 endete meine Volksschulzeit. Ich war ein guter Schüler. Trotzdem gab es bei der Schulwahl kein großes Überlegen. „Studieren wird er wohl nicht, daher tuts sicher die Hauptschule“ – so der Ansatz. Der war für Kinder meiner Lebenswelt durchaus üblich. Studieren war ganz weit weg. Das hatte in meiner Familie nie jemand gemacht. Man hatte keine rechte Vorstellung davon. Dazu kam vielleicht auch ein wenig dieses Ethos des Arbeiters. Die höheren Bildungseinrichtungen spuckten eher die gesellschaftliche Gegenbewegung aus. Den Lehrern war es recht. Es nahm ihnen die Arbeit der Selektion ab. So führte mein Weg in eine der Vorstadthauptschulen entlang der Thaliastraße.

Wir Neuen versammelten uns am ersten Tag in einem Schulhof mit Kasernencharakter und wurden unseren Lehrern zugeteilt. Ich kam zu einem großen, älteren Mann. Das war der Fachlehrer Pichy – In Wahrheit hat er aber nur so ähnlich geheissen.

In meiner Klasse traf ich einige Freunde aus der Volksschule wieder. Das machte mir die Umgewöhnung leichter. Der Pichy führte uns durch so ein altes Stiegenhaus zu unserer Klasse. Wir setzten uns irgendwo hin. Es war nichts vorbereitet. Wir konnten uns also gar nicht erst auf den Holzweg begeben zu glauben, dass uns hier wer freudig erwartet. Der Mann stellte sich vor die Tafel, machte ein Hohlkreuz das er mit den flachen Händen abstützte und musterte uns höhnisch. So lernte ich ihn kennen.

Ich mochte ihn nicht. Schon von Anfang an. Ich weiß seither, dass ich in dieser Beziehung meinen Instinkten vertrauen kann. Ich täusche mich selten. Wenn ich jemanden bei der ersten Begegnung für ein Arschloch halte, dann ist er eines – fast immer.

Der Pichy war jedenfalls eines. Als ich zu Hause erzählte, wer mein Lehrer sei, seufzte meine Mutter auf: Sie hatte den auch schon gehabt. Irgendwie scheint sie das wie ein Gottesurteil angenommen zu haben. Eigentlich haben mich meine Eltern mit Zähnen und Klauen verteidigt. Aber dass einem der staatliche Überbau nicht freundlich gesonnen ist, man permanent mit Schwierigkeiten rechnen muss wenn man mit ihm konfrontiert ist – das war so. Der Soziologe Roland Girtler hat dieses distanzierte Gefühl der Staatsmacht gegenüber einmal als charakteristisch für Bewohner von rauen, abgeschiedenen Bergdörfern beschrieben. Nun, in der Ottakringer Vorstadt war das ähnlich.

Das Ungemach braute sich also über mir zusammen und es gab nichts, was mich davor bewahren hätte können. Oder doch. Ich hatte eine Begabung, die mir noch helfen sollte: Ich war ein guter Sportler. Und, besonders wichtig, ich war auch einer der besten Kicker meines Jahrganges. Der Pichy stand auf das. Es gab aber auch andere. Wie in jeder Klasse gab es die kleinen Dicken, die Patscherten, die Unsicheren und die die das Leben schon mit 11 Jahren so weich geprügelt hatte, dass sie aussahen wie ein Stofftier dem bereits ein Glasauge fehlt und aus dem die Füllung rieselt. Oft aus kinderreichen Familien die auf Zimmer-Kuchl-Kabinett dort wohnten, wo Wien noch so aussah als ob die Russen erst gestern abgezogen wären.

Einer davon war der Kutzer. Er war blass, dünn und unsicher.

Er blutete schon und das Raubtier hatte Witterung aufgenommen.

Der Pichy machte das auch mit anderen aber der Kutzer war sein Lieblingsopfer.

Er nahm die Hohlkreuzposition ein, lächelte sein Reptilienlächeln und ließ den Blick durch die Klasse schweifen. Ich glaub wenn sich Gedanken verfestigen könnten, erst zähflüssig, dann sprachbildend, dann wäre das Schulhaus erzittert. „Kutzer, Kutzer, Kutzer…“, wäre es aus 29 Kinderhirnen erschallt. Nur aus einem nicht. Aus dem vom Kutzer. Sehr grausam, nicht nur eigentlich, bevor man aber selbst das Opfer sein musste, war es schon besser wenn es den Kutzer traf. Der hatte Routine.

Sehr oft ging unser Wunsch in Erfüllung: Er wurde ausgewählt.

Der Pichy leckte sich kurz über die Lippen, glaube ich. Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber ich habe ein Bild von der Situation vor mir, in dem er das tut. Sagen wir er tat es. Wenn nicht, dann hätte es jedenfalls gepasst. „Kutzer!“ „Kutzer, komm doch bitte zu mir.“

Er säuselte das zuckersüß. Der Kutzer beugte den Kopf, stand auf und schlurfte zur Tafel. Dort lächelte ihn der Fachlehrer an. Er legte ihm den Arm um die Schultern. Dabei musste er sich etwas nach Vorne beugen. Er war viel größer als der kleine Kutzer. Zu ihm gewandt „Du bist ein ganz ein Lieber. Lass dir`s Potscherl klopfen.“ Er drehte den Kutzer in die Seitenansicht, lächelte der Klasse zu und tätschelte Kutzer sanft den Arsch. „Der Kutzer ist ein ganz ein Lieber, das wisst ihr doch. Man darf ja nix anderes sagen sonst kommt die Mama in die Schule.“ Wir näherten uns dem Abschluss der absurden Vorstellung. Wir wussten wie das weitergeht. „Man darf nur sagen, dass er ein gaanz liebes Kind ist.“ Bei „Liebes Kind“ ließ er Kutzer loß und beschrieb in Hüfthöhe, die Handfläche nach unten gerichtet, einen Halbkreis. So als würde er bedächtig Krümel von einem Couchtisch wischen – links, rechts, links, rechts – setze er die Nichtigkeit Kutzer`s Leben fest. Jetzt und in alle Ewigkeit: Hüfthöhe. Weiter wird’s nicht gehen.

Und an der Wand hingen die Bilder, die wir im Zeichenunterricht angefertigt hatten. So als wäre das alles normal. Dabei war die Situation so absurd, als wäre einem ausländischen Staatsgast bei einem Galadinner auf den Teller geschissen worden. Auf unseren Tellern türmte sich jedenfalls die Scheisse und der Kutzer hatte einen Nachschlag bekommen.

Aber was fängt man als Kind mit so einer Situation an. Wir bastelten uns eine Erklärung. Eine die uns ermöglichte mit so etwas umzugehen. Es wurden Gerüchte laut. Der Pichy wäre ein Flieger im zweiten Weltkrieg gewesen. Abgeschossen hätten sie den. Und jetzt hätte er eine Eisenplatte in der Birne. Ja, das ist es! Die Eisenplatte. Die erklärt alles! Jaha, ohne Eisenplatte – keine Chance! Aber mit! Kein Problem. Vielleicht spürt der aufziehende Gewitter oder Radio Niederösterreich streut in seine neuronalen Schaltungen rein.

Und wisst Ihr was? Ich war irrsinnig überrascht. Ich hab in meinem Leben noch einige andere Kinder aus ähnlichen Bildungseinrichtungen getroffen. Und alle hatten einen Lehrer mit Eisenplatte im Kopf.

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