Die Philosophie Edmund Husserls und Martin Heideggers ist in den Geisteswissenschaften ein Wendepunkt, weil Sein und Existenz unterschieden werden.

Sein ist das, was man nur "sein" kann und was keine Vorstellung sein kann. Existenz ist das, was aus diesem ewig ganzheitlichen Bereich heraustritt und sichtbar wird. Dabei genügt es auch, feinstofflich sichtbar zu sein, sodass jede Geschichte, jeder Film oder jedes Märchen existieren kann. Existenz ist aber gebunden an ein "hier & jetzt". Nur im Moment des Vorstellens, des ins Bewusstsein holens, existiert ein Phänomen. Wird eine Vorstellung durch eine andere ersetzt, ist die frühere wieder weg und existiert nicht mehr. Bis sich wieder ein bewusster Denker erinnert und Resonanz verspürt.

Der Unterschied kann durch eine Spiegelmetapher präzisiert werden. Der Spiegel ist das, was immer ist und als Ding an sich nicht sichtbar ist. Die Spiegelungen sind das Vergängliche, wobei über die Anordnung von Spiegeln unendliche Reihen von Erscheinungen entstehen. Das menschliche Bewusstsein kann aber nur Erscheinung nach Erscheinung erfassen und nicht eine Spiegelreihe als Ganzes.

Wenn man ein Buch liest, ist es ähnlich. Die Geschichte entsteht durch das Lesen. Wenn ich das Buch in der Hand habe und es schon gelesen habe, kann ich sagen: Ich kenne die Geschichte. Fange ich erst an, kenne ich vielleicht den Klappentext, der aber nur die Motivation geweckt hat, das Buch auszuwählen. Ich muss das Buch aufschlagen und auf die erste Seite gehen, dann auf die erste Zeile und erst mit dem ersten Wort fängt die Geschichte an, in meinem Individualbewusstsein zu existieren. Ein Satz existiert und mit dem nächsten Satz verschwindet der erste, und so weiter. Da ich in diesem Leben ein Gedächtnis habe, baut sich in mir die Geschichte auf, ich kann zurück schauen und weiß, was schon war, um den weiteren Verlauf zu erfahren, muss ich weiter lesen, ich kann es nicht wissen.

Zusammenfassend kann man sagen, "Sein" bedeutet das ganze Buch und seine Seiten. Die Existenz der Geschichte beginnt aber erst mit dem ersten Wort und dem Aufbau der Geschichte im Gedächtnis. Am Anfang habe ich eine Kollektion von Erscheinungen (= die Geschichte), die ich nicht kenne, am Ende kenne ich diese Geschichte. Ich habe einen Teil des "Seins" kennen gelernt. Existieren kann aber nur das, was jetzt in meinem Bewusstsein ist.

Die Inhalte des Bewusstseins sind eine andere Sache, weil die Ganzheit einer Sache immer aus vielen Geschichten besteht, wie auch das Sein aus unendlich vielen Geschichten bestehen muss. Existieren kann nur, was hier & jetzt in Resonanz zu mir tritt.

In diesem Sinne wären Werke wie "Sein und Zeit" von Martin Heidegger zu interpretieren. Die Profis, die das tun sollten, kennen in ihrer großen Mehrheit den Unterschied zwischen Sein und Existieren nicht. Das ist für die zeitgenössische Philosophie tragisch, daher wird sie auch nicht wirklich ernst genommen. Sie ist Teil der Ehrlosigkeit im Umgang mit Krieg und Krankheit.

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thurnhoferCC

thurnhoferCC bewertete diesen Eintrag 20.06.2022 13:45:44

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