Eines der schönsten und rätselhaftesten Kunstwerke in der Britischen Botschaft in Wien ist das Bild Anne Lucy Grenville, Lady Nugent des berühmten Porträtmalers Sir Thomas Lawrence. Es entstand 1813, ungefähr in der Zeit, in der Anne Lucy Poulett (ihr Mädchenname) im Alter von 23 Jahren George Nugent Grenville, zweiter Baron Nugent of Carlanstown, heiratete.

Das Porträt ist unvollendet, lediglich “Kopf und Dekolleté”, wie die Exeter and Plymouth Gazette 1830 schrieb, wurden fertiggestellt. Die übrige Szene, die Lady Nugent auf einer Art Thron sitzend zeigt, ist nur als Kreidezeichnung erhalten.

Mehrere Details des Bildes wecken die Neugier des Betrachters.

Warum wurde das Gemälde nicht vollendet? Die Exeter and Plymouth Gazette schrieb: Das Porträt ist nur ein Kopf, in einem Medaillon; aber ursprünglich sollte es eine Ganzfigur in Lebensgröße werden. Kopf und Brust waren seit langem fertiggestellt, aber die Vollendung des unteren Teils des Werks war (wie bei Sir Thomas üblich) immer wieder aufgeschoben worden, bis der adelige Ehemann der Dame ungeduldig wurde. Schließlich erklärte Sir Thomas eines Tages gegenüber Lord Nugent, das Bild würde mit Sicherheit am Tag nach der Eröffnung der Ausstellung jenes Jahres fertig, und fügte hinzu, falls es bis dahin nicht fertig sein sollte, wäre er damit einverstanden, dass seine Lordschaft es unvollendet mitnehmen würde, und er würde nichts dafür verlangen. Lord Nugent wartete den versprochenen Tag mit einiger Sorge ab – und als der Tag kam, begab er sich zum Haus von Sir Thomas, und da er diesen nicht zu Hause antraf, drang er in sein Malzimmer vor, wo er das Bild fand, das seit dem letztmaligen Versprechen nicht angerührt worden war, nahm es in seiner Kutsche mit – und in diesem Zustand ist es bis zum heutigen Tag geblieben – die ganze Figur unterhalb der Brust ist in Weiß gezeichnet.

Dieser Bericht lässt darauf schließen, dass Lord Nugent das Gemälde offenbar nicht bezahlt hat.

Zweitens fragt man sich, warum Anne Lucy einen so eigenartigen Gesichtsausdruck hat: flehend, aber dennoch charakterstark. Das Bild zeigt Lady Nugent in der weiblichen nur als „the lady“ bezeichneten Rolle in John Miltons Maskenspiel Comus von 1634. Eine „Masque“ war ein einfaches Schauspiel, das an adeligen Höfen aufgeführt wurde – ein bekanntes Beispiel ist das „Stück im Stück“ Pyramus und Thisbe in Shakespeares Sommernachtstraum.

In Miltons Maskenspiel ergreift der namensgebende Komos, der griechische Gott der Feste, Vergnügungen und nächtlichen Liebesabenteuer, die „lady“ in einem Wald und bannt sie auf einen verzauberten Stuhl. Dann drängt er sie, „nicht schüchtern zu sein“ und aus seinem Zauberbecher zu trinken, der für sinnliche Lust und Maßlosigkeit steht. Sie weigert sich jedoch und rühmt die Tugenden der Mäßigung und Keuschheit. Am Ende wird sie gerettet, unversehrt.

Dies zeigt uns, dass a) das Porträt die Keuschheit und Tugend von Lady Nugent zum Zeitpunkt ihrer Heirat herausstellen sollte; b) wir Zeuge einer Debatte über eine Streitfrage antiken und modernen Denkens werden: ob unsere Begierden naturgegeben sind und wir ihnen nachgeben sollten oder ob Selbstbeherrschung als solche tugendhafter ist; und dass c) die Darstellung von Lady Nugent als hilflos an den Stuhl gebunden, aber tapfer Widerstand leistend, dem Porträt eine völlig neue Bedeutung gibt. Faszinierend.

Obwohl Sir Thomas Lawrence das Bild von Lady Nugent niemals zu Ende malte, fertigte er ungefähr zur gleichen Zeit ein Porträt ihres Mannes an. Als ich es zum ersten Mal sah, fragte ich mich, wie das Porträt von Anne Lucy wohl als vollendetes Gemälde ausgesehen hätte. In Miltons Comus, wird die Dame, während sie auf ihrem Stuhl festgehalten wird, von einem kulinarischen Arrangement in Versuchung geführt, das ihre Gelüste wecken soll. Ob diese Gaumenfreuden wohl auch abgebildet worden wären?

Das Porträt von Lord Nugent hat mich auch wegen seiner Jugend überrascht: mit 25 Jahren war er nur zwei Jahre älter als seine Frau. Ich hatte ihn mir – vielleicht wegen der Ungleichheit der Gemälde (seines vollendet, ihres unvollendet) und des klagenden Gesichtsausdrucks der jungen Frau – als einen viel älteren Mann vorgestellt. Man sollte also keine voreiligen Schlüsse ziehen. Über das Porträt von Lord Nugent, das sich in Privatbesitz befindet, konnte ich nicht viel herausfinden. Aber es würde mich interessieren, ob es ebenfalls allegorisch ist und auf seine Keuschheit und Tugend hinweist (oder eine andere klassische Anspielung enthält). Weiß jemand mehr darüber?

Anne Lucy Grenville, Lady Nugent, hatte keine Kinder. Sie starb im Revolutionsjahr 1848 im Alter von 58 Jahren. Mit dem Tod ihres Mannes 1850 starb die Baronie aus.

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philip.blake

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