Im Osten nichts Neues: Menschen auf der Flucht stranden in Bosnien und Herzegowina

Fotoquelle: selbst geschossen

Bihać, Una-Sana-Kanton, Bosnien-Herzegowina

Mit dem Auto dauert die Fahrt knapp 30 Minuten. Sie führt eigentlich nur etwa 25 Kilometer vom Stadtzentrum der Stadt Bihać bis hinaus ins südöstlich gelegene Lipa. Aber die Straße schlängelt sich hier besonders kurvig den Berg hinauf. Zu Fuß lässt es sich auf weiten Teilen des Wegs daher auch nicht abkürzen: zu steil ist der Weg, zu unbefestigt die Wege im Wald.

Zum eigentlichen Flüchtlingslager Lipa verläuft dann überhaupt nur ein unbefestigter kleine Schotterweg, Schlagloch folgt auf Schlagloch; bei Regen gleichen sie tiefen Schlammpfützen. Mitten im Grünen nach einer Kurve strecken sich dann auf einmal die großen weißen Zelte und viele Meter Zaun aus der grünen Wiese hinaus. Direkt daneben parkt ein Auto mit dem Schriftzug einer Sicherheitsfirma. Die Botschaft ist klar: Hier kommt niemand ungesehen hinein oder hinaus.

Weit kommt hier sowieso niemand. Es besteht ein offizielles Beförderungsverbot für die Menschen, die hier leben. Das heißt, kein Privatauto, kein Taxi, kein öffentlicher Nahverkehrsbus darf sie mitnehmen. Einzig die Polizei sammelt gelegentlich Gruppen in der Stadt auf, um sie – meist gegen deren Willen – in das Camp zu fahren.

300, 400, sie wissen selbst nicht ganz genau, mit wie vielen anderen Männern sie in einem der großen weißen Zelte (im Video: hinten rechts) schlafen, die mitten auf einer grünen Wiese stehen. „Wir sind immer zu zweit in einem Bett“, so viel können sie sicher sagen.

Dreckig sind die Betten außerdem, da sind sich alle einig. Manch einer, so heißt es, legt es extra darauf an, in den Quarantänebereich (im Video: vorne links) zu kommen. „Da sind die Betten sauber“, erklärt einer der Bewohner, „und es gibt warmes Wasser für die Dusche.“

Zwischenfrage: Scheitert es eigentlich am Budget?

Die Europäische Kommission hat am 4. Juni 2020 weitere 20 Millionen Euro Fördergeld für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und Migranten in Bosnien und Herzegowina zugesichert. Abrufbar ist diese Summe im Laufe der kommenden 36 Monate. Auch in der Vergangenheit sind bereits Beträge im zweistelligen Millionenbereich geflossen; diese waren zum Aufbau von Unterkünften und der Versorgung mit Lebensnotwendigem, aber auch der Bereitstellung psychosozialer Unterstützung gedacht.

Zurück in Bihać in der Nähe der Unterkunft Bira. Hier haben noch bis Anfang Oktober rund 500 Menschen in einer alten Lagerhalle gelebt. Ein Container für bis zu acht Männer, Essen, medizinische Versorgung, Aktivitäten, Nähe zum Stadtzentrum – und zur kroatischen Grenze. Nach europäischen Maßstäben zwar auch kein komfortabler Ort, doch für die Menschen auf der Flucht eine passable Bleibe zur Regeneration. Inzwischen ist die Unterkunft geschlossen: Wegen der im November anstehenden Wahlen im Una-Sana-Kanton gerieten Menschen auf der Flucht zur politischen Verhandlungsmasse – und sollten nicht mehr im Stadtbild auftauchen. Mehrere Straftaten und Auseinandersetzungen unter den Menschen hatten zusätzlich zur rassistischen Stimmungsmache den Unmut der Lokalbevölkerung erregt.

Weil es draußen in Strömen regnet und für sämtliche Unterkünfte aufgrund der Ansteckungsgefahr ein absolutes Besuchsverbot gilt, findet das Interview mit einer Mitarbeiterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schräg gegenüber von Bira im Café eines kleinen Einkaufszentrums statt. An der Tür prangt ein DIN-A4-Zettel mit großen Buchstaben: Immigranten sind hier nicht willkommen.

Nataša Žunić Omerović ist zum Zeitpunkt des Gesprächs als Mitarbeiterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) die Managerin der Flüchtlingsunterkunft “Bira", das eine knappe Woche später polizeilich geräumt werden wird. Bei dem Gespräch ahnt sie schon, dass dieser Schritt bevorstehen wird. Sie hat nämlich Besuch vom obersten Polizeichef des Kantons bekommen. Er wollte sie allein sprechen, sie bat eine Kollegin um Beistand und Zeugenschaft. Sie lacht und sagt: “Er wollte, dass ich ihn unterstütze.” Sie habe ihm klargemacht, dass sie eine humanitäre Helferin sei. Sie defininiere ihre Aufgabe darin, sich um die Menschen zu kümmern. Daher könne sie auch bei einer Evakuierung nicht helfen, solange nicht sichergestellt sei, dass diese nicht einfach “auf dem freien Feld” ausgesetzt würden. So wie in Lipa.

Omerović kennt sich aus mit der Situation der Menschen auf der Flucht in Bosnien und Herzegowina. Sie war zuvor in Velika Kladuša für die IOM aktiv und weiß um die Situation in den verschiedenen Unterkünfte in der Region.

"Wir müssen immer zwischen Legalem und Illegalem jonglieren. Wir leisten humanitäre Hilfe im Rahmen der politischen Möglichkeiten des Landes, in dem wir agieren."

Für sie sei es wichtig, respektvoll mit allen umzugehen. “Ich rede mit den Leuten”, sagt sie. Die offiziell eingeführte “Talk to the manager”-Stunde werde daher auch gar nicht genutzt, da sie ohnehin immer ein Ohr für die Belange der Bewohner der Unterkunft habe.

Eine Stunde durch Berge, Täler und Tunnel bergauf, bergab führt die Strecke über 50 Kilometer in Richtung Velika Kladuša. Hier liegt an der Landstraße in einem Vorort das Camp Miral, eigentlich ist das ein Firmenname, das Gebäude eine ehemalige Fabrikhalle. Dahinter erstrecken sich über rund fünf Kilometer bis zur kroatischen Grenze vereinzelte Wohnhäuser, weitläufige Wiesen und Wälder. Schon aus der Ferne hört man ein nicht eindeutig zu verortendes Stimmengewirr, zwischen den Bäumen hängen Rauchschwaden in der Luft. Auf den Zufahrtswegen schlendern Menschengruppen in beide Richtungen.

Straßenszene in der Nähe von Miral

Manche wollen in den Ort oder sind nach eigenen Angaben gerade von der kroatischen Polizei gewalttätig über die grüne Grenze zurück nach Bosnien geschickt worden. Sie brechen gerade in diese Richtung auf und wollen erneut ihr Glück beim „Spiel“ versuchen. Wieder andere folgen den Rauchschwaden in eines der Waldstücke oder halb verfallenen Gebäude, die nun als provisorische Unterkünfte dienen. Wer dabei einen straßennahen Platz ergattern kann, hat einen entscheidenden Vorteil: Werden Lebensmittel oder andere Spenden verteilt – was eigentlich derzeit verboten ist – werden zumeist sie als Erstes versorgt.

Velika Kladuša, mitten im Wald.

In diesen Wäldern hat sich in den vergangenen Monaten ein Eigenleben entwickelt. Wer keinen Zugang zu den offiziellen Camps erhält und keine Bauruine unauffällig für sich in Beschlag nehmen konnte, der landet hier. Der Boden ist oft schlammig und mit rutschigem Laub bedeckt. Jeden Tag, so berichten die Bewohner, kommt es zu Verletzungen, da jemand am nassen Hang ausrutscht und ihn hinunterschliddert. Viele tragen Flipflops oder durchgetretene Turnschuhe, aber auch besseres Schuhwerk findet an Regentagen keinen Halt auf den steilen Trampelpfaden, die zwischen den Zelten hindurchführen. Dabei sind es freilich keine gekauften Fertigzelte. Eine kleine Grube, um den Boden des steilen Hangs zu ebnen, ein Grundgerüst aus Ästen, auf dem Boden eine Plane und weitere über das Holzgeflecht gelegt – fertig ist die provisorische Behausung. Sie schützt zwar nicht vor der Kälte in diesem Herbst. Doch kann sie den Regen abhalten und den Wind abmildern. Etwas Wärme spenden die überall da, wo es nicht zu nass ist, schwelenden Feuerstellen, an denen die Menschen auch ihre Mahlzeiten kochen oder frische Brotfladen backen. Mehr als 60 solcher Zelte sind allein an einem der Waldhänge aufgebaut. Wie viele solcher Behausungen in den Wäldern es gibt, das weiß niemand so genau. es ingesamt in den Wäldern gibt, weiß niemand so genau.

Die örtliche Polizei kontrolliert hin und wieder die Straße, die an den Wäldchen vorbeiführt: Mit Mannschaftswagen, Blaulicht und in voller Montur. Dabei bleibt unklar, was diese MaßnahmeAktionen bezwecken sollen. Jedenfalls werden die Menschen dabei nicht registriert. Eine Registrierung der Menschen wird jedenfalls nicht durchgeführt.

Die Menschen, die im “Dschungel” leben, wünschen sich Unterstützung von der EU oder den Vereinten Nationen. “Wir sind Menschen. Wir möchten wie Menschen behandelt werden”, lautet die einfache Forderung. Ein junger Mann schildert, dass die Aufmerksamkeit durch Medien nicht nur gute Auswirkungen hat. Nach dem Bericht eines internationalen Nachrichtensenders habe das Militär die Waldcamps besucht: “Sie sagten uns, sie bringen uns bald von hier weg.”

Nicht nur deshalb enthält dieser Bericht keine genauen Ortsangaben und verzichtet auf Fotos oder Videos mit erkennbaren Gesichtern von den Menschen, die sich dort aufhalten.

Kurz nach derm Recherchereise zu diesem Artikel wurden die Unterkünfte Miral und Bira tatsächlich von der Polizei geräumt; die Waldcamps bestehen weiterhin und wachsen. Die Bewohner wurden entweder nach Lipa gebracht, teilweise auch nach Sarajevo, oder durften zum “Game” gehen. Die Problematik: Lipa registrierte täglich laut Auskunft von Bewohnern lediglich 20 bis 30 Personen. Das heißt, viele blieben ohne Schlafplatz und Essensversorgung. Peter Van Der Auweraert, der Leiter von IOM in Bosnien-Herzegowina, spricht in einem Facebookpost von rund 250 Orten, an denen die obdachlosen Menschen inzwischen insgesamt leben; in verlassenen Gebäuden und selbstgebauten Zeltlagern.

Zuvor gab es zwei Phasen:

Phase 1: Beide Unterkünfte durften keine Neuzugänge registrieren. Wer nicht registriert war, durfte die Unterkunft nicht offiziell betreten. Wer sich ohne Karte hineinschlich, erhielt drinnen dann wiederum nichts zu essen.

Phase 2: Alleinreisende Minderjährige wurden evakuiert und in Familienunterkünfte überführt. Manche von ihnen leben allerdings auch bei den Erwachsenen. (Uns sind zwei nachweisliche Fälle bekannt.)

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