Humanismus heißt, daß irgendwie der Mensch im Zentrum steht, seine Belange Priorität haben und es daher nicht richtig ist, wenn er religiösen oder politischen Ideologien unterworfen ist. Doch was heißt das eigentlich im Detail? Geht es nur um Menschenwürde oder um Atheismus? Was gibt es noch zu sagen über Humanismus und kann der Humanismus ein tool für aktuelle Probleme der Gesellschaftsgestaltung sein?

Das humanistische Demütigungsverbot

Versuchen wir zunächst den Begriff der Menschenwürde zu bestimmen und gehen dazu von einer sehr basalen Annahme aus, die natürlich ihrerseits bereits vielfach diskutiert wurde.

(A) Demütigungen und Verletzungen der Selbstachtung von Menschen sind moralisch verboten [1, 2, 3, 4].

Als nächstes fällt auf, daß Personen zwar gedemütigt werden können, sich aber deshalb nicht gedemütigt fühlen müssen. Dies könnte z.B. dadurch eintreten, daß der Gedemütigte meint, die Demütigung gerechterweise als Buße verdient zu haben und ertragen zu müssen. Da auch die Umkehrung gilt, können wir nur definieren:

  • Eine Demütigung geschieht durch jede Handlung, die einer Person einen Grund gibt, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen - was die Demütigung zu einem objektiven, ethischen Sachverhalt macht, die auf einen Grund, nicht aber auf eine Ursache zurückgeht.

Denn eine solche Demütigung kann u.a. dadurch vollzogen werden, daß grundlegende Rechte einer Person verletzt werden wie z.B. in dem Fall, in dem eine Mutter dem Vater ihres Kindes dieses Kind entfremdet oder eine Frau einem Mann gegen seinen Willen ein Kind anhängt.

Doch solche Demütigungen können auch durch Entmündigungen vorgenommen werden, indem man Menschen die Verantwortung für die Abwägung ihrer eigenen handlungsleitenden Gründe abnimmt, entzieht oder nicht zugesteht, so daß sie sich selbst nicht mehr als eigenständig Handelnde einschätzen. In beiden Fällen hängt das Eintreten des Selbstachtungsverlustes davon ab, daß für den Gedemütigten eine Erklärung verfügbar ist, inwiefern ihm Rechte oder Selbstverantwortung vorenthalten werden. Folglich gilt:

  • Wird unter Benutzung einer Erklärung, i.e. der Angabe eines Grundes, absichtlich verletzt oder entzogen, was zu den unabdingbaren Voraussetzungen eines selbstbestimmten Lebens gehört derart, daß die Selbstachtung verletzt wird, dann ist auch die Würde der Person als Mensch verletzt.

Und die Demütigung ist nur eine unter vielen Möglichkeiten, die Menschenwürde zu verletzen.

Denn die Verletzung der Menschenwürde - und nicht nur die Verletzung von Menschenrechten - bedroht den Status eines Menschen als Person im Sinne eines Gravitationszentrum sozialer Zusammenhänge aufgrund seiner Rolle als freier, selbstverantwortlicher und selbstbestimmter Akteur. Schließlich werden Rechte dadurch zu Menschenrechten, daß sie genau diese Rolle eines Menschen, seine Möglichkeit als dramatisches Zentrum von Entscheidungen, aufzutreten, sichern. Und es ist gewißermaßen nur die andere Seite der Medaille, daß die Forderung nach der Unverletzlichkeit der Menschenwürde als Maxime bei der Begründung der Menschenrechte auftritt.

Menschenrechte als Folge der Menschenwürde

Was moralische Verbot, die Menschenwürde zu verletzen, als moralisches Verbot, die Selbstachtung von Menschen zu verletzen, auszubuchstabieren, zieht aber auch erhebliche begriffliche Konsequenzen nach sich:

Denn zum Einen beruhen Selbstachtungsverletzungen auf einem positiven Freiheitsbegriff, einer Freiheit zu etwas, und zwar präzise derjenigen, Gründe selbst abzuwägen, diese handlungswirksam werden zu lassen und damit letztlich natürlich auch aktiv zu handeln: Das moralische Verbot, die Menschenwürde zu verletzen, schützt damit auch individuelle Gestaltungsrechte von Personen und beschränkt sich nicht auf einen negativen Freiheitsbegriff, d.h. auf die Freiheit, etwas abzuwehren.

Zum Anderen wurde durch die Explikation von Menschwürde via Selbstachtung implizit ein ethisch neutraler, theoretischer Humanismus formuliert. Er lautet:

  • Menschliche Freiheit ist die Fähigkeit, Gründe einzusehen, selbst abzuwägen und der eigenen Abwägung zufolge auch zu handeln. Freiheit wird damit ausgeübt, insofern Rationalität demonstriert wird dadurch, daß eine eigene Handlungserklärung für das selbst kontrollierte Verhalten gegeben wird.

Alle Menschen können gar nicht anders, als sich selbst als Wesen zu verstehen, die ihr Handeln an Gründen ausrichten.

Aus dem bisher Gesagten folgt damit die systematische Pointe dieses Abschnitts:

  • Wenn es zum Moralerbe der Menschheit gehört, daß zum Verlust der Selbstachtung führende Demütigungen moralisch verboten sind, dann beruht dies auf der Unverletzlichkeit einer Menschenrechte begründenden Menschenwürde, die Menschen einen theoretischen Humanismus zugesteht, nach dem sie frei sind, aufgrund selbstgewählter Gründe zu handeln und nicht bloß in Reaktionen äußeren Ursachen zu folgen.

Es ist offensichtlich, daß dies nach weiteren ethischen Kriterien verlangt, zu entscheiden, ob eine Demütigung oder eine andere Verletzung der Selbstachtung vorliegt: Eine nur gefühlte Verletzung der Menschenwürde muß noch lange nicht real vorliegen.

Darüber hinaus wird in diesem Humanismusverständnis ein positiver Freiheitsbegriff benutzt, der sich zusätzlich in einem ethischen Humanismus niederschlägt. Er lautet:

  • Die Ausübung der Autonomie, die Realisation der Freiheit verleiht dem Menschen seine Würde, denn der Mensch ist nicht determiniert und daher nach bestimmten Kriterien moralisch verantwortlich für sein Handeln. Ohne Freiheit gibt es keine Verantwortung.

Das bedeutet, daß sich die Gründe des Handelns nicht naturalisieren lassen, d.h. sie sind in keinem Sinne Ursachen - verstanden als Naturteile - des Handelns. Und wäre das menschliche Handeln durch Anderes als durch Gründe dominiert, dann wäre dieses Andere nicht gegeben, bzw. dessen Bedingungen nicht erfüllt.

Das Wesentliche ist, daß der ethische Humanismus das Moralerbe der Menschheit, d.h. alles was wir an normativen Einstellungen und moralischen Gewohnheiten haben, Anteilnahme, Empathie, Verurteilung, Bestrafung, Bedauern, Schuld, Vergebung, Dankbarkeit etc., de facto durchdringt und strukturiert. Und das ist ein guter Grund, den ethischen Humanismus - wenigstens vorläufig - zu akzeptieren.

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