Fotomontage Manfred Breitenberger

Obwohl die geplante Justizreform laut dem Rechtswissenschaftler Alan M. Dershowitz kein Problem für die israelische Demokratie ist, wird der Judenstaat deshalb wieder einmal in Politik und Medien obsessiv dämonisiert. SPD Kanzler Scholz und seine grüne Außenministerin machen sich wegen der Justizreform „große Sorgen“ um Israel und andere „israelkritische Experten“ halluzinieren die Justizreform „ähnelt sehr dem "Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933.

Die Blut-und-Boden-Linke überträgt ihren Antiimperialismus auf islamistische Bewegungen und Regimes und delegitimiert den Staat Israel. Der Islamismus steht gegen alles, wofür die Linke jemals eingetreten ist, er verfolgt jedes marxistische Denken mit gnadenloser Unterdrückung und Folter, er stellt Homosexualität unter Todesstrafe und behandelt Frauen als Menschen zweiter Klasse. Antisemitische Obsessionen über "zionistische Schlächter“, „ethnische Säuberungen gegen die Palästinenser", den „Apartheidstaat Israels“ oder dem "KZ Gaza" sind hundertfach in den einschlägigen Publikationen nachzulesen. Arabische Terroristen die in ihrem mörderischen antisemitischen Tagewerk gestört wurden, heißen in den öffentlich-rechtlichen Medien „getötete Palästinenser“, die von der „rechtsextremen“ israelischen Regierung erschossen wurden.

Israel wird die Weigerung übelgenommen weder Waffen an die Ukraine zu liefern, noch Sanktionen gegen Russland mitzutragen und im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern jeden Geschichtsrevisionismus oder Holocaustleugnung abzulehnen und zu verurteilen. Am 9. Mai 2018 feierte Benjamin Netanjahu gemeinsam mit Wladimir Putin auf dem Roten Platz den Sieg über den Nationalsozialismus. Bevor Wladimir Putin an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem am 23.01.20 seine Rede zum Gedenken an 75 Jahre Befreiung von Auschwitz hielt, eröffnete er mit Benjamin Netanjahu das Leningrad-Denkmal in Jerusalem. In den Antisemitischen Rundfunkanstalten Deutschlands meinte die Hauptstadtkorrespondentin Sabine Müller, Netanjahu und Putin hätten aus der Veranstaltung eine „Privatparty“ gemacht.

Mit dem Überfall auf die Sowjetunion kollaborierte die Westukraine mit NS-Deutschland in ihrem Kampf gegen die Juden und die Russen, dem Judeo-Bolschewismus. Die OUN unter Stepan Bandera und diverse westukrainische Gruppen waren verantwortlich für die Ermordung von hunderttausenden Juden. Bei der größten Massentötung vor den Giftgasmorden, in der Schlucht von Babyn Jar im September 1941, der Ermordung von 33.771 Juden durch zwei Bataillone ukrainischer Polizisten, einer Militäreinheit der OUN Banderas, sowie Wehrmacht und SD waren von den insgesamt 1500 Exekutoren 1200 Ukrainer und 300 Deutsche. Die westukrainischen Judenmörder werden heute in der Westukraine als National- und Freiheitshelden vergöttert. Die sowjetischen Denkmäler der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wurden nach der Unabhängigkeit gestürzt und durch Denkmäler für Nazi-Kollaborateure und Judenmörder ersetzt.

Neben Bandera-Gedenktagen, Bandera-Briefmarken, sechs Bandera-Museen, vierzig Bandera-Denkmählern trägt die Hauptstraße zur Gedenkstätte Babyn Jar den Namen Banderas. Die letzte Stecke ist nach dem antisemitischen Massenmörder Roman Schuchewytsch benannt.  Alleine diese antisemitische Verhöhnung der 33.771 Opfer belegt eindrucksvoll den Charakter des ukrainischen Staates. Arno Klarsfeld, Sohn der Nazi-Jäger Serge und Beate Klarsfeld, sagt deshalb, die Ukraine habe in der EU nichts verloren und weiter: "Letztlich wird man dann auch noch Adolf Hitler rehabilitieren, weil er wie Stepan Bandera den Stalinismus und die Russen bekämpfte, die wir jetzt durchwegs als Feinde Europas betrachten. Die Schoah wird so zum Kollateralschaden."

Der westukrainische Antisemitismus mit seiner Leugnung des Holocaust wird derzeit von großen Teilen der ehrlosen „ideologiekritischen“ Linken verniedlicht, gerechtfertigt oder sogar übernommen. So fordern die NATO-Linken die Zerschlagung Russlands und grüßen sich in den sozialen Medien mit dem faschistischen Slogan der OUN „Slawa Ukrajini.“ Ob sie dabei ordnungsgemäß wie ihre Vorbilder den rechten Arm heben ist schwer abzuschätzen. Die Bandera-Linke ist in ihrer bedingungslosen Solidarität mit der Ukraine trauriger Beleg für die Koexistenz des alten und des neuen Antisemitismus und somit für alle Zeiten moralisch erledigt.

Obwohl selbst links sozialisiert und politisiert, war ich nie anfällig für diesen Antisemitismus. Vor über 40 Jahren fiel mir zufällig das Büchlein „Widersprüche“ in die Hand, es enthielt den Essay „Der ehrbare Antisemitismus“ von Jean Améry. Wer diesen großartigen und zeitlosen Essay liest und versteht ist für alle Zeiten gegen Antisemitismus immunisiert.

Jean Améry, geboren am 31. Oktober 1912 im 4. Bezirk in Wien, wuchs als Hans Maier in Lederhosen bei seiner katholischen Mutter Valerie Maier auf, sein Vater Paul Maier, der nie in einer Synagoge war, fiel als Tiroler Kaiserjäger am 1.8.1917 im 1. Weltkrieg. Erst die Nürnberger Gesetze machten Jean Améry zum Juden. Améry war Schriftsteller, Journalist, Atheist, Holocaustüberlebender und er fühlte sich der äußersten Linken zugehörig, die er oft kritisierte.

Er flieht 1938 mit seiner Frau Regine nach Belgien, schließt sich dem kommunistischen Widerstand an, wird gefangen und in Breendonk bei Antwerpen gefoltert und deportiert. Améry überlebte den Holocaust als Schreiber in einem Werk der I.G. Farben. Im Februar 1945 wurde er in das unterirdische Arbeitslager Mittelbau-Dora nach Thüringen verlegt. Im April kam Améry nach Bergen-Belsen, wo er zwei Wochen später befreit wurde. Mit 45 Kilogramm Lebendgewicht kehrt er am 29. April 1945 nach Brüssel zurück, wo er erfährt, dass seine geliebte Frau, die sich in Brüssel versteckt gehalten hat, am 24.4.1944 an Herzversagen im Alter von 28 Jahren gestorben ist. Jean Améry war 642 Tage in deutschen Lagern, seine Auschwitznummer 172 364, schrieb er einst, lese sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gebe zudem gründlicher als diese Auskunft über eine jüdische Existenz.

Der Existenzialismus Jean-Paul Sartres, sein Freiheitsbegriff, nicht zuletzt seine „Reflexionen zur Judenfrage“ waren der Referenzpunkt für Jean Améry. „Gut auch, wenn du spät wenigstens begreifst, dass die bürgerlichen Demokratien in panischer Angst für den Besitz der Besitzenden den Wolf in Russlands Ebenen schicken wollten, damit er dort sich voll fresse, und dass sie, die Freiheitsbürger, es lieber mit Hitler hielten als mit den Bolschewiken.“ Jean Améry kritisierte die Linke, wenn es nötig wurde, beispielshalber bei den Steinigungen von „ehebrecherischen Frauen“ in den islamischen Gesellschaften "hält die Linke den Mund." „Und sofern sie redet, ist ihr Vokabular im eigentlichen Wortsinne verrückt.“

Das ambivalente Verhältnis zu den „imperialistischen“ USA wird in seinem Essay „Zwischen Vietnam und Israel – Das Dilemma des Engagements“ deutlich. Améry fordert eine Disjunktion zwischen dem verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam und seiner Unterstützung von Israel. In einem Brief an Ernst Mayer schreibt er: „Die Amerikaner sind absolut tollwütig, dass sie die Gelegenheit nicht wahrnehmen zu einer Generalbereinigung, zu der freilich auch ihr Einlenken in Vietnam gehört hätte.“ Jean Améry verurteilte das Appeasement gegenüber den Verbrechen der NS-Vergangenheit und das Appeasement gegenüber deren drohender Fortsetzung mit anderen Mitteln, wie unter anderem in einem Brief an Erich Fried über die Reue des Albert Speer ersichtlich wird. „Unter Zionismus versteht die Linke ungefähr das, was man so vor rund dreißig Jahren in Deutschland das „Weltjudentum“ genannt hat“, schreibt Améry in „Die Linke und der Zionismus“ im Jahr 1969.

Die Wiedergutwerdung Deutschlands scheint abgeschlossen. Die Täter der antisemitischen Massenmorde in der Ukraine werden posthum heiliggesprochen, deutsche Ukraineunterstützer verteidigen einen Judenmörder um ihr Weltbild zu erhalten, der 8. Mai, der Tag des Sieges über Nazideutschland wird nur noch in Israel und in Russland entsprechend gefeiert, die 27 Millionen Ermordeten des „Unternehmen Barbarossa“ sind vergessen, Stalingrad wird den Russen freilich nie verziehen und Israel wird mit „Lob und Tadel moralisch beigestanden, damit das Opfer nicht rückfällig werde.“

Am 17. Oktober 1978 wählt Jean Améry den Freitod mittels Schlaftabletten in Salzburg. Im Abschiedsbrief schreibt er, sich auf ein Gedicht von H.M. Enzensberger beziehend: "Was habe ich verloren in diesem Lande". Die Urne wurde in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in Wien beigesetzt.

Im Jahr 1969 schreibt Améry den Essay „Der ehrbare Antisemitismus“ und veröffentlicht ihn erstmals am 25. Juli 1969 in der „Zeit“, er setzt sich darin vor allem mit dem Verhältnis der Linken zum Staat Israel auseinander. Der Essay wird später vielfach in diversen Zeitungen und Portalen wieder veröffentlicht. Die Aktualität des "ehrbaren Antisemitismus" ist erschreckend und zugleich faszinierend.

Jean Améry – Der ehrbare Antisemitismus (1969)

De Gaulle fiel. Manch einem war trüb zumut wie einem Heineschen Grenadier; mir auch, mir auch. Nur leider, dass in New York dem französischen UNO-Delegierten Armand Bérard nichts besseres einfiel, als verzweifelt auszurufen (laut “Nouvel Observateur” vom 5.Mai): “C’est l’or juif!” Und kein Dementi. Rechter Hand, linker Hand alles vertauscht. Der Antisemitismus schafft’s und, wie es einst bei Stefan George hieß: “… er reißt in den Ring.” Das klassische Phänomen des Antisemitismus nimmt aktuelle Gestalt an. Der alte besteht weiter, das nenn ich mir Koexistenz. Was war, das blieb und wird bleiben: der krummnasige, krummbeinige Jude, der vor irgendwas – was sag ich? – der vor allem davonläuft. So ist er auch zu sehen auf den Affichen und in den Pamphleten der arabischen Propaganda, an der angeblich braune Herren deutscher Muttersprache von einst, wohlkaschiert hinter arabischen Namen, mit kassieren sollen. Die neuen Vorstellungen aber taten auf die Szene gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg und setzen langsamerhand sich durch: der israelische Unterdrücker, die mit dem ehernen Tritt römischer Legionen friedliches palästinensisches Land zerstampft. Anti-Israelismus, Anti-Zionismus in reinstem Vernehmen mit dem Antisemitismus von dazumal. Der ehern tretende Unterdrücker- Legionäer und der krummbeinige Davonläufer stören einander nicht. Wie sich endlich die Bilder gleichen! Doch neu ist in der Tat die Ansiedlung des als Anti-Israelismus sich gerierenden Antisemitismus auf der Linken. Einst war das der Sozialismus der dummen Kerle. Heute steht er im Begriff, ein integrierender Bestandteil des Sozialismus schlechthin zu werden, und so macht jeder Sozialist sich selber freien Willens zum dummen Kerl. Den Prozess kann man nutzbringend nachlesen in dem schon vor mehr als einem Jahr in Frankreich bei Pauvert erschienenen Buch “La Gauche contre Israel” von Givet. Es genügt aber auch, gewisse Wegmarken zu erkennen, beispielsweise eine in der Zeitschrift “konkret” erschienene Reportage zu lesen: “Die dritte Front”. “Ist Israel ein Polizeistaat?” heißt da ein Zwischentitel. Die Frage ist nur rhetorisch. Natürlich ist Israel das. Und Napalm und gesprengte Häuser friedlicher arabischer Bauern und Araber-Pogrome in den Straßen von Jerusalem. Man kennt sich aus. Es ist wie in Vietnam oder wie es einstens in Algerien war. Der krummbeinige Davonläufer nimmt sich ganz natürlich aus als Schrecken verbreitender Goliath. Es ist von der Linken die Rede und keineswegs nur von den noch mehr oder minder orthodoxen kommunistischen Parteien im Westen oder gar von der Politik der Staaten des Sozialistischen Lagers. Für diese gehört der Anti-Israelismus, aufgepfropft auf den traditionellen Antisemitismus der slawischen Voelker, ganz einfach zur Strategie und Taktik einer so und so gegebenen politischen Konstellation. Die Sterne lügen nicht, die Gomulkas wissen, worauf sie rechnen dürfen. *C’est de bonneguerre!* Darüber ist kein Wort zu verlieren.

Schlimmer ist, dass die intellektuelle Linke, die sich frei weiß von Parteibindungen, das Bild übernimmt. Jahrelang hat man – um einmal von Deutschland zu reden – den israelischen Wehrbauern gefeiert und die feschen Mädchen in Uniform. In schlechter Währung wurden gewisse Schuldgefühle abgetragen. Das musste langweilig werden. Ein Glück, dass für einmal der Jude nicht verbrannt wurde, sondern als herrischer Sieger dastand, als Besatzer. Napalm und so weiter. Ein Aufatmen ging durchs Land. Jedermann konnte reden wie die “Deutsche National- und Soldatenzeitung”; wer links stand, war befähigt, noch den Jargon des Engagements routinemäßig zu exekutieren. Fest steht: Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar. Er kann ordinär reden, dann heißt das “Verbrecherstaat Israel”. Er kann es auf manierliche Art machen und vom “Brückenkopf des Imperialismus” sprechen, dabei so nebstbei allenfalls in bedauerndem Tonfall hinweisen auf die missverstandene Solidarität, die so ziemlich alle Juden, von einigen löblichen Ausnahmen abgesehen, an den Zwergstaat bindet, und kann es empörend finden, dass der Pariser Baron Rothschild die Israel-Spenden der französischen Bevölkerung Frankreichs als eine Steuer einfordert. Der Antisemitismus hat es leicht allerwegen. Die emotionelle Infrastruktur ist da, und das keineswegs nur in Polen oder Ungarn. Der Antisemit “de mystifiziert” den Pionierstaat mit Wohlbehagen. Es fällt ihm ein, dass hinter dieser staatlichen Schöpfung immer schon der Kapitalismus stand in Form der jüdischen Plutokratie: Auf diese letztgenannte geht er nicht ausdrücklich ein, das wäre ein ideologischer *lapsus linguae,* jedoch – *c’est l’or juif!* – niemand wird sich täuschen über die tatsächliche Bestelltheit eines Landes, das aus einer schlechten Idee geboren, am schlechten Orte errichtet, einen oder mehrere schlechte Kriege geführt und Siege erfochten hat.

Missverständnisse sind nach Möglichkeit zu vermeiden. Ich weiß so gut wie irgendwer und jedermann, dass Israel objektiv die unerfreuliche Rolle der Besatzungsmacht trägt. Alles zu justifizieren, was die diversen Regierungen Israels unternehmen, fällt mir nicht ein. Meine persönlichen Beziehungen zu diesem Land, von dem Thomas Mann in der Josefs-Tetralogie gesagt hat, es sei ein “Mittelmeer-Land, nicht gerade heimatlich, etwas staubig und steinig”, sind quasi null: Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht, seine Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd, seine Religion ist nicht die meine. Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen. Und hiermit gelangen wir an den Punkt, wo es ein Ende hat mit jeder berichtenden oder analysierenden Objektivität und wo das Engagement keine freiwillig eingegangene Verbindlichkeit ist, sondern eine Sache der Existenz, das Wort in mancherlei Bedeutung verstanden.

Über Israel, den modischen Anti-Israelismus, den altmodischen, aber stets in jegliche Mode sich wieder einschleichenden Antisemitismus spricht existentiell subjektiv, wer irgendwie “dazugehört” (“Juden, Personen, die im Sinne des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 als Juden gelten”) – und erreicht am Ende vielleicht gerade darum eine Objektivität annähernd naturrechtlichen Charakters. Denn schließlich mündet noch die geistesschlichteste – genauso wie die gründlichste und gescheiteste – Überlegung in die Erkenntnis, dass dieses Pionierland, und mag es hundertmal nach einer sich pervertierenden pseudomarxistischen Theologie im Sündenstande technischer Hochentwicklung sich befinden, unter allen Staaten dieses geopolitischen Raumes das gefährdetste ist. Sieg, Sieg und nochmals Sieg: Es droht die Katastrophe, und ihr weicht man auch nicht aus, indem man direkt in sie hineinrennt und Israel zum Teilgebiet einer palästinensischen Föderation macht.

Die arabischen Staaten, denen ich Glück und Frieden wünsche, werden den israelischen Entwicklungsvorsprung einholen, irgendeinmal. Ihr demographischer Überdruck wird das übrige tun. Es geht unter allen Umständen darum, den Staat Israel zu erhalten, so lange, bis Frieden, wirtschaftlicher und technischer Vorausgang der Araber in einen allgemeinen Gemütszustand versetzen, der ihnen die Anerkennung Israels innerhalb gesicherter Grenzen gestattet. Es geht darum. Wem? Die subjektive Verfassung, die zur geschichtlichen Objektivität werden will, hat hier ihre Dreinrede. Israels Bestand ist unerlässlich für alle Juden (“Juden, Personen, die im Sinne …” und so weiter), wo immer sie wohnen mögen. “Wird man mich zwingen, Johnson hochleben zu lassen? Ich bin bereit dazu”, rief am Vorabend des Sechs-Tage-Krieges der linksradikale französische Publizist und Sartre-Schüler Claude Lanzmann. Der wusste, was er meinte und wollte. Denn jeder Jude ist der “Katastrophen-Jude”, einem katastrophalen Schicksal ausgeliefert, ob er es erfasst oder nicht.

“Lauf, blasser Jude” schreiben die Black-Panther-Männer an die Geschäfte und Häuser jüdischer Händler in Harlem und vergessen leichten Herzens die alte Allianz, die in den USA den Juden an den Neger kettete und die noch der mieseste bürgerlich-jüdische Händler nicht verriet. Wer garantiert, dass nicht einmal eine Regierung in den Vereinigten Staaten zum großen Versöhnungsfest den Juden dem Neger zum Fraß hinwirft? Wer verbürgt den einflussreichen und zum Teil reichen Juden Frankreichs, dass nicht eines Tages das Erbe der Drumont, Maurras, Xavier Vallat zu neuer Virulenz gelangt? Wer steht ein dafür, dass nicht Herrn Strauß, an die Macht gekommen, irgendwas einfällt, worauf dann auch ein gewisser Zeitungs-Tycoon sich hüten würde, weitere schnöde Spenden einer schnöde zur Annahme bereiten israelischen Regierung zu geben? Niemand garantiert nichts. Das ist keine paranoide Phantasie und ist mehr als die menschliche Grundverfassung der Gefahr. Die Vergangenheit, die allerjüngste, brennt.

Und nun wird jeder Freund von der Linken mir sagen, auch ich reihte mich ein in die große Armee derer, die mit sechs Millionen (oder meinetwegen fünfen oder vieren) Ermordeter Meinungserpressung treiben. Das Risiko ist einzugehen: Es ist geringer als das andere, welches die Freunde mir proponieren, wenn sie für die Selbstaufgabe des “zionistischen” Israel plädieren. Die Forderung der praktisch-politischen Vernunft geht dahin, dass die Solidarität einer Linken, die sich nicht preisgeben will (ohne dass sie dabei das unerträgliche Schicksal der arabischen Flüchtlinge ignorieren muss), sich auf Israel zu erstrecken, ja, sich um Israel zu konzentrieren hat. Das Gebot hat für den nichtjüdischen Mann der Linken nicht die gleiche Verbindlichkeit wie für Juden, stehe dieser politisch links, mittwegs, rechts oder nirgendwo. Aus der Linken kann man austreten; das Sosein als Jude entlässt niemand, das wusste schon ein Früh-Antisemit wie Lanz-Liebenfels. Freilich hat die Linke ihre ungeschriebenen moralischen Gesetze, die sie nicht beugen darf. “Wo es Stärkere gibt, immer auf der Seite des Schwächeren”, welch unüberschreitbar wahre Trivialität! Und stärker – wer wagte Widerrede? – das sind die Araber; stärker an Zahl, stärker an Öl, stärker an Dollars, man frage doch bei der Aramco und in Kuwait nach, stärker, ganz gewiss, an Zukunftspotential.

Die Linke aber ganz offensichtlich schaut wie gebannt auf die tapferen palästinensischen Partisanen, die freilich ärmer sind als die Männer Moshe Dayans. Sie sieht nicht, dass trotz Rothschild und einem wohlhabenden amerikanisch-jüdischen Mittelstand der Jude immer noch schlechter dran ist als Frantz Fanons Kolonisierter, sieht das so wenig wie das Phänomen des anti-imperialistischen jüdischen Freiheitskampfes, der gegen England ausgefochten wurde. Am Ende ist es auch nicht die Schuld der Israelis, wenn die Sowjetunion vergaß, was 1948 vor der UNO Gromyko mit schönem Vibrato vorgetragen hat: “Was den jüdischen Staat betrifft, so ist seine Existenz bereits ein Faktum, das gefalle oder nicht (…) Die Delegation der UdSSR kann sich nicht enthalten, ihr Erstaunen über die Einstellung der arabischen Staaten in der palästinensischen Frage auszudrücken. Ganz besonders sind wir überrascht zu sehen, dass diese Staaten oder zumindest einige von ihnen sich entschlossen haben, militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten. Wir können die vitalen Interessen der Völker des Nahen Ostens nicht identifizieren mit den Erklärungen gewisser arabischer Politiker und arabischer Regierungen, deren Zeugen wir jetzt sind.”

So sprach, wie schon gesagt, die Sowjetunion, eine Großmacht, die Großmachtpolitik treibt und die wohl à la longue nicht absehen konnte von dem offenbaren Faktum, dass es mehr Araber gibt als Juden, mehr arabisches Öl als jüdisches, dass militärische Stützpunkte in den arabischen Staaten einen höheren strategischen Wert haben als in Israel. Die Linke im weiteren und weitesten Sinne aber, und ganz besonders die protestierende äußerste Linke, der ich mich auf weiten Stecken verbunden weiß, hat diese Großmacht-Ausflucht nicht. Sie ist, nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, zur Einsicht verpflichtet; zur Einsicht in die tragische Schwäche des jüdischen Staates und jedes einzelnen Juden in der Diaspora, zur Einsicht in das, was hinter den Kulissen eines jüdisch-bürgerlichen Mittelstandes, hinter dem Mythos des Geld- und Gold-Juden (vom Jud Süß bis zu den kontemporären Rothschilds und ein paar jüdischen Hollywood-Größen) sich verbirgt. Die Juden manipulieren zeitweilig Kapitalien: Sie beherrschen sie niemals. Sie haben heute in Wall Street so wenig zu sagen wie einst im wilhelminischen Deutschland in der Schwerindustrie. Der Staat Israel ist heute so wenig ein Bollwerk des Kapitalismus, wie er es war, als die ersten Pioniere dort den Boden umgruben, so wenig wie die arabischen Staaten vernünftigerweise als progressiv angesehen werden können. Die Linke macht, das ist der Jammer, die Augen zu.

Der Zufall spielte mir gerade einen Text von Hans Blüher zu: “Eine wirkliche Geschichte Europas dürfte nicht so geschrieben werden, wie das bisher geschah, dass nämlich ein Jude einmal hie und da anekdotenhaft vorkommt …, vielmehr müsste die Darstellung so sein, dass dauernd die geschichtliche Macht des Judentums als eines latenten und ständig mitspielenden Reiches sichtbar wird.” Der Text könnte wörtlich in einer der zahlreichen pseudointellektuellen arabischen Veröffentlichungen stehen, mit denen die Presse überschwemmt wird. Und von Blüher – aber auch von Streicher, denn allerwegen ebnet der Antisemitismus die intellektuellen Höhenunterschiede ein – könnte stammen, was der Unterrichtsminister des progressiven Staates Syrien an den Generaldirektor der UNESCO schrieb: “Der Hass, den wir unseren Kindern einprägen, ist ein heiliger Hass.” Es wäre das alles kaum der Aufnotierung wert, und der närrische Blüher könnte im Frieden des Vergessens schlafen, hätte nicht die intellektuelle Linke Westeuropas (einschließlich übrigens einiger vom Selbsthass verstümmelter Juden wie Maxim Rodinson) sich dieses Vokabulars bemächtigt und das vom Wortschatz vermittelte Normensystem angenommen. Wenn aus dem geschichtlichen Verhängnis der Juden- beziehungsweise Antisemitenfrage, zu dem durchaus auch die Stiftung des nun einmal bestehenden Staates Israel gehören mag, wiederum die Idee einer jüdischen Schuld konstruiert wird, dann trägt hierfür die Verantwortung eine Linke, die sich selber vergisst. “Der Antizionismus ist ein von Grund auf reaktionäres Phänomen, das von den revolutionären progressistischen antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird”, sagte neulich Robert Misrahi, ein französischer Philosoph, der, gleich dem vorhin zitierten Claude Lanzmann, zur weiteren Sartre-Familie gehört.

Der Augenblick einer Revision und neuen geistigen Selbstbestreitung der Linken ist gekommen; denn sie ist es, die dem Antisemitismus eine ehrlose dialektische Ehrbarkeit zurückgibt. Die Allianz des antisemitischen Spießer-Stammtisches mit den Barrikaden ist wider die Natur, Sünde wider den Geist, um in der vom Thema erzwungenen Terminologie zu bleiben. Leute wie der polnische General Moczar können sich die Umfälschung des kruden Antisemitismus zum aktuellen Anti-Israelismus gestatten: Die Linke muss redlicher sein. Es gibt keinen ehrbaren Antisemitismus. Wie sagte Sartre vor Jahr und Tag in seinen “Überlegungen zur Judenfrage”: “Was der Antisemit wünscht und vorbereitet, ist der Tod des Juden.”

Quellen: Jean Améry-Werkausgabe, 9 Bände, Klett-Cotta, 2002

Erstveröffentlichung in abgewandelter Form im Februar 2010 in Fidelches Cosmos und in der antizionistischen "Freitag-Community" mit 470 überwiegend wütenden und hilflosen  Kommentaren der dortigen "Israelkritiker"

Gleichzeitig veröffentlicht bei Mission Impossible

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