Paul Merker, die DDR und der „wurzellose Kosmopolitismus"

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Nachdem Deutschland fast ganz Europa in Schutt und Asche legte, nach den Blitzkriegen gegen Polen und Frankreich, nach dem ideologischen und rassebiologischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, bei dem nach neuesten Schätzungen 27 Millionen Sowjetbürger ermordet wurden, dabei mehr als die Hälfte hinter der Front und nach der fabrikmäßigen Ermordung von sechs Millionen der europäischen Juden, trafen sich die Alliierten mit ihren Staatschefs Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin im Februar 1945 in Jalta und im Juli/August 1945 in Potsdam um über die Konsequenzen der deutschen Verbrechen und die Neuordnung Europas zu beraten. Die Teilung Deutschlands, verhältnismäßig geringfügige Reparationsleistungen und die sogenannte Entnazifizierung waren der Preis für die deutschen Angriffskriege und die Vernichtung der europäischen Juden.

Im beginnenden Kalten Krieg entwickelten sich die beiden deutschen Staaten, gefangen im jeweiligen Blockdenken, bei wenigen Ausnahmen auf unterschiedlichste Art und Weise. Während in der Bundesrepublik Deutschland eine gewisse Kontinuität eingehalten wurde – Hans Globke und Hans Filbinger standen für viele Karrieren ehemaliger Nationalsozialisten im westlichen Nachkriegsdeutschland - wurde von den Politikern der DDR ein Neuanfang gefordert. So wurden beispielsweise anfangs anstatt nationalsozialistischer Lehrer oder Juristen meist ungelernte Pädagogen oder Juristen in der DDR an die entsprechenden Positionen beordert. Die Verfolgung von Naziverbrechern wurde intensiver und systematischer durchgeführt als in der BRD. Viele Überlebende der Konzentrationslager wollten helfen, den neuen deutschen Staat aufzubauen. Exilanten wie beispielsweise Bertolt Brecht, Arnold Zweig oder Anna Seghers siedelten nach Ostdeutschland, zogen die DDR der BRD vor und erwarben die entsprechende Staatsbürgerschaft. Heinrich Mann wurde 1949 zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt, starb aber kurz vor seiner geplanten Einreise in die DDR. Unter den führenden Politikern in der DDR gab es überdurchschnittlich viele Juden. Vor allem in der Justiz, im Wissenschafts- und Kulturbetrieb sowie im Verlags- und Pressewesen waren jüdische Parteimitglieder stark vertreten. Julius Meyer war beispielshalber Vorstandsmitglied der Berliner Gemeinde und SED-Abgeordneter in der Volkskammer. Alexander Abusch leitete das Ministerium für Kultur der DDR, Hermann Axen war Sekretär des ZK der SED. Wissenschaftler wie beispielsweise Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz, Hans Mayer, Jürgen Kuczynski, Wolfgang Steinitz oder Künstler wie Paul Dessau waren Mitglieder des ZK der SED.

Gescheitert ist die DDR unter anderem wegen ihrer dogmatischen Ideologie, ihrer fehlenden demokratischen Öffentlichkeit, ohne demokratische Willensbildung, ihrer ineffizienten Wirtschaft und nicht zuletzt wegen des systemimmanenten linken Antisemitismus. Die DDR verstand sich als antifaschistischer Staat, Kommunisten waren schließlich die ersten Opfer der nationalsozialistischen Barbarei. Der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, wurde allerdings in der DDR kaum thematisiert. Bereits die Moskauer Exilfraktion der KPD hatte eine unzureichende Sicht auf Juden und Antisemitismus im Nationalsozialismus. Die Erklärungen nach den Novemberpogromen von 1938 blieben eine Ausnahme und nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes wurde die nationalsozialistische Judenverfolgung so gut wie nicht mehr thematisiert. Nach dem Krieg wurde vor allem die Sowjetunion und die sowjetische Bevölkerung als Hauptleidtragende von Hitlers Vernichtungskrieg hervorgehoben. Die Juden als eigene Opfergruppe wurden so gut wie nicht erwähnt. Im Denken der Moskauer KPD Kader spielte der Völkermord an den Juden nur eine marginale Rolle.

In der Mexikanischen Exilgruppe der KPD, mehrheitlich jüdischer Herkunft unter der Leitung des Nichtjuden Paul Merker entwickelte sich bereits während des Zweiten Weltkrieges eine deutlich andere Haltung zur nationalsozialistischen Judenverfolgung. Mexiko war mit rund hundert Exilanten, wie beispielsweise den Literaten und Publizisten Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Anna Seghers, Bodo Uhse, Walter Janka, Bruno Frei, Hilde und Rudolf Neumann und Andrè Simone das wichtigste Exilzentrum der KPD im Westen.

Mit Staatsrechtler Leo Zuckermann, Erich Jungmann und Ludwig Renn entwickelte Paul Merker in Mexiko, die innerhalb der KPD alleinstehende Position zur Bedeutung der Vernichtung der Juden und zur künftigen Politik eines antifaschistischen Deutschlands. Bereits im Oktober 1942 erschien sein Aufsatz „Hitlers Antisemitismus und wir“, worin er seine Anteilnahme für „die durch das Weltpogrom in so furchtbare Bedrängnis geratene jüdische Bevölkerung“ ausdrückte: "Wenn alle deutschen Flüsse Tinte und alle deutschen Wälder Federstiele wären, so würden sie nicht ausreichen, um die unzähligen Verbrechen zu beschreiben, die der Hitlerfaschismus gegen die jüdische Bevölkerung begangen hat.“ In seinem 1944/45 erschienenen zweibändigen Hauptwerk „Deutschland – Sein oder Nichtsein“ über Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus räumt Paul Merker der Rassenideologie und dem Antisemitismus einen zentralen Stellenwert ein. Er schrieb nicht wie ansonsten üblich über die ökonomische Basis, er erkannte den Antisemitismus und die Rassenideologie als den Kern aller nationalsozialistischen Theorie. Zur „Errichtung der totalen Staatsmacht, zur Vorbereitung des totalen Krieges und zur Ausrottung aller Gegner wurden Hundertausenden eingeimpft den Massenmord freudig durchzuführen.“ Paul Merker thematisiert bereits 1944 in seinem Hauptwerk die antisemitische Gesetzgebung im Dritten Reich und die „systematische Vernichtung jüdischer Einwohner“ in den „Todesfabriken.“ Im Gegensatz zur Moskauer Gruppe sprach Merker von einer Mitschuld und Mitverantwortung der deutschen Bevölkerung.

Kurz nach seiner Rückreise aus Mexiko wurde Paul Merker in Abwesenheit vom Gründungsparteitag der SED in das ZK gewählt und leitete mit Helmut Lehmann die Abteilung für Arbeit und Sozialfürsorge. In dieser Funktion setzte er sich für eine Gleichstellung der jüdischen Opfer ein und ließ Berichte über die Lage der Juden in der SBZ erstellen. Innerhalb des VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) setzte sich Merker für ein stärkeres Engagement gegen den Antisemitismus ein, da ihn zahlreiche Beschwerden über antisemitisches Handeln diverser Ämtern erreichten. Vor allem setzte sich Merker mit Julius Meyer, Leon Löwenkopf und Leo Zuckermann innerhalb der SED Führung für ein Wiedergutmachungsgesetz ein. Die Gruppe um Merker und Zuckermann scheiterte jedoch weitgehend mit ihren Vorschlägen. Im Frühjahr 1948 wurden umfangreiche Fürsorgemaßnahmen für VdN (Verfolgter des Naziregimes) beschlossen, wobei politische, religiöse und rassistische Verfolgte formal gleichgestellt wurden. Eine Entschädigung von Vermögenswerten schloss die Verordnung allerdings aus. Arisierte jüdische Vermögenswerte wurden nicht entschädigt. 1965 wurde die formale Gleichstellung aufgehoben und kommunistische Kämpfer erhielten eine VdN Rente von 800 Mark und religiös Verfolgte erhielten 600 Mark.

Wie die Sowjetunion begrüßte auch die SED 1947 den UN Teilungsplan Palästinas und äußerte bis 1950 deutliche Sympathie für den jüdischen Staat. Israel wurde als fortschrittliches Staatswesen betrachtet, das sich gegen die Aggression der von England unterstützten arabischen Feudalherren zur Wehr setzen müsse. Anfang 1948 hatten Zuckermann, Merker und Meyer angesichts der proisraelischen Haltung des Ostblocks versucht Wiedergutmachungszahlungen an Israel ins Gespräch zu bringen. Am 12. März 1952 übergab die israelische Regierung den vier Siegmächten eine Note, in der sie als finanzielle Entschädigung für die von den Nationalsozialisten verübten Verbrechen von der BRD eine und von der DDR eine halbe Milliarde US-Dollar forderte. Die Sowjetunion verwies darauf, dass erst nach einem Friedensvertrag darüber verhandelt werden könne und im Zuge des Slánský Prozesses von 1952 lehnte die DDR dann jede Wiedergutmachung mit der Begründung ab, diese würde allein „israelischen Großkapitalisten“ und zionistischen Monopolkapitalisten“ zu Gute kommen. Spätestens ab 1951 war extremster Antizionismus die oberste Staatsdoktrin aller Ostblockstaaten. Keiner der Ostblockstaaten hat sich dabei mehr hervorgetan als die DDR. Die SED forderte 1967 von allen sozialistischen Ländern ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen. Die ideologischen Affinitäten zwischen den antisemitischen, arabischen Staaten und der DDR speisten sich aus dem gemeinsamen Antiimperialismus. Die DDR verurteilte den Zionismus als "faschistische Ideologie" und belegte ihren Antisemitismus in Reden und diversen Publikationen mit Gleichsetzungen von Israel mit Nazideutschland. Das Bedürfniss die deutsche Schuld zu minimieren, indem man dem Staat der Opfer genau so üble Untaten wie den nationalsozialistischen Tätern zuschreibt, belegt den Schuldabwehrantisemitismus der DDR-Führung. Im "Neuen Deutschland" war von der "Endlösung der Palästinafrage" und von der "zionistischen Agentur des amerikanischen Imperialismus" zu lesen. Zur ideologischen Überzeugung war die Agitation gegen Israel wesentlicher Bestandteil der Strategie, die eigene diplomatische Isolierung zu überwinden. Es wurde bestritten, dass Israel bedroht sei, so wurden alle israelischen Selbstverteidigungsmaßnahmen als unprovozierte Aggressionen verurteilt. So unterstützte die "antifaschistische" DDR viele arabische islamfaschistische Top-Terroristen und Terrorstaaten mit Waffen, Logistik, Unterschlupf oder Geld in ihrem Kampf gegen Israel. Von daher war es auch nicht überraschend als im Jahr 1973 die antisemitische Terrororganisation der PLO offiziell ein Büro in Ostberlin eröffnete.

Der Slánský Prozess, dessen antizionistische Ausrichtung von sowjetischen Sicherheitsorganen angeordnet war, sollte entsprechende Schauprozesse in der DDR und Polen vorbereiten. Die CSSR lieferte unter dem KP Generalsekretär Slánský auf russischen Wunsch Waffen und Munition für Israel. Wegen dieser Waffengeschäfte und eines angeblichen Putschversuches wurde der jüdische Teil der tschechoslowakischen KP-Führung vier Jahre später der prozionistischen Agententätigkeit angeklagt. Am 23. November 1951 wurden Rudolf Slánský und seine überwiegend jüdischen Mitangeklagten des Hochverrats, ganz im Sinne des alten Verschwörungsmythos angeklagt. Die moskauhörige tschechische Presse berichtete unentwegt, dass Slánský eigentlich Rudolf Salzmann hieß, und dass er wie zehn der übrigen Angeklagten jüdischer Abstammung war. Im „Neuen Deutschland“ wird am 30. November 1952 vom großen Prozess gegen den Juden Rudolf Slánský und 13 jüdischen Mitangeklagten berichtet. Geständnisse und Urteile wurden seitenlag dokumentiert. Rudolf Slánský wurde am 3. Dezember 1952 zusammen mit zehn weiteren fast ausschließlich jüdischen Mitangeklagten zum Tod verurteilt und durch Erhängen hingerichtet.

Bereits der vom sowjetischen Sicherheitsdienst initiierte und gesteuerte Rajk-Prozess im September 1949 in Ungarn sollte im ganzen Ostblock eine Säuberungswelle gegen Westreimigranten in Gang setzen. Zur Einschüchterung der Westreimigranten wurde der US-amerikanische KP-Sympathisant Noel Haviland Field ohne jeden Beleg in plumper Art und Weise zu einer Schlüsselfigur des US-Geheimdiestes ernannt. Alle Westimmigranten wurden unter Generalverdacht gestellt und Namenlisten wurden von Personen erstellt, die während ihrer Emigration Kontakt zu Field hatten. Field selbst wurde 1949 in Prag verhaftet und nach Ungarn gebracht. Er wurde 1955, von Einzelhaft und Folter schwer gezeichnet, aus der Haft entlassen, rehabilitiert und finanziell entschädigt. Alle Vorwürfe gegen ihn entbehrten jeder Grundlage. Am 16. September 1949 begann der zwei Wochen dauernde Prozess gegen László Rajk und sieben weitere Angeklagte. Die Anklage lautete auf „Titoismus“ und "Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten." Im Verlauf dieser Schauprozesse lieferten die Beschuldigten ihre auswendig gelernten umfangreichen „Geständnisse“. Rajk und drei andere Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, die übrigen zu lebenslangen und hohen Zuchthausstrafen. In diesem Zusammenhang wurden in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und der DDR Tausende von Parteimitgliedern ausgeschlossen und inhaftiert und viele Hunderte verurteilt.

So wurde auch Paul Merker, der als einziges Mitglied des Politbüros während seines Exils im Westen gelebt hat, am 9. Januar 1950 von Wilhelm Pieck dazu aufgefordert einen lückenlosen Lebenslauf abzugeben. Nachdem im Zuge des Slánský-Prozesses der Angeklagte Bedrich Geminder „gestanden“ hat Paul Merker Spionagematerial übergeben zu haben, wurde dieser am 30. November 1952 verhaftet. Paul Merker wurde vorgeworfen im Dienste des Imperialismus "Propaganda für den Zionismus" begangen zu haben. Das zentrale Parteiorgan „Neue Deutschland“ berichtete am 4. Januar 1953 über weitere des „Zionismus“ angeklagte Genossen, darunter die Namen Leo Zuckermann, Erich Jungmann und Alexander Abusch, alle drei Mexikoemigranten jüdischer Herkunft und agitierte auf der Basis eines Politbüro-Papiers gegen den „Zionistenfreund“ Paul Merker: „Merker fälschte die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern heraus gepressten Maximalprofite der Monopolkapitalisten in angebliches Eigentum des jüdischen Volkes um. In Wirklichkeit sind bei der Arisierung dieses Kapitals nur die Profite jüdischer Monopolkapitalisten in die Hände arischer Monopolkapitalisten übergewechselt.“

Paul Merker wurde in den ersten Monaten nach seiner Verhaftung täglich bis zu zehn Stunden vernommen. Die Vernehmer verlangten er solle sich als Zionist bekennen. Trotz aller Drohungen, Anfang 1953 wurde Merker ständig mit Erschießen bedroht, legte er kein Geständnis ab. Den deutschen und sowjetischen Vernehmern war völlig unverständlich, dass ein Nichtjude sich dermaßen für Juden einsetze wenn er nicht im Sold von jüdischen Organisationen stehe. Merker wurde nicht nur als „Judenknecht“ tituliert ihm wurde unterstellt die „DDR an die Juden zu verschachern“. Der Tod Stalins am 5. März 1953 rettete Paul Merker wohl das Leben. Anfang April 1953 wurden die sowjetischen "Spezialisten" bei den Verhören abgezogen. Nach der Geheimrede Chruschtschows über die unter Stalin begangenen Verbrechen auf dem XX Parteitag der KPdSU wurden die meisten der Inhaftierten der „Säuberungen“ in aller Stille entlassen. Paul Merker forderte nach seiner Entlassung am 27. Januar 1956 die vollständige Rehabilitierung. Walter Ulbricht schrieb ihm am 31. Juli 1956 mit sozialistischem Gruß, die Anschuldigungen gegen ihn waren politische Natur und eine strafrechtliche Verfolgung ist nicht zu rechtfertigen. Obsolet waren die Anschuldigungen, Merkers Ansichten zur jüdischen Frage jedoch nicht. Merker wurde zwar wieder in die SED aufgenommen, bekam aber kein politisches Amt mehr, er arbeitete als Lektor in Berlin und öffentlich rehabilitiert wurde er auch nicht.

In dieser Zeit überprüfte die SED in der DDR darüber hinaus die Akten aller „Genossen jüdischer Abstammung“ und jeder Zehnte von ihnen wird verhaftet. Mehr als ein Viertel der rund 3.500 Gemeindemitglieder flieht allein in den Jahren 1952/53 in den Westen. Durch die Säuberungswelle verlor die DDR in den 1950er Jahren mehr als die Hälfte ihrer staatstreuen jüdischen Bürger. Zugleich wurde tausenden von ehemaligen Nazis und Wehrmachtsoffizieren per Gesetz im Oktober 1952 ihre volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung in der DDR garantiert, wodurch sie wieder im Staatsdienst eingesetzt werden konnten.

Am 17. Juni 1953 entlud sich die Unzufriedenheit in der DDR in einem Volksaufstand. Anlass war die Erhöhung der Arbeitsnormen, die das ZK der SED beschlossen hatte. Der Protest radikalisierte sich in politischen Forderungen nach freien Wahlen und der Öffnung der Gefängnisse. Die Volkspolizei schlug mit der sowjetischen Besatzungsmacht Erhebung nieder. Tausende Demonstranten wurden verhaftet und über 100 Tote waren zu beklagen. Die verbliebenen Juden in der DDR assoziierten mit dem 17. Juni altbekannte Bilder. Nächtliche Demonstrationen, Sachbeschädigungen, Schlägereien, antisemitische Reden, erinnerten an die Zeit vor 1945. Der 17. Juni erinnerte an die „Machtergreifung“, die Bücherverbrennung und die „Kristallnacht.“ Karin Hartewig schreibt dazu in der „Jüdischen Allgemeinen“: „Ernüchtert gingen jüdische Kommunisten auf Distanz zu den Demonstranten. Ausgerechnet die Bauarbeiter der Stalinallee, die Vorzeigeproletarier der prestigeträchtigsten Großbaustelle der Republik, hatten den Streik begonnen und stellten sich mit politischen Forderungen gegen die SED. Die Desillusionierung über die vermeintlich besonders klassenbewussten Helden der Arbeit saß tief. Alexander Abusch, Remigrant und späterer Kulturminister der DDR, befand, dass sich im Akt des Streiks die durch und durch feindliche Haltung der Streikenden offenbare. Die Avantgarde der Arbeiterklasse riss sich für ihn die Maske vom Gesicht, und zum Vorschein kam der Faschist von gestern. (..) An der ideologischen Gegenoffensive der SED, der Sprachregelung vom »faschistischen Putsch« und ihrer Popularisierung in Agitation und Propaganda war auch der Auschwitz-Überlebende Hermann Axen – im ZK der SED verantwortlich für »Agitation und Presse« – maßgeblich beteiligt. Wer die eigene Position politisch und persönlich als extrem gefährdet ansah, setzte auf die sowjetische Besatzungsmacht, die am Ende das Notwendige tat, und flüchtete in den Schutzraum der Partei. Zugleich aber wurde der Volksaufstand für Juden in der DDR zum Prüfstein der Selbstdisziplinierung und schließlich zur Chance politischer Bewährung. Denn nur ein halbes Jahr zuvor waren jüdische Kommunisten allein wegen ihrer Herkunft durch die antizionistischen Säuberungen gegangen. In zermürbenden Parteiverfahren mussten sie den Verdacht entkräften, "Zionisten" und "imperialistische Agenten" zu sein."

Alle Maßnahmen von Staat und Partei mussten innerhalb des ideologischen Systems, der marxistisch-leninistischen Weltsicht begründet und legitimiert werden. Zum „Hauptfeind des deutschen Volkes“ wurde der US-Imperialismus erklärt. Laut SED agiert eine kleine Gruppe von „Weltimperialisten“ und „Dollarkönigen“ um die „Weltherrschaft des Dollarimperialismus“ aufzurichten und die als die wahren Herren von Amerika personifiziert die SED „habgierige Milliardäre“ wie Morgan, Rockefeller, Mellon und Lamont. Neben Personifizierung und Verschwörungstheorie findet sich in der SED Propaganda ständig die strukturell antisemitische Entgegensetzung von Banken, „Finanzhyänen“, „Raubtieren der Wallstreet“ gegen „Volk und Arbeit.“ In ihrem Kampf gegen den „wurzellosen Kosmopolitismus" offenbarte sich zudem die extrem nationalistische Propaganda der DDR. In dieser Kampagne wandte sich die SED gegen die „Schändung und Vernichtung der wahren nationalen Kultur des deutschen Volkes“ durch das „Gift des Kosmopolitismus“ in Form US-amerikanischer Massenkultur. Der Kampf gegen den "wurzellosen Kosmopoliten", „bourgeoise Kosmopoliten“, „Geldmenschen“ oder „vaterlandslose Gesellen“ , war der Kampf der SED gegen die Juden.

Thomas Haury schreibt in seinem Buch „Antisemitismus von Links“: „Die durch die Assimilierung des Antisemitismus an den Marxismus-Leninismus entstandenen Modifikationen machen den spätstalinistischen Antizionismus zu einer prototypischen Form des Antisemitismus nach Auschwitz. Dies zum ersten allein schon deshalb, weil er sich nicht gegen „Judentum“ oder „Juden“, sondern gegen „Zionismus“ und „Zionisten“ zu wenden behauptete und nicht rassisch argumentierte. Diese „Tarnung“ als erstes wichtiges Merkmal war insbesondere für den Kommunismus unverzichtbar, da er sich ja als wesenhafter Gegner des Faschismus verstand und auch von daher jede Assoziation zum Antisemitismus vermeiden musste.“

Die VVN beispielsweise begründete ihre Ablehnung von Wiedergutmachung und Rückerstattung an die Juden mit ihrer "unversöhnlichen Haltung gegenüber jeglicher Neigung, zionistische Großbesitzer und Agenten mit den jüdischen Opfern des Faschismus gleichzustellen.“

Der tschechoslowakische Parteivorsitzende Clemens Gottwald wurde 1952 im "Neuen Deutschland" wie folgt zitiert: „Die zionistischen Organisationen treiben ein schändliches Spiel mit den Leiden, die die Hitler-Faschisten über die Juden gebracht haben. Man kann direkt davon sprechen, dass sie aus der Asche von Auschwitz und Maidanek Kapital schlagen wollen.“ Die Trennung von „guten“ toten Juden und zu verfolgenden Zionisten und die klassische antisemitische Unterstellung Zionisten versuchen selbst aus toten Juden, „Kapital zu schlagen“ sind bis heute bei linken Antisemiten oftmals anzutreffende Ansichten.

Die DDR musste die von Moskau vorgegebene antizionistische Ausrichtung der Säuberungen mitvollziehen. Die mit antisemitischen Stereotypen verknüpfte Ablehnung der Wiedergutmachung an Israel und Juden wie auch die Tendenzen der Entlastung des "Deutschen Volkes" waren ein Hauptbestandteil der antizionistischen Propaganda der DDR. Bereits 1953 hatte das ZK jedem Parteigenossen klargemacht, dass ein Eintreten für Wiedergutmachung eine nicht tolerierbare parteiwidrige Auffassung darstellt. Stalins Tod änderte nichts an dieser "antifaschistischen" Haltung. Bis kurz vor ihrem Ende lehnte die sich antifaschistisch legitimierende SED Wiedergutmachung oder Rückerstattung ab.

Paul Merker wurde nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1957 in einem Schauprozess gegen Walter Janka gezwungen gegen diesen auszusagen. Merker weinte, wie Walter Janka später berichtete, wie ein hilfloses Kind und musste von einem Justizbeamten gestützt aus dem Gericht geführt werden. Paul Merker starb am 13. Mai 1969. Die DDR-Regierung zeichnete ihn im selben Jahr postum mit dem "Vaterländischen Verdienstorden in Gold" aus.

Quellen: Karin Hartewig, Zurückgekehrt - Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, 2000 | Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, 2002 | Wolfgang Kießling, Partner im "Narrenparadies" - Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker, 1994 | Walter Janka, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, 1989

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