Thomas Bernhard und das künstlerische Abendessen in Wien

Foto Manfred Breitenberger

Der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard war einer der bedeutendsten  Autoren des letzten Jahrhunderts und neben Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt einer der meistgespielten Dramatiker im deutschsprachigen Raum. Seine Bücher wurden in über zwanzig Sprachen übersetzt und im Suhrkamp-Verlag wurde vor wenigen Jahren der letzte Band der auf 22 Bände angelegten Werkausgabe herausgegeben. "Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt!" rief Thomas Bernhard 1968 bei seiner Preisverleihung dem österreichischen Unterrichtsminister nach, als dieser wütend den Saal verließ. So ist das Werk Bernhards durchzogen vom Tod und von seiner ihn prägenden Lungenerkrankung. Seine Romane und Erzählungen sind ausgearbeitet mit seitenlangen oft kompliziert verschachtelten Sätzen und vor allem mit Übertreibungen. Sein wichtigstes Stilmittel ist die Wiederholung und der Einschub dieser Wiederholung mit der Dehnung eines Adjektivs zum Superlativ. Bernhards Werke gleichen leidenschaftlichen musikalischen Kompositionen, die stets mit einer gewaltigen Ladung Humor versehen sind. Thomas Bernhard kritisierte in seinen Büchern den Staat, seine Institutionen, die Religion, die kleinbürgerliche Spießbürgerlichkeit und nicht zuletzt die dekadente, pseudointellektuelle Kulturszene (Holzfällen). Die Protagonisten seiner Texte streben oftmals nach der allerhöchsten Perfektion und sie scheitern immer an eben dieser allerhöchsten Perfektion. (Das Kalkwerk) Somit war Thomas Bernhard einer der wirkungsmächtigsten Ideologiekritiker des 20. Jahrhunderts und deshalb lösten Bernhards Texte naturgemäß und regelmäßig heftige Skandale aus. Seine Widersacher kamen aus allen politischen Lagern, so bezeichnete der österreichische Kabarettist Werner Schneyder Thomas Bernhard als "Wegbereiter" Jörg Haiders, weil so Schneider, Bernhard "den Faschismus im Denken und in der Disqualifizierung salonfähig gemacht hat" und die "Totalität in die Sprache wieder eingeführt" hat, "die Österreicher", "die Katholiken", "die Frauen", "die Traunsteiner", "die Salzburger", "die Schule" und so fort. Österreichische Zeitungen, allen voran die Kronen-Zeitung und diverse Politiker forderten mehrmals Aufführungsverbote der Stücke des "Alpen-Beckett" und den Entzug der österreichischen Staatsbürgerschaft sowie die Ausbürgerung des "Unterganghofer".

Geboren wurde Thomas Bernhard am 9. Februar 1931 in Heerlen/Niederlande als Sohn von Herta Bernhard (1904-1950) und Alois Zuckerstätter (1905-1940). Seinen Vater, dem Thomas zu allem Unglück auch noch wie aus dem Gesicht geschnitten glich, sollte Bernhard nie kennenlernen. Das uneheliche Kind wuchs bis zu seinem siebten Lebensjahr vor allem bei den Großeltern, bei seinem geliebten Großvater Johannes Freumbichler, einem nicht unbedingt erfolgsverwöhnten Schriftsteller auf. Seine Mutter heiratet 1936 den Wiener Friseurgesellen Emil Fabjan, mit ihm und ihrem Sohn übersiedelte sie 1937 ins oberbayerische Traunstein, wo die Mutter zwei weitere Kinder, zwei Halbgeschwister Bernhards bekam. Wenige Kilometer von der Wohnung am Taubenmarkt entfernt lebte der Großvater Johannes Freumbichler auf einer Anhöhe in Ettendorf. Der leibliche Vater stritt die Vaterschaft ab und zahlte keine Alimente. Wegen der Schande musste das Kind selbst zum Traunsteiner Sozialamt um die staatliche Unterstützung abzuholen.

Die Mutter lehnte ihr ungewolltes Kind ab, immer wieder hört Bernhard „du bist so ein Nichtsnutz wie dein Vater!" oder "du Unruhestifter!“ oder „du hast mir gerade noch gefehlt.“ Die Mutter schlägt ihn mit dem Ochsenziemer und Thomas wird zum Bettnässer und die Mutter hängt die die Bettlaken mit dem großen gelben Fleck aus dem Fenster, "damit alle sehen was du bist." (Ein Kind) 1942 wird Thomas Bernhard in ein nationalsozialistisches Heim für schwererziehbare Kinder ins thüringische Saalfeld geschickt und 1943 wird er im NS-Internat „Johanneum“ in Salzburg untergebracht. Das Internat wird von dem SA Offizier Grünkranz geleitet, der die Schüler mit seinen Parolen und Methoden auf das NS-Regime einschwört. Grünkranz wird nach dem Krieg von „Onkel Franz“ dem Inbegriff des Katholiken abgelöst und es wird im Internat nicht viel geändert, "Onkel Franz" schlägt die Kinder genauso grundlos wie zuvor der Offizier Grünkranz, nur das Hitlerbild im Klassenzimmer wird durch das Kreuz ersetzt. Die Auswirkungen des Übergangs waren für das Kind fast ununterscheidbar, beide, "Grünkranz" und "Onkel Franz", der Salzburger Stadtpfarrer Franz Wesenauser waren "Vernichter der Individualität des Einzelnen" und nur aus Liebe zum Großvater habe sich Bernhard in seiner Kindheit nicht umgebracht. (Die Ursache) Sein geliebter Großvater setzte sich für die künstlerische Ausbildung des Enkels ein und Bernhard sieht die Welt mit den Augen des Großvaters. Dieser sieht von Ettendorf, "von wo man an manchen Tagen, bei einem gewissen Ostwind, die Glocken von Moskau hören kann", hinunter auf die „Niederungen des Kleinbürgertums“, dort wo „der Katholizismus sein Zepter schwang. Was unterhalb Ettendorf lag, war nur der Verachtung wert. Der kleine Geschäftsgeist, der Kleingeist überhaupt, die Gemeinheit und die Dummheit. Blöd wie die Schafe scharen sich die Kleinkrämer um die Kirche und blöken sich tagaus, tagein zu Tode. Nichts sei ekelerregender als die Kleinstadt, und genau die Sorte wie Traunstein sei die abscheulichste. Ein paar Schritte in diese Stadt hinein, und man sei schon beschmutzt, ein paar Wörter mit einem ihrer Einwohner gesprochen, und man müsse erbrechen“ (Ein Kind).

Die Familie zieht nach dem Krieg nach Salzburg, dort bricht Bernhard das Gymnasium ab und macht eine Lehre als Einzelhandelskaufmann in einem Kolonialwarenladen, der im Keller gelegenen ist (Der Keller). 1949 erleidet er eine tuberkulöse Rippenfellentzündung kommt bewusstlos in das Sanatorium nach Großgmain und es geht ihm so dramatisch schlecht, dass er ins Sterbezimmer geschoben wird. In dem Badezimmer warten die Todeskandidaten auf die letzte Ölung, die auch Bernhard erhält. Neben ihm stirbt ein Mensch, er hört seinen letzten Atemzug. „Ich wollte leben, alles andere bedeutete nichts. Leben, und zwar mein Leben, wie und solange ich es will. Das war kein Schwur, das hatte sich der, der schon aufgegeben gewesen war, in dem Augenblick in welchem der andere vor ihm zu atmen aufgehört hatte, vorgenommen. Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden“ (Der Atem). Bernhard beschloss zu leben, er glaubte mit 18 ein Recht dazu zu haben und er überlebte. Thomas Bernhard beginnt intensiv zu lesen,  unter anderem Montaigne und Schopenhauer und zu schreiben.

Im Sommer erscheinen erste kurze Erzählungen unter Pseudonym in einer Salzburger Zeitung, er wird freier Mitarbeiter der sozialistischen Tageszeitung "Demokratisches Volksblatt", 1954 soll Bernhard deshalb in die SPÖ eintreten, bereut dies am nächsten Tag und tritt sofort wieder aus. 1950 begegnet er Hedwig Stavianicek in der Lungenheilanstalt  St. Veit, die 35 Jahre ältere Frau wird sein "Lebensmensch", sie fördert Bernhard bis zu ihrem Tod 1984. Ihren Tod verarbeitete Bernhard in dem Roman "Alte Meister" und in "Wittgensteins Neffe" setzt er ihr ein Denkmal. Am Anfang von „Wittgensteins Neffe“ kämpft der Autor im Krankenhaus gegen seine furchtbare Lungenkrankheit und zeitgleich Israel während des Sechstagekrieges 1967 ums Überleben. Ob Bernhard die Gleichsetzung von Israels Verteidigungskrieg gegen feindliche arabische Staaten mit seiner lebensgefährlichen Krankheit intendiert hat, bleibt ein Thema für die Literaturwissenschaft. Durch Hedwig Stavianicek lernte er jedenfalls die Wiener Künstlerszene und das Künstlerehepaar Gerhard und Maja Lampersberg kennen. Mit dem Roman Frost, der 1963 erscheint gelang Bernhard der literarische Durchbruch und 1968 erhält er den kleinen Österreichischen Staatspreis, seine Dankrede führt, wie erwähnt, zum ersten Eklat. 1970 bekommt Bernhard den angesehenen Georg-Büchner-Preis und Thomas Bernhard wird zu einem der gefragtesten Schriftsteller Österreichs. In Ohlsdorf bei Gmunden erwirbt er 1965 ein verfallenes Bauerngehöft aus dem 14. Jahrhundert, das er in 10jähriger Arbeit zu einem stattlichen Landsitz ausbaut. Wenn er nicht in Wien bei Hedwig Stavianicek lebt, der "Krucka" oder dem Quirchtenhaus in Ottnang oder auf Reisen ist, verbringt Bernhard seine Zeit auf seinem Vierkanthof. Er lässt den Kuhstall renovieren, ihn mit funktionierenden Tränkebecken ausstatten obwohl er nie vorhat sich auch nur eine Kuh zuzulegen. Um sich den Einheimischen anzupassen fährt Thomas Bernhard häufig mit seinem Traktor und der ortsüblichen Kleidung durch das Dorf und von 1974 bis 1987 war Bernhard Mitglied des Österreichischen Bauernbundes, einer Teilorganisation der ÖVP.

Gut drei Monate nach dem Skandal um den "Heldenplatz" stirbt Thomas Bernhard in Gmunden bei seinem Arzt und Bruder Peter Fabjan um sieben Uhr am 12. Februar 1989. Sein Atem war ein Leben lang schwer, nun die akute Atemnot, vielfache Todesnähe und dazu Morbus Boeck. Zwei Tage zuvor, am 10. Februar 1989 im Wissen des baldigen Todes unterzeichnete Bernhard in Salzburg sein Testament: „Weder aus den von mir selbst bei Lebzeiten veröffentlichten noch aus dem nach meinem Tod gleich wo immer noch vorhandenen Nachlass darf auf die Dauer des gesetzlichen Urheberrechts innerhalb der Grenzen des österreichischen Staates, wie immer dieser Staat sich kennzeichnet, etwas in welcher Form immer von mir verfasstes Geschriebenes aufgeführt, gedruckt oder auch nur vorgetragen werden. Ausdrücklich betone ich, dass ich mit dem österreichischen Staat nichts zu tun haben will und ich verwahre mich nicht nur gegen jede Einmischung, sondern auch gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und meine Arbeit betreffend in aller Zukunft. Nach meinem Tod darf aus meinem eventuell gleich wo noch vorhandenen literarischen Nachlass, worunter auch Briefe und Zettel zu verstehen sind, kein Wort mehr veröffentlicht werden“

Der Schlüsselroman, das Meisterwerk von Thomas Bernhard ist zweifellos sein Roman "Holzfällen" aus dem Jahr 1984, Marcel Reich-Ranicki nahm "Holzfällen" in den "Kanon" der Weltliteratur auf. Wie das Orchesterstück Boléro von Ravel steigert sich "Holzfällen" langsam bedächtig bis hin zu einer fulminanten Erregung. Um den Roman zu verstehen ist die Vorgeschichte um den Roman sehr hilfreich: Gerhard Lampersberg (1928-2002) war ein österreichischer Komponist, in der Tradition Anton Weberns und Mäzen der österreichischen Kunstszene. Mit seiner Frau Maja beherbergte Lampersberg auf dem weitläufigen Tonhof bei Maria Saal in Kärnten zahlreiche Künstler, vor allem Schriftsteller. So lebte neben H. C. Artmann,  Peter Turrini, Peter Handke eben auch Thomas Bernhard in der Künstler-Sommerresidenz, dem Tonhof. In den Wintermonaten verlagerte sich die Künstler-Avantgarde nach Wien in die Privaträume der Eheleute Lampersberg in der Gumpendorfer Straße. Zwischen 1957 und 1960 wohnte Thomas Bernhard mehr oder weniger bei den Lampersbergerischen, 1960 jedoch kam es zum Streit, die Dreiecksbeziehung, zwei Männer eine Frau, sexuelle und künstlerische Meinungsverschiedenheiten dürften ausschlaggebend gewesen sein und Thomas Bernhard wurde des Hauses verwiesen. Nach über zwanzig Jahren, am Todestag, dem Selbstmord der gemeinsamen, von Thomas Bernhard geliebten Freundin Joana Thul, eigentlich Elfriede Slukal trafen die Eheleute Lampersberg Thomas Bernhard in Wien und laden ihn, wie zu früheren Zeiten, zu einem "künstlerischen Abendessen" mit den alten Freunden in die Gumpendorfer Straße ein, er nimmt an und bereut sofort seine Zusage. Über dieses real stattfindende künstlerische Abendessen verfasst Bernhard seinen Roman „Holzfällen“. Den Gerhard Lampersberg nennt Bernhard den „Auersberg“, seine Frau die Maja die „Auersbergerische“, Walther Reyer ist der Burgschauspieler, Bernhards ehemalige Freundin die Dichterin Jeannie Ebner die Jeannie Billroth und Friederike Mayröcker wird die Anna Schreker, ihr Freund der „dichtende Lebensgefährte“ Ernst Jandl.

Am 2. März 1984 trifft sich Thomas Bernhard mit Siegfried Unseld vom Suhrkamp-Verlag in Wien im  Restaurant "Zum weißen Rauchfangkehrer" und eröffnet ihm an einem neuen Roman über eine dekadente Abendgesellschaft zu arbeiten, der fast fertige Roman werde "Holzfällen" heißen. Die ersten Rezensionsexpemplare werden verschickt, am 8. August geht ein ungebundenes Exemplar an den Presse Redakteur, den österreichischen Literaturkritiker Hans Haider. Dieser erkennt sofort in den Romanfiguren, die Eheleute Lampersberg, Jeannie Ebner sowie alle anderen und fährt am 15. August in einem "Akt der Barmherzigkeit" nach Maria Saal und informiert zuerst Maja, um zu beraten wie vorzugehen sei. "Beppo" Lampersberg war schwerer Alkoholiker, erst aus der Nervenheilanstalt entlassen und wie aus "Holzfällen" zu entnehmen im Geheimen homosexuell, er wurde kurze Zeit später eingeweiht.

Am 21. August 1984 reicht Gerhard  Lampersberg eine Klage gegen Dr. Gottfried Berger ein, den Inhaber der Firma Mohr, die den Alleinvertrieb für Suhrkamp in Österreich innehat und beantragt eine einstweilige Verfügung, die Auslieferung des Romans "Holzfällen" bis zur Erledigung des Rechtstreits zu unterlassen. Am 27. August erlässt das Landgericht die einstweilige Verfügung und am selben Tag bringt Lampersberg einen Strafantrag mit einer Ehrenbeleidigungsklage gegen Thomas Bernhard und dem Suhrkamp Verlag beim Landgericht in Wien ein. Am 29. August gibt die Richterin Dr. Margot Klatt diesem Antrag statt und ordnet mit Berufung auf § 36 Mediengesetz die Beschlagnahme von "Holzfällen" an. Einen Tag vor der Beschlagnahme spricht Thomas Bernhard in einem Interview mit Krista Fleischmann von "Gift", das er in "offene Wunden gespritzt" hat, er fühlt sich noch sicher, unangreifbar im Reich der Kunst: "Jeder kann sagen, schreiben, tun, was er will, eine völlig freie Welt." Weil bei der Firma Mohr bereits alle über 2000 Bücher ausgeliefert wurden,  müssen bewaffnete Polizisten in Österreich unzählige Buchhandlungen aufsuchen und oftmals gegen den Unwillen der Buchhändler den Roman "Holzfällen" aus den Regalen und aus den Auslagen holen und beschlagnahmen. Während Siegfried Unseld im ORF auftritt werden die deutschen Buchhandlungen im Grenzgebiert "gestürmt" und von Suhrkamp verstärkt beliefert. Thomas Bernhard erklärt öffentlich, bevor er nach Portugal flieht: "Die Beschlagnahme meines "Holzfällen", durch den österreichischen Staatsapparat, kann ich nur als Ungeheuerlichkeit bezeichnen, die tatsächlich in der Nachkriegsgeschichte dieses Landes beispiellos ist und mir größten Schaden zufügt". Das internationale Interesse an "Holzfällen" wird so groß, dass Auslandsverlage aus Italien, Frankreich, Schweden und den Niederlanden die Vergabe von Auslandsrechten anbieten. Am 9. November kommt es zur Hauptverhandlung gegen Thomas Bernhard bei der wiederum die Richterin Dr. Margot Klatt den Vorsitz hat. Der Beschlagnahmebeschluss wird gerechtfertigt, die Hauptverhandlung aber auf einen späteren Termin verschoben. Auf Wunsch von Thomas Bernhard kündigt Suhrkamp nun an bis auf weiteres keine Bücher von Thomas Bernhard nach Österreich auszuliefern, was gleichzeitig nicht nur den Unmut der österreichischen Buchhändler hervorruft. In der FAZ nimmt Bernhard Stellung, vor allem gegen den österreichischen Staat: "Der Autor hat gesehen, wie seine Bücher unter Polizeigewalt aus den Buchhandlungen entfernt worden sind, und ist völlig wehrlos. (..) In keinem Land Europas, die Ostdiktaturen ausgenommen, wäre, das weiß ich, eine solche Vorgehensweise möglich." Dieser Artikel führt zu einem weiteren Strafantrag wegen übler Nachrede von Lampersberg gegen Bernhard, weil in dem Artikel steht, Lampersberg sei in den letzten Jahrzehnten immer wieder "jedenfalls teilentmündigt" gewesen. "Wie wahr darf Kunst sein?" titelte später wiederum die FAZ. Am 21. Dezember kommt es schließlich zur Aufhebung der Beschlagnehme von "Holzfällen", denn auf Vermittlung von Friederike Mayröcker und Ernst Jandl entschloss sich Gerhard Lampersberg am 6. Februar 1985 alle Strafanträge gegen Thomas Bernhard zurückzuziehen und in einem Interview sagte darauf der „Webern Nachfolger“: „Er ist ein total einsamer Mensch, fast wie ein ausgestoßener Mensch. Seine Reaktion, alles, was er schreibt, ist die eines Ausgestoßenen. Ich bin das Gegenteil. Ich bin mittendrin. (…) Ich find’ das wahnsinnig komisch, in Wirklichkeit muss ich eh nur lachen.“

Der Roman "Holzfällen" schildert den Verlauf einer dekadenten pseudointellektuellen Abendgesellschaft bei dem Künstlerehepaar Auersberger. Von seinem „Ohrensessel“ aus beobachtet der Ich-Erzähler zunächst aus dem Hintergrund die Vorgänge um sich herum, ehe mit dem Eintreffen des Ehrengastes, eines berühmten Burgschauspielers, nach der Aufführung der Wildente, das eigentliche „künstlerische Abendessen“ beginnt. Die Handlung ist bereits auf der ersten Seite umrissen:

"Während alle auf den Schauspieler warteten, der ihnen versprochen hatte, nach der Aufführung der Wildente gegen halbzwölf zu ihrem Abendessen in die Gentzgasse zu kommen, beobachtete ich die Eheleute Auersberger genau von jenem Ohrensessel aus, in welchem ich in den frühen Fünfzigerjahren beinahe täglich gesessen war und dachte, dass es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Auersberger anzunehmen. Zwanzig Jahre hatte ich die Auersberger nicht mehr gesehen und ausgerechnet am Todestag unserer gemeinsamen Freundin Joana habe ich sie auf dem Graben getroffen und ohne Umschweife habe ich ihre Einladung zu ihrem künstlerischen Abendessen, so die auersbergerischen Eheleute über ihr Nachtmahl, angenommen. Zwanzig Jahre habe ich von den Eheleuten Auersberger nichts mehr wissen wollen und zwanzig Jahre habe ich die Eheleute Auersberger nicht mehr gesehen und in diesen zwanzig Jahren hatten mir die Eheleute Auersberger allein bei Nennung ihres Namens durch Dritte Übelkeit verursacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, und jetzt konfrontieren mich die Eheleute Auersberger mit ihren und mit meinen Fünfzigerjahren" (Seite 1)

Über die Seiten reflektiert der Ich-Erzähler selbstkritisch sein ambivalentes Verhalten gegenüber den einstigen Freunden, welchen er immerhin einiges verdankt und sinniert über die Joana: Die Tatsache wie "die Joana an einen "solchen verkommenen Menschen geraten ist" hat ihn erschüttert, "wie er Kartoffelsalat gesagt hat zur Kellnerin in der Eisernen Hand", hatte ihm beinahe Übelkeit verursacht, dachte er auf dem Ohrensessel. Den plötzlichen Umschlag von Zuneigung in Hass, der inzwischen eingetreten ist, begründet er mit der Enttäuschung über den nicht eingelösten Anspruch der allerhöchsten Perfektion, aber auch mit der Einsicht, sich aus der Abhängigkeit von einst geliebten Menschen zu retten, etwa von der im schwarzen selbstgestrickten Wollkleid in der Gentzgasse erschienenen Schriftstellerin Jeannie Billroth, die ihn ansonsten „verschlungen“ hätte:

"Die Auersbergerischen meinten aufeinmal, dass sie nurmehr noch eine Viertelstunde warten würden mit dem Abendessen, höchstens bis halbeins, so die Auersberger zur feist und fett und hässlich gewordenen Schriftstellerin Jeannie Billroth, mit welcher sie sich schon eine Zeitlang unterhielt, naturgemäß über die Joana, mit welcher die Schriftstellerin Jeannie Billroth, die sich immer als die Virginia Woolf von Wien vorgekommen ist, während sie es doch höchstens bis zu einer sentimentalen geschraubten Schwätzerin und ganz üblen Kitschproduzentin auf dem Papier gebracht hat in ihren Romanen und Erzählungen. Die in einem schwarzen selbstgestrickten Wollkleid in der Gentzgasse erschienene Schriftstellerin Jeannie Billroth war auch eine Freundin der Joana, wohnte im Zweiten Wiener Gemeindebezirk ganz in der Nähe der Praterhauptallee und existierte tatsächlich schon jahrzehntelang in der Einbildung, die größte Schriftstellerin, ja Dichterin Österreichs zu sein, auch an diesem Abend, besser, in dieser Nacht in der Gentzgasse, hatte sie nicht einen Augenblick gezögert, der Auersberger zu versichern, dass sie in ihrem letzten Roman einen Schritt weitergegangen sei als die Virginia Woolf, was ich hörte, weil ich so gute Ohren habe, vornehmlich in der Nacht, ihr Buch übertreffe bei weitem Virginia Woolfs Wellen, meinte sie und zündete sich eine Zigarette an und kreuzte die Beine." (Seite 35)

Mittlerweile ist es weit nach Mitternacht, der Erzähler sitzt der Jeanie Billroth gegenüber und denkt dass dieses künstlerische Abendessen auf einmal tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes durch den Burgschauspieler zu einem künstlerischen Nachtmahl geworden ist:

"Um dreiviertelein Uhr in der Nacht Kartoffelsuppe auftragen zu lassen und einen gekochten Fogosch anzukündigen, ist schon eine Perversität, zu welcher allein die auersbergerischen Eheleute fähig sind, sagte ich mir, der Jeannie gegenüber sitzend, die ihre Suppe wie immer auf ihre Weise gegessen hat, mit dem bei jeder Mahlzeit immer wenigstens um einen Zentimeter zu weit abstehenden kleinen Finger ihrer rechten Hand. Einen Fogosch um dreiviertelein Uhr nachts wegen eines Burgschauspielers, in dessen Barthaaren sich jetzt, da er seine Kartoffelsuppe mit der größten Geschwindigkeit, also wie ausgehungert, halb ausgelöffelt hatte, diese Kartoffelsuppe verfangen hatte. Der Ekdal, sagte er und löffelte die Suppe, der Ekdal ist schon jahrzehntelang meine Wunschrolle gewesen, und er sagte, wieder Suppe löffelnd, und zwar alle zwei Wörter einen Löffel Suppe nehmend, also er sagte der Ekdal und löffelte Suppe und sagte war schon und löffelte Suppe und immer meine und löffelte Suppe und sagte Lieblingsrolle gewesen und löffelte Suppe und er hatte auch noch zwischen zwei Suppenlöffeln seit Jahr- und dann wieder nach zwei Suppenlöffeln zehnten gesagt und das Wort Wunschrolle genauso, als redete er von einer Mehlspeise, denke ich. Mehrere Male sagte er der Ekdal ist meine Lieblingsrolle, und ich fragte mich sofort, ob er auch dann immer wieder von dem Ekdal als seiner Lieblingsrolle gesprochen hätte, wenn er keinerlei Erfolg mit seinem Ekdal gehabt hätte. Hat ein Schauspieler in einer Rolle Erfolg, sagt er, es sei seine Lieblingsrolle, hat er mit seiner Rolle keinen Erfolg, sagt er nicht, dass es seine Lieblingsrolle ist, dachte ich. Immer wieder löffelte der Burgschauspieler die Kartoffelsuppe und sagte, der Ekdal sei seine Lieblingsrolle. Als ob nur er etwas zu sagen hätte, sagten alle anderen lange Zeit nichts, löffelten ihre Suppe und starrten den Burgschauspieler an. Löffelte der Burgschauspieler seine Suppe schnell, löffelten auch sie ihre Suppe schnell, löffelte er sie langsamer, löffelten auch sie sie langsamer und wie er aufgehört hatte, seine Suppe auszulöffeln, hatten auch sie ihre Suppe ausgelöffelt. Sie waren längst mit dem Suppenauslöffeln fertig, da hatte ich noch den halben Teller voll Suppe. Sie schmeckte mir übrigens nicht und ich ließ sie stehen." (Seite 110-111)

Der Burgschauspieler war ein alter, müde gewordener Mann, der ein paar Stunden vorher noch als Ekdal auf der Bühne des Akademietheaters gestanden ist, er also Schonung verdient gehabt hätte, nicht aber für die Jeanie Billroth:

"Glauben Sie, dass Sie an Ihrem Lebensende Erfüllung in Ihrer Kunstgefunden haben? fragte die Jeannie ein zweites Mal, so, als glaubte sie, der Burgschauspieler habe sie, als sie das erste Mal dieselbe Frage gestellt hat, nicht gehört, obwohl der Burgschauspieler selbstverständlich gehört hat, was die Jeannie gefragt hatte, ihre Unverschämtheit, Rücksichtslosigkeit war ihm naturgemäß nicht entgangen, sie hatte ja schließlich dreimal die Frage an ihn gerichtet. Können Sie sagen, dass Sie an Ihrem Lebensende von Ihrer Kunst erfüllt gewesen sind?, dreimal ist dem Burgschauspieler ihre Unverschämtheit nicht entgangen, wie ich sofort gesehen habe, er dachte aber, die Jeannie, die der Burgschauspieler ja nur auf die oberflächlichste Weise kannte und die sich ihm gegenüber also überhaupt nichts, also schon gar keine solche Unverschämtheit hätte herausnehmen dürfen, würde ihn in Ruhe lassen, worin der Burgschauspieler sich aber gründlich getäuscht hatte; die Jeannie Billroth gab im Gegenteil keine Ruhe und fragte noch mehrere Male, ob der Burgschauspieler an seinem Lebensende sagen könne, dass seine Kunst für ihn Erfüllung gewesen sei, auf ihre schamlose Art und Weise insistierte sie und hatte nicht eher mit ihrem rücksichtslosen Fragen aufgehört, bis der Burgschauspieler dann endlich doch auf ihre Frage eingegangen ist, darauf eingehen hatte müssen, und es war doch merkwürdig, dass dieser mir im Grunde durch und durch widerwärtige Mensch, den ich die ganze Zeit doch mit nichts anderem, als mit der größten Abscheu betrachtet und beobachtet habe, ihr aufeinmal tatsächlich die entsprechende Antwort gegeben hat, indem er nämlich sagte, dass es mehr oder weniger eine Unerhörtheit sei, ihm eine so dumme Frage zu stellen, denn Ihre Frage ist ganz einfach nichts als dumm und dass sie, die Jeannie Billroth, doch nicht erwarten könne, auf ihre dumme Frage eine intelligente Antwort zu bekommen, auf ihre unverschämte Frage, wie der Burgschauspieler sagte, ich glaube, Sie haben sich doch im Ton vergriffen, sagte der Burgschauspieler nur und war gerade im Begriff, aufzustehen, so, als wolle er jetzt auf einmal ohne weitere Umstände die Gentzgassenwohnung der Auersbergerischen verlassen, weil ihm die Fragerei und also die Unverschämtheit der Jeannie zu viel geworden war; aber als er die Auersberger mit dem Kaffee hereinkommen sah, setzte er sich wieder in seinen Fauteuil und sagte gleichzeitig, dass er es nicht notwendig habe, auf derartige dumme Fragen zu antworten, derartige Geschmacklosigkeiten als Fragen, sagte der Burgschauspieler wörtlich zu der jetzt tatsächlich verblüfften Jeannie, müssten selbstverständlich ohne seine Antwort auskommen." (Seite 181-182)

Durch die Taktlosigkeit Jeannie Billroths provoziert, wird der Burgschauspieler nun kurzzeitig zum Philosophen. Wie in seiner aktuellen Bühnenrolle als alter Ekdal sehnt er sich nach dem Aufgehen im naturhaften Organismus des Waldes, um dem ihn umgebenden „Wahnsinn der Künstlichkeit“ zu entfliehen. Wie zuvor der Ich-Erzähler, die „künstlichen“ Gäste aus der Stadt der Natürlichkeit der Dorfbewohner, dem verlorenen Gegenbild der Joana aus Kilb in Niederösterreich gegenüberstellte, macht das nun auch überraschend der Burgschauspieler:

"Denn wir alle sind in der Künstlichkeit aufgewachsen, in dem heillosen Wahnsinn der Künstlichkeit, nicht nur ich, der ich zeitlebens darunter gelitten habe, sagte der Burgschauspieler aufeinmal, alle hier, sagte er, und er drehte sich nach der Jeannie um und sagte zu ihr, auch Sie, meine Liebe, die Sie mich mit Ihrem Hass verfolgen und mich verachten. Er wendete sich zuerst, ohne zu mir etwas zu sagen, mir zu, dann dem Auersberger und sagte zu dem total besoffenen, im Fauteuil eingeschlafenen Auersberger, dass es überhaupt ein Unglück sei, geboren zu sein, aber als ein solcher Mensch, wie der Herr Auersberg geboren worden zu sein, sei das größte. In die Natur hineingehen und in dieser Natur ein- und ausatmen und in dieser Natur nichts als tatsächlich und für immer Zuhause zu sein, das empfände er als das höchste Glück. In den Waldgehen, tief in den Wald hinein, sagte der Burgschauspieler, sich gänzlich dem Wald überlassen, das ist es immer gewesen, der Gedanke, nichts anderes, als selbst Natur zu sein. Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen, sagte er plötzlich aufgebracht und wollte endgültig gehen. Obwohl alle viel getrunken hatten, war am Ende doch, wie vor dreißig und wie vor fünfundzwanzig und vor zwanzig Jahren, nur der Auersberger total betrunken gewesen, er hatte, in seinem Fauteuil vollkommen eingesunken, gar nicht mehr wahrgenommen, dass alle Gäste aufgestanden waren, um zu gehen. Während ich selbst aufgestanden bin, hatte ich gedacht, dass der Burgschauspieler schon im Verlauf des Fogoschessens und dann auch noch immer wieder einmal im Musikzimmer, diese drei Wörter Wald, Hochwald, Holzfällen gesagt hatte, ohne dass ich zuerst schon gewusst hätte, was er damit meinte." (Seite 187)

Der Ich-Erzähler kritisiert nicht nur seine Umgebung, er verurteilt auch sich selbst, nicht nur weil er die Einladung zu diesem „künstlerischen Abendessen“ in die Gentzgase angenommen hat, seine Selbstkritik ist fundamentaler. Nachdem die Gäste ihren Heimweg antreten haben, der Ich-Erzähler die Vorhaustreppe hinuntergelaufen ist, als wäre er zwanzig Jahre jünger und er sich dachte "dass es unsinnig gewesen ist, der Auersberger zum Abschied die Stirn zu küssen, wie vor dreißig Jahren" lautet der über drei Seiten gehende, 670 Wörter zählende letzte Satz in "Holzfällen":

"Denn ich hasste die Auersberger in Wahrheit nach diesem künstlerischen Abendessen genauso, wie ich sie vorher gehasst habe und den Auersberger, den Novalis der Töne und den schon in den Fünfzigerjahren steckengebliebenen Webern-Nachfolger, mit ihr mit einem vielleicht noch intensiveren Hass, mit diesem Auersbergerhass, mit dem ich die Auersbergerischen jetzt schon seit zwanzig Jahren hasse, wie ich denke, weil sie mich damals, vor zwanzig Jahren, in so niederträchtiger Weise hintergangen und ausgerichtet haben, heruntergemacht haben bei jeder Gelegenheit vor allen Leuten, mich so schlecht gemacht haben, nachdem ich sie verlassen hatte, nur um mich selbst zu retten, nur, um nicht aufgefressen zu werden von ihnen, nachdem ich ihnen den Rücken gekehrt hatte, nicht sie mir, wie sie es immer behaupteten und nach wie vor behaupten, wie sie es diese ganzen zwanzig Jahre bis heute immer behauptet haben und behaupten, ich hätte sie ausgenützt, sie hätten mich jahrelang ausgehalten, sie hätten mich jahrelang am Leben erhalten, während es doch in Wahrheit so ist und so gewesen ist, dass ich sie am Leben erhalten habe, dass ich sie gerettet habe, dass ich sie, wenn auch nicht mit Geld, so doch mit meinen Fähigkeiten insgesamt, ausgehalten habe, nicht umgekehrt und ich lief durch die Gassen, als wäre ich einem Alptraum davongelaufen, schneller und schneller in die Innere Stadt hinein und ich wusste, während ich lief, nicht, warum in die Innere Stadt hinein, während ich doch genau in die der Inneren Stadt entgegengesetzte Richtung hätte laufen sollen, wenn ich nachhause wollte, aber wahrscheinlich wollte ich jetzt gar nicht nachhause und ich sagte mir, wäre ich doch auch diesen Winter in London geblieben und es war vier Uhr früh und ich lief in die Innere Stadt hinein, obwohl ich nachhause hätte laufen sollen und sagte mir, dass ich unter allen Umständen in London hätte bleiben sollen und lief in die Innere Stadt hinein, ohne zu wissen, warum in die Innere Stadt und nicht nachhause und sagte mir, dass mir London immer Glück, Wien aber immer nur Unglück gebracht hat und ich lief und lief und lief, wie wenn ich jetzt in den Achtzigerjahren nocheinmal den Fünfzigerjahren davon liefe in die Achtzigerjahre hinein, in diese gefährlichen und hilflosen und stumpfsinnigen Achtzigerjahre hinein und ich dachte wieder, dass ich, anstatt auf dieses abgeschmackte künstlerische Abendessen zu gehen, lieber in meinem Gogol oder in meinem Pascal oder in meinem Montaigne hätte lesen sollen und ich dachte, während ich lief, dass ich dem auersbergerischen Alptraum davon laufe und lief tatsächlich mit immer größerer Energie diesem auersbergerischen Alptraum davon in die Innere Stadt und dachte während des Laufens, dass diese Stadt, durch die ich laufe, so entsetzlich ich sie immer empfinde, immer empfunden habe, für mich doch die beste Stadt ist, dieses verhasste, mir immer verhasst gewesene Wien, mir aufeinmal jetzt wieder doch das beste, mein bestes Wien ist und dass diese Menschen, die ich immer gehasst habe und die ich hasse und die ich immer hassen werde, doch die besten Menschen sind, dass ich sie hasse, aber dass sie rührend sind, dass ich Wien hasse und dass es doch rührend ist, dass ich diese Menschen verfluche und doch lieben muss und dass ich dieses Wien hasse und doch lieben muss und ich dachte, während ich schon durch die Innere Stadt lief, dass diese Stadt doch meine Stadt ist und immer meine Stadt sein wird und dass diese Menschen meine Menschen sind und immer meine Menschen sein werden und ich lief und lief und dachte, dass ich, wie allem Fürchterlichen, auch diesem fürchterlichen sogenannten künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse entkommen bin und dass ich über dieses sogenannte künstlerische Abendessen in der Gentzgasse schreiben werde, ohne zu wissen, was, ganz einfach etwas darüber schreiben werde und ich lief und lief und dachte, ich werde sofort über dieses sogenannte künstlerische Abendessen in der Gentzgasse schreiben, egal was, nur gleich und sofort über dieses künstlerische Abendessen in der Gentzgasse schreiben, sofort, dachte ich, gleich immer wieder, durch die Innere Stadt laufend, gleich- und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist."

Am 22. September 2007 durfte ich der Premiere von "Holzfällen" im Landestheater in Salzburg beiwohnen. Hellmund Frank hat den Roman dramatisiert und die Schauspieler Hermann Gerhard (Schriftsteller), Hartmund Scheyhing (Auersberger & Burgschauspieler) sowie Claudia Dölker (Auersbergerin & Jeannie Billroth) machten den Abend zu einem unvergessenen Erlebnis, insbesondere die Szene als der Auersberger, der "Webern-Nachfolger", wie auf Seite 162/163 der gebundenen Ausgabe nachzulesen, ein letztes Mal versuchte die Aufmerksamkeit der Abendgesellschaft auf sich zu ziehen:

"Der Auersberger, den ich allen Ernstes einmal als einen Novalis der Töne bezeichnet habe, wie ich jetzt mit Abscheu vor mir selbst denke, war längst unzurechnungsfähig gewesen und lallte von Zeit zu Zeit nurmehr noch Unverständliches, nachdem er, wahrscheinlich, um ein letztes Mal die Aufmerksamkeit der Gesellschaft im Musikzimmer auf sich zu ziehen, urplötzlich sein Unterkiefergebiss aus dem Mund genommen und dem Burgschauspieler wie eine Trophäe vor das Gesicht gehalten hat mit der Bemerkung, das Leben sei kurz, der Mensch hinfällig, der Tod nicht mehr weit, was den Burgschauspieler mehrere Male das Wort geschmacklos hatte sagen lassen, während der Auersberger sein Gebiss wieder in seinen Mund zurück steckte, die Auersberger aber naturgemäß wieder einmal in ihrem Sessel aufspringen hatte lassen in der Absicht, ihren Mann aus dem Musikzimmer in das Schlafzimmer zu befördern, was ihr aber wieder nicht gelungen war; der Auersberger drohte seiner Frau jetzt mit dem Umbringen, stieß sie weg, so dass sie gegen den Burgschauspieler stolperte, der sie aber aufgefangen und in seine Arme genommen hat. Ach, wie geschmacklos! hatte der Auersberger selbst ein paarmal ausgerufen und war dann in seiner Bauernlodenjoppe eingenickt."

Quelle: Thomas Bernhard - Suhrkamp Werkausgabe 22 Bände, 2003 - 2015

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